Kinderbuch

Die Liebe der drei Schwestern –
eine Kindergeschichte nach Corona

An einem Sommerabend saß ich auf dem Balkon und sah die Schemen im Garten immer dunkler werden. Mit dem aufkommenden lauen Nachtwind wisperten mir die Bäume diese Geschichte zu, ich habe sie nur aufgeschrieben…

Seit Wochen muss Helene schon zuhause bleiben, weil ihre Kita geschlossen ist. In den Geschäften laufen alle mit komischen Masken herum. Ihre Eltern haben ängstliche Augen und lassen sie nicht raus.

An diesem Abend kann Helene nicht einschlafen. Sie schwitzt und stößt die Zudecke von sich. Im Zimmer ist es hell wie von einer silbernen Sonne. Helene krabbelt aus dem Bett, öffnet die Balkontür und tritt hinaus. Sie spürt den kühlen Boden unter ihren nackten Füßen. Die Luft ist warm, ein leichter Hauch streift ihr Nachthemd.

Am Himmel strahlt der Mond. Er steht über den „drei Schwestern“, die dunkel und groß aus dem Garten herauswachsen. Ganz leicht wiegen sie sich im Wind. Hin und her, her und hin, langsam, sehr langsam. Und sie summen leise vor sich hin – Helene streckt ihren Kopf nach vorn und hört den feinen, hellen Ton, der durch die Luft zu ihr kommt.

„Ich lieb‘ ihn.“ „Ich lieb‘ ihn auch.“ „Und ich erst!“ Helene reißt die Augen auf, als die drei Schwestern zu sprechen beginnen. Die Spitzen streifen sich im Mondlicht und tuscheln. „Wir lieben ihn alle drei“, kommt es nun aus dem Garten. „Wen denn?“ flüstert Helene und erschrickt, als sie ihre Stimme hört.
„Dort drüben steht er.“ Die längste der Schwestern beugt ihre Spitze ein Stückchen nach vorn. „Wir haben uns schon in ihn verliebt“, fallen die beiden anderen ein, „als wir noch ganz klein waren.“

Helene schaut hinüber in den Nachbargarten. Da steht der mächtige Nussbaum. Dunkle, große Pakete trägt er auf seinen Ästen, wie ein Wanderer, dem sein schwerer Rucksack den Rücken krumm macht. Sie lauscht. In seinen Blättern rauscht es wie vom Regen. Aber sie kann nichts verstehen.

„Nie sagt er etwas“, kommt es klagend von den drei Schwestern. „Er kann sich nicht zwischen uns entscheiden.“ Eine winzige Wolke schiebt sich vor den Mond. Schwarz und stumm stehen die drei nun da. „Aber warum kann er euch nicht alle drei lieb haben?“ ruft da Helene, deren Herz auf einmal schwer geworden ist. Der Wind fährt in die Spitzen der Schwestern, sie zischen und flüstern, aber so leise, dass Helene nichts mehr hören kann. Der Mond erscheint wieder, heller und silbriger als zuvor.

Am nächsten Morgen darf Helene zum ersten Mal wieder hinaus. Über den Zaun sieht sie Luca. Sie hat ihn vermisst. „Machst du mit?“, ruft Helene fröhlich hinüber. Sie holt ein Knäuel mit einer Schnur. Sie reicht Luca das Ende über den Zaun. „Das musst du um den großen Baum binden.“ Mit dem Knäuel in der Hand läuft sie um die drei Schwestern herum und bindet einen Knoten: „Jetzt sind sie zusammen.“ Luca runzelt die Stirn.

Helene pflückt Gänseblümchen. Sie zeigt Luca, wie man sie aneinander knüpft. Dann legen sie die Gänseblümchenketten über die Schnur. Helene rennt ins Haus und kommt mit einem grün-weißen Herzen wieder. Sie hängt es an die Schnur und klatscht in die Hände. „Wir feiern Baumhochzeit!“ Luca versteht gar nichts mehr. Aber er freut sich, dass er wieder draußen spielen kann.

Helene lacht. Sie dreht sich zu den drei Schwestern um. Ihre Wipfel nicken ihr zu. Der alte Nussbaum auf der anderen Seite knarrt leise und tief.

Siebzehn rote Riesenschnecken

Eines Tages bekam Peter Postbote ein Päckchen. „SARAH“ stand darauf in großen Buchstaben und: „Erst am Geburtstag öffnen!“ Peter Postbote machte sich sofort auf den Weg, um der kleinen Sarah ihr Geburtstagspäckchen zu bringen, denn Geburtstagspäckchen müssen unbedingt am Geburtstag ankommen – und nicht erst zwei Wochen später.

Doch als Peter Postbote sein altes und klappriges Dienstfahrrad besteigen wollte, hatte es einen Plattfuß. Also musste er zu Fuß gehen – das dauerte mindestens dreimal so lang! Peter klemmte sich das Päckchen unter den Arm und marschierte los. Es war ein schöner, warmer Frühsommertag und die Sonne brannte schon kräftig auf ihn herunter. Als er am Brunnen auf dem Marktplatz vorbeikam, hatte er solchen Durst, dass er den ganzen Brunnen hätte austrinken können. Peter stellte das Päckchen auf den Rand des Brunnens und badete sein Gesicht und die Arme. Dabei plantschte er so sehr, dass das Päckchen am Ende ganz nass war. Also legte er das Päckchen zum Trocknen in die Sonne und setzte sich daneben. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und er wurde so angenehm schläfrig, so angenehm schläääääfrig, so angenehm schlääääää …

Und er träumte und träumte einen Traum. Den Traum … vom unglücklichen Burgherrn, der sich die Burgmauer hinunterstürzte und am Toilettenerker hängenblieb.

Der Burgherr Sambuco war nicht immer unglücklich gewesen, nein, ganz im Gegenteil: Die meiste Zeit seines Lebens war er glücklich gewesen und an manchen Tagen sogar sehr glücklich. Bis zu dem Tag, an dem folgendes passierte …

Es war ein sonniger Frühsommermorgen, als der Burgherr fröhlich und gut gelaunt den Burggarten betrat, um nach seinen Salatpflänzchen zu sehen. Aber o Schreck und Graus: Von seinen siebzehn wunderschönen, zarten Pflänzchen war nicht ein einziges mehr übrig! Siebzehn armselige Stengel ragten aus der Erde und auf jedem Stengel saß eine feuerrote Riesenschnecke und fraß gerade das letzte Stückchen Salat in sich hinein. Der Burgherr lief vor Zorn im Gesicht rot an und in seiner Wut sammelte er alle siebzehn Schnecken ein und warf sie in seinen Korb, den er bei sich trug. Leider war er mit seinen Gedanken schon wieder ganz woanders, als er den Schneckenkorb im Flur abstellte. So kam es, dass alle siebzehn Schnecken langsam, aber sicher und eine nach der anderen, in den Hut der Burgherrin Esmeralda krochen. Und als Esmeralda am späten Vormittag ihren Hut aufsetzte, um in die Stadt hinunter auf den Markt zu gehen, da krochen alle siebzehn Schnecken aus dem Hut hervor unter ihre Perücke. „Iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii“ kreischte die Burgherrin und lief im Gesicht feuerrot an. Der Burgherr, der ihr gerade einen Kuss auf die Backe drücken wollte, fuhr entsetzt zurück. Dann aber riss er seiner Gemahlin mit Löwenmut den Hut vom Kopf. Siebzehn rote Riesenschnecken klebten auf Esmeraldas kahlem Schädel. „Flllltscht“, „flllltscht“ und „flllltscht“ zog der tapfere Sambuco eine Schnecke nach der anderen von der Kopfhaut ab und warf sie zurück in den Korb. „Schaff mir diese Kreaturen vom Leib“, befahl er dem Koch, der gerade vorbeikam, und drückte ihm den Korb mit den Schnecken in die Hand. Esmeralda aber hatte unterdessen wutentbrannt ihre dreizehn Festtagskleider (für jeden Monat eins plus ein Kleid für ihren Geburtstag) in ihren großen Reisekoffer gestopft und stand ohne Hut, aber mit Perücke unten an der Treppe. „In diesem Haus bleibe ich keinen Tag länger“, rief sie, noch immer (oder schon wieder) feuerrot im Gesicht. Sie winkte dem Kutscher, der sie in das nächste schneckenfreie Land brachte.

Der Koch aber hatte den Korb mit den Schnecken in die Küche gestellt, wo der Küchenjunge die Suppe anrührte, und machte sich auf den Weg zum Markt. Mit einigen Pfund köstlichen Fleisches kehrte er zurück und kochte die Lieblingsspeise des Burgherrn, um dessen Laune zu bessern. Der Burgherr saß mit mürrischem Blick allein an der Tafel, als der Küchenjunge die Suppe auftrug. Doch seine Miene erhellte sich schlagartig, als er den ersten Löffel zum Mund geführt hatte. „Koch“, rief er entzückt aus, „was für eine köstliche Suppe hast du mir heute bereitet!? Nie aß ich Derartiges! Sage mir, woher hat deine Suppe diesen himmlischen Geschmack?“ Der Küchenjunge, der gerade die Platte mit dem Hauptgericht hereintrug, rief vorlaut dazwischen: „Von den siebzehn Riesenschnecken, mein Herr – die machen den guten Geschmack.“ Dem Burgherrn, der gerade das Glas mit rotem Wein zum Mund führte, erstarrte der Arm. Seine Augen traten weit vor, er schluckte und griff sich an die Kehle. Mit einem Satz sprang er auf und stürzte aus dem Saal. Erst draußen auf der Burgterrasse machte er halt und würgte den Inhalt seines Magens die Burgmauer hinunter. Da stand er, zitternd vor Ärger und Wut, rot bis über beide Ohren und empört über diese Kränkungen! „Ich kann nicht länger Burgherr sein, wenn ich solch Schlimmes erdulden muss“, stieß er durch seine zusammengepressten Lippen hervor. Sodann bestieg er die Brüstung und stürzte sich heldenhaft in die Tiefe – der Schneckensuppe nach.

Doch hatte er nicht mit dem Wind gerechnet. Der fuhr in seinen Mantelumhang und blähte ihn auf wie einen Fallschirm. Doch hätte das allein sein Leben nicht gerettet, wäre da nicht der Erker am Plumpsklo gewesen, der aus der Mauer hervorstand. Um diesen wickelte sich der Mantelumhang und bremste den Burgherrn ab: „Rrrrrrrrpf“ wurde Sambuco in seinem freien Fall plötzlich gestoppt. Da hing er nun am seidenen Faden und baumelte zwischen Himmel und Erde. Indessen war dem Koch die Angst vor der Rache seines Herrn in die Därme gefahren und hatte ihn auf das Plumpsklo getrieben. Da saß er im Erker, um sich zu erleichtern. Leider traf er den Burgherrn, der mit einem Auge nach oben schielte, genau auf den Kopf. „Zu Hilfe, zu Hilfe“, begann der Koch zu zetern, der sein Missgeschick bemerkt hatte, und scheuchte die Burgwache auf.

Links, zwo, drei, vier schritt die Wache los und erreichte bald darauf den Fuß der Mauer im Burggraben. Mutig zückte der erste seine Armbrust und schoss einen Pfeil ab. Leider war der gute Mann kurzsichtig und so traf das Geschoss den Burgherrn in sein hinteres Körperteil. „Auuu“, heulte Sambuco auf und zappelte am Mantelumhang hin und her. Da rüstete sich unten der zweite Schütze zum Schuss. Leider hatte er zum Abendessen zu tief ins Weinglas geschaut. Diesmal bohrte sich der Pfeil in den Po des Kochs, der die Rettung von oben aus dem Toilettenerker beobachtete. „Uuuuuuh“, jaulte der Koch auf. Das trieb den dritten Mann zu einem verzweifelten Schuss. Und diesmal traf der Pfeil das erwünschte Ziel. Mit einem lauten „Ratsch“ riss der Mantel entzwei und der Burgherr war wieder am Fallen. „Rums“ fiel er auf die Burgwache und streckte alle drei Männer nieder.

So kam es, dass der unglückliche Burgherr an diesem schaurigen Abend humpelnd und mit schmerzendem Hinterteil zur Burg hinaufschlich. Als Trost blieb ihm, dass Esmeralda, die vom Unglück ihres Gatten hörte, reumütig auf die Burg zurückkehrte und seine Wunden pflegte, während der Koch seine Wunde im Burgverlies auskurieren musste. Wenigstens an Schnecken hatte es da keinen Mangel. Immer wieder krochen sie ihm, wenn er schlief, mit ihrem feuchten Schleim über den Hals. Dazu schmerzte immer noch sein Hinterteil …

Peter Postbote erwachte, weil es an seinem Hals feucht wurde. Außerdem tat ihm der Po furchtbar weh. Er fuhr hoch: er saß noch immer an den Brunnen gelehnt und Wasser tropfte auf seinen Nacken. Sein Po schmerzte vom langen Sitzen auf dem Steinboden. Er sah sich um: Neben ihm lag das Päckchen für Sarah, das längst trocken war! Vor lauter Schlummer und Träumen hatte er es ganz vergessen! In Windeseile sprang er auf, packte das Päckchen und stürmte los. Aber es half alles nichts. Als er an der Wohnung von Sarah klingelte, war die Geburtstagsfeier schon vorbei. Es war ihm zu peinlich. Aber vielleicht, ja vielleicht konnte er Sarah ein wenig versöhnen, wenn er ihr seinen Traum erzählte. Und als Sarah aufmachte, da begann er mit seinem Traum vom unglücklichen Burgherrn, der sich die Burgmauer hinunterstürzte und am Toilettenerker hängenblieb … und Sarah lachte…

66 Gute-Nacht-Geschichten – Prolog

Den ganzen Sommer lang hatte der alte Charly am Fluss gesessen und Gold gewaschen. Aber die Wasser waren den Klondike hinuntergeflossen und hatten ihr Gold mitgenommen. Ein paar kleine Nuggets, die in der hohlen Hand nicht größer aussahen als ein ausgeschlagener Zahn – das war das Ergebnis eines ganzen Jahres. Das meiste, was Charly im Sieb gefunden hatte, waren Kiesel, schwarze und beige und gestreifte, die meisten rund geschliffen vom Wasser durch die Jahrtausende, schöne Steine, aber in Charlys Welt leider völlig wertlos –Kinder hätten wohl etwas für solch schöne Steine gegeben, aber in der Welt der Erwachsenen ließ sich damit kein Geld verdienen. Und so kam es, dass der alte Charly am Ende des Sommers kaum genug verdient hatte, um sich Vorräte für den langen kanadischen Winter zuzulegen. Anders sein zahmer Waschbär George, den er vor drei Jahren aus der Falle eines Pelzjägers gerettet hatte. George hinkte seitdem etwas, aber er war noch schnell genug, um mit geschicktem Schlag seiner Vorderpfoten die Fische zu erbeuten, die der Fluss reichlich mit sich führte. So hatte George reichlich Winterspeck angesetzt, als die goldgelben Blätter den Klondike hinabtrieben und ein kalter Wind vom Ozean den ersten Schnee ankündigte. Der magere Charly dagegen verwünschte den frühen Winter und sehnte sich schon jetzt nach dem nächsten Sommer.

Es war sein letzter Tag am Fluss. Morgen schon würden dichte Flocken fallen und das Goldwaschen unmöglich machen. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten den Fluss in freundliches Licht und Charly stieg zum letzten Mal ans Wasser hinunter, um sein Sieb in die Fluten zu tauchen. George, der Waschbär, verspeiste gerade einen fetten Lachs. Wenn es noch länger warm bliebe, müsste man ihn bald rollen, dachte Charly und stellte sich vor, wie ein rollender Waschbär aussehen musste. Wahrscheinlich würden sich die Fische über ihn totlachen, so dass George sie noch leichter als jetzt fangen konnte. Seine Hand tauchte mit dem Sieb in das Wasser und schenkte es umher. Plötzlich spürte er ein ziemliches Gewicht. Was ist das? dachte er, und holte das Sieb heraus. Im Sieb lag kein schweres Nugget, wie Charly es gehofft hatte, sondern ein Päckchen, stramm eingewickelt in einen wasserfesten Umschlag. Hatte hier ein anderer Goldwäscher seinen wertvollen Fund verborgen? Das konnte kaum sein – es gab doch wohl bessere Verstecke für Gold als den Klondike, in den so viele ihre Siebe eintauchten. Charly löste vorsichtig die Verpackung. Eine Mappe kam zum Vorschein. Die erste Seite trug die Überschrift:

66
Gute-
Nacht-
Geschichten

Charly hatte keine Goldnuggets gefunden, aber einen Schatz! Zwar konnte er sich davon weder einen fetten Schinken noch ein neues Bärenfell für sein Bett kaufen, aber die Gute-Nacht-Geschichten begleiteten ihn den ganzen Winter über. Und wenn der Schneesturm um seine Hütte herum heulte und tobte, wickelte sich Charly fest in sein altes Bärenfell und schlug im Schein der Kerze die Geschichten auf und las. Und als er am Ende angekommen war, fing er vorne wieder an …

Leseprobe 66 Gute-Nacht-Geschichten