Sie singen wieder

In meiner Jugend bekam keiner, der in der Formation stand, den Mund auf. Stumm und unbeteiligt ließen sie das Ganze an sich vorüberziehen. Inzwischen singen sie (wieder), wenn die Nationalhymne erklingt – so wie beim Eröffnungsspiel der EM. 

Seit 2006, der Weltmeisterschaft in Deutschland, setzt sich so etwas wie ein neues Nationalbewusstsein durch. Für meine Generation, der jede nationale Regung gründlich ausgetrieben worden war, löste das schwarz-rot-goldene Fahnenmeer damals Unbehagen aus. Kam da wieder “Deutschland, Deutschland, über alles”? Was kam, war etwas, was ich naive Freude nennen würde, ohne damit Polemik gegen andere Nationen zu verbinden. Inzwischen habe ich meinen Frieden mit dem neuen deutschen Patriotismus gemacht. Die antinationale Erziehung in meiner Generation war ein Reflex auf den extremen Nationalismus, wie er Deutschland spätestens seit dem Kaiserreich geprägt und in der bizarr-diabolischen Zuspitzung des Nationalsozialismus seinen fatalen Tiefpunkt erreicht hatte. Doch wie so oft hat das Pendel dabei zum anderen Extrem hin ausgeschlagen. Die pauschale Verdächtigung von allem, was nach Bindung ans eigene Land riecht (nicht zu sprechen vom Begriff “Heimat”, der in bestimmten Kreisen Hautausschlag hervorruft), auf der einen Seite und eine naive Philoxenie auf der anderen Seite, die alles toll findet, vorausgesetzt, es ist nicht deutsch, erzeugte verkniffene Deutsche, die sich in aller Welt für ihr Deutsch-Sein entschuldigen. 

Und nun hat der Fußball es geschafft, ganz unpolitisch, und ein Stück Normalität hergestellt und den Deutschen den Anschluss an andere Nationen ermöglicht, wo das Eigene geliebt wird, ohne das Fremde abzuwerten. Denn Patrioten lieben ihr Land – im Wissen darum, dass andere ihr Land genauso lieben.

Ich singe bei der deutschen Hymne mittlerweile mit.

KI und DB (3)

Von einer meiner zahlreichen Odysseen mit der Deutschen Bahn habe ich ausführlich berichtet. Nun saß ich dem naiven Glauben auf, ich könne eine Entschädigung für die von mir auch für andere Fahrgäste verauslagte Taxifahrt erhalten. Brav schrieb ich an die Bahn, ach, im wesentlichen schickte ich den Text aus meinem Blog (zugegeben, einen polemischen Satz über die DB ließ ich aus strategischen Gründen weg). Nach mehreren Wochen erhielt ich folgende Antwort:
“Hallo, Herr Sowieso, vielen Dank für die Zusendung Ihrer Anfrage zu Ihrer Reise von B. nach Amsterdam Centraal. Gern kümmern wir uns so schnell wie möglich um Ihr Anliegen.”
Dass ich als Inhaber eines Deutschlandtickets in der täglichen Berufspendelei unterwegs gewesen war, war offensichtlich untergegangen. Kann vorkommen, beim Textverständnis hapert’s ja bei vielen. Ich solle die Daten meiner damals geplanten Reise nachreichen.

Ich antwortete und fasste den Sachverhalt vereinfacht zusammen:
“Im Schienenersatzverkehr zwischen Rastatt und Karlsruhe war der Bus kaputtgegangen und auf offener Strecke liegengeblieben. Ersatz war nicht in Sicht, da der Fahrer nur spanisch sprach und sich nicht verständigen konnte. Eine Gruppe von 7 Personen machte sich dann mit einem Taxi auf den Weg nach Karlsruhe Hbf. Dabei befanden sich zwei Holländerinnen, die auf diese Weise gerade noch den letzten Zug des Tages nach Amsterdam erreichten, sowie eine Schweizerin, die ebenfalls schon mehrere Stunden verspätet war und nach Köln musste. Ich habe das Taxi bestellt und die Kosten für alle übernommen – es ging am Ende ja um wenige Minuten! Angesichts dieser außergewöhnlichen Situation finde ich es angemessen, dass Sie mir meine Auslagen in Höhe von 25,90 EUR erstatten. Das Ganze war leider wieder einmal kein Glanztag für die DB.”

Drei Wochen später kam heute die Antwort an:
“Hallo, Herr Sowieso, vielen Dank für die Zusendung Ihrer Anfrage zu Ihrer Reise von B. nach Amsterdam Centraal. Gern kümmern wir uns so schnell wie möglich um Ihr Anliegen.” 

Seitdem kreist mein Denken um zwei Alternativen: Ist die KI der Bahn so doof oder sind es ihre Sachbearbeiter? Ich nehme wohlwollend erstes an und stelle zum wiederholten Male fest: Es war auch kein Glanztag für die KI.

Da oben auf dem Schreiben eine Telefonnummer angegeben ist, werde ich nun anrufen. Ich bin gespannt, ob ich in der Warteschleife genauso lang unterwegs sein werde wie mit den chronisch verspäteten Zügen der DB…

Abendzauber

Wo bisher
die triste Fabrikhalle stand
leuchtet
zwanzig nach neun
das schönste
Bauwerk der Stadt

KI und DB (2)

36% der Fernverkehrszüge der DB kamen 2023 mit Verspätung ans Ziel. Im Nahverkehr sollen immerhin etwa 90% der Züge pünktlich sein, was bei der Bahn heißt: mit einer Verspätung von max. 6 Minuten. Ehrlich gesagt traue ich dieser Statistik nicht: zum einen aufgrund eigener Wahrnehmung, zum anderen aus der logischen Annahme heraus, dass die verspäteten Fernzüge ihre Verspätung normalerweise an die untergeordneten Züge weitergeben – mit Zuschlag, versteht sich. Es wäre schön, diese These einmal von der hochgelobten KI überprüfen zu lassen. Für die müsste das doch ein Klacks sein, oder? 

Bei unseren Schweizer Nachbarn war die Bahn im vergangenen Jahr übrigens zu 92,5% pünktlich – dort gelten Züge sogar schon ab 3 min. als verspätet. Auch hier könnte eine KI eine Statistik erstellen, die einen seriösen Vergleich BRD – CH zulässt. Allerdings: Das Ergebnis kann ich mir auch ohne KI schon vorstellen …

P.S. Eine Leserin meines Blogs diagnostizierte bei mir im letzten Winter eine gewisse Obsession, weil es überwiegend ums Thema DB ging. Für einen Berufspendler, der täglich drei bis vier Stunden mit dem ÖPNV unterwegs ist (ohne Verspätungen!), hat das Thema allerdings naturgemäß eine gewisse Relevanz. 

Wo sind all die (alten) Männer hin?

Man sieht sie in Italien, Spanien, Griechenland, in der Türkei sowieso: alte Männer, die auf öffentlichen Plätzen zusammenkommen, um zu trinken, zu rauchen, zu spielen und natürlich zu reden.

Warum gibt es das bei uns nicht? Liegt es an den Temperaturen? Ist unsere Gesellschaft weniger patriarchalisch geprägt, so dass (alte) Männer eher bei ihren Frauen bleiben, als mit ihren Geschlechtsgenossen den Tag zu verbringen? Oder gilt es auch im Alter noch als ehrenrührig, in der Öffentlichkeit zu zeigen, dass man am helllichten Tage nichts zu tun hat?

Was bleibt von uns?

Vor etwa 1200 Jahren, im 9. Jahrhundert, hat er gelebt: Otfried von Weißenburg (heute Wissembourg). Das Hauptwerk des Mönchs und Gelehrten aus karolingischer Zeit: eine Synthese der vier biblischen Evangelien (sogen. Evangelienharmonie). Tatian, ein syrischer Christ, hatte bereits im 2. Jahrhundert die kanonischen Evangelien zusammengefasst. Otfried tat es ihm nach, in pädagogischer Absicht und deshalb in der damaligen Volkssprache, im südrheinfränkischen Dialekt. In mehr als 7000 Zeilen auf Pergament erzählt er die Geschichte Jesu in Endreimen nach – Germanisten bezeichnen ihn als den Vater dieser bis heute beherrschenden Versform. Vier zeitgenössische Handschriften seines Werks sind heute noch erhalten – eine davon möglicherweise mit Kommentaren von seiner eigenen Hand.

Was wird von unserer Zeit in 1200 Jahren noch erhalten sein? Bücher? Gedanken in Clouds? Neue virtuelle Welten, in denen Wissen kommuniziert wird ist?
Oder werden die Zeugen der Vergangenheit anders aussehen? Der Plastikmüll in den Meeren? Strahlende Abfälle im Boden? Gähnende Kavernen im Globus, so groß wie Länder, die einst mit Erdöl gefüllt waren?

Restitution

Was ist das für ein roter Sand,
den ich am Morgen draußen fand?
Aus ferner Wüste, übers Meer,
trug ihn der Wind nach Deutschland her.
Im Klartext: Der Sahara-Staub
ist neo-kolonialer Raub.
Drum Schaufel, Besen rasch gezückt,
der Sand wird jetzt zurückgeschickt.

Überschätzt

Der Hype um ChatGPT hält an. Doch m.E. wird das neue Wunderinstrument maßlos überschätzt. Sicher wird es in einigen Bereichen eine wichtige Rolle spielen, so wie der Computer nicht mehr wegzudenken ist aus dem täglichen Leben. Letztlich ist ChatGPT ja nichts anderes als ein programmierter Computer, der über übermenschliche Kombinationsmöglichkeiten verfügt. Ja, ChatGPT wird z.B. in der medizinischen Diagnostik zu besseren Ergebnissen kommen und auch auch andere Prozesse optimieren. Aber da, wo die Menschheit wirklich Input von außen nötig hätte, weil sie selbst nicht auf Lösungen kommt, enttäuscht auch die Wundermaschine.

Frage: “Wie kann der Krieg zwischen Russland und der Ukraine beendet werden?”
ChatGPT: “Die Beendigung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine erfordert eine umfassende diplomatische Lösung, die auf Verhandlungen, Dialog und Kompromissen basiert. Es ist wichtig, dass alle beteiligten Parteien bereit sind, aufeinander zuzugehen und friedliche Lösungen anzustreben. Internationale Vermittlung und Unterstützung können ebenfalls dazu beitragen, den Friedensprozess zu fördern. Es ist entscheidend, dass alle Seiten den Willen zeigen, auf Gewalt zu verzichten und gemeinsam an einer nachhaltigen Lösung zu arbeiten.”

Ja, schön, das wusste ich vorher auch schon. – Die wirklich wichtigen Fragen bleiben auch mit ChatGPT offen. Schade. Nein: gut so! Wo kämen wir hin, wenn künftig Maschinen die entscheidenden Fragen im Leben beantworteten?

Gut gemeint

Im Bus:
“Möchten Sie sich setzen?”
“Nein, danke. 72, aber noch gesund.”