#weihnachtenunkorrekt
Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kanzler Olaf ausging, dass alle Welt geimpft würde. Und diese Impfung war nicht die allererste und geschah zur Zeit, da Karl Gesundheitsminister in deutschen Landen war. Und jedermann ging, dass er sich impfen ließe, ein jeglicher in sein Impfzentrum. Da machte sich auf auch Josef aus Baden, aus der Stadt am Neckar Heidelberg, in das schwäbische Land zur andern Stadt am Neckar, die da heißt Heilbronn, darum dass er dort den frühesten Termin bekommen hatte, auf dass er sich impfen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war zum Glück nicht schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie geimpft werden sollten. Und sie wurden zum ersten Mal geimpft und bekamen eine Impfbescheinigung und legten sie in eine Krippe; denn sie hatten als Ungeimpfte keinen Raum in der Herberge. Und es war eine Demo von Impfgegnern in derselben Gegend versammelt, die zogen mit ihren Plakaten durch die Fußgängerzone. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn in kürze sind alle durchgeimpft und kriegen ihre Grundrechte zurück. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden einen QR-Code zur Anmeldung auf euren Handys. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten das RKI und sprachen: Ehre sei der Regierung und Friede auf Erden bei allen, die sich impfen lassen. Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Demonstranten untereinander: Lasst uns nun gehen gen Impfzentrum und sehen, ob auch wir noch einen Termin bekommen. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu die Impfbescheinigung in der Krippe liegen. Da sie aber ihre Spritze bekommen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von ihrer neuen Freiheit gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Demonstranten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte in ihrem Herzen, was sie über die neue Virusvariante gehört hatte. Und die frisch Geimpften kehrten wieder um, priesen und lobten Scholz & Co für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.
O du schöner Weihnachtsmarkt oder: Mit 2G+ im Minus
Wir wollen auf den Weihnachtsmarkt, bevor er schon wieder zumacht, kaum dass er aufgemacht hat. Ein bisschen Glühweinduft schnuppern, schöne, überflüssige Dinge anschauen und ein paar Geschenke kaufen. Ein Stück vorweihnachtliche Normalität. Ich bin dreifach geimpft, aber das reicht nicht. Auf dem Weihnachtsmarkt ist 2 G+. Also muss ein tagesaktueller Test her. Ich melde mich in einem Testzentrum an (halbstündiger Fußweg vom Bahnhof). „In einer Viertelstunde haben Sie das Ergebnis auf Ihrem Handy“, sagt der freundliche Mitarbeiter und schiebt mir gefühlvoll ein Stäbchen in beide Nasenlöcher. Draußen steht schon meine Frau, die ich von ihrem Arbeitsplatz abhole. Wir fahren gemeinsam in die Innenstadt, stellen das Auto im Parkhaus ab und gehen die paar Meter bis zu den ersten Ständen. Ich habe nicht erwartet, dass mein Testergebnis schon eingetroffen ist. Mein Testergebnis ist noch nicht eingetroffen. Sicherheitshalber, man weiß ja nie, ob die Software funktioniert, stelle ich mich bei einem zweiten Testzentrum an. Als ich an die Reihe komme, erfahre ich, dass ich mir erst einen QR-Code besorgen muss – an einem Container-Schalter fünfzig Meter entfernt. Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass es ziemlich schwierig ist, eine diesbezügliche Info an das Testzelt zu hängen. Wir gehen weiter und schlendern erst einmal durch die Fußgängerzone zum großen Weihnachtsmarkt – bis dahin wird mein Testergebnis ja ohnehin da sein. Meine Frau steuert zielstrebig den ersten Stand an, der zum äußeren Kreis der Wagenburg gehört, dessen Eingang aber nach außen geht und der daher allgemein zugänglich ist. Aber was heißt schon allgemein zugänglich? Zugänglich für mich, der ich geimpft bin und mein Zertifikat vorgezeigt habe. Ich gehe mit hinein und schaue mir Teesorten an, die mich nicht interessieren. Mein Posteingang ist immer noch leer. Unsere Stimmung orientiert sich allmählich mehr und mehr an den sinkenden Temperaturen. Um die Situation doch noch zu retten, eile ich zum Testzentrum zurück, bei dem ich vorhin schon unverrichteter Dinge angestanden hatte. QR-Code am Container einscannen, Perso vorzeigen, ausgedruckten QR-Code entgegennehmen. Dann reihe ich mich zum zweiten Mal in die Schlange vor dem Testzelt ein, die inzwischen doppelt so lang ist wie vor einer halben Stunde. Alle Naslang kommt von innen ein Arm durch den Vorhang, zieht ihn ein Stück zurück und eine Stimme aus dem Off ruft: „Der Nächste, bitte!“ Ich komme mir vor wie im Kasperletheater. Die jungen Leute drinnen sind freundlich und fix: Keine zwanzig Sekunden später bin ich schon wieder draußen: „In fünfundzwanzig Minuten haben Sie das Ergebnis auf dem Handy.“ Den Rückweg lege ich im Trab zurück, um meine Körpertemperatur wieder nach oben zu treiben. Meine Frau ist inzwischen im Budendorf verschwunden, ich stehe draußen und quatsche mit den Security-Leuten, nicht ohne dreimal pro Minute auf mein Handy zu spicken, was meine kalten Hände nicht unbedingt wärmer werden lässt. Meine Frau hat unterdessen einen Glühwein für mich organisiert und reicht mir die Tasse über die Absperrung, die alle paar Meter mit grünen Fichten verschönert ist. Ich stehe auf der anderen Seite, schlürfe den Glühwein, der heißer sein dürfte, und beobachte die Leute, die an den Ständen vorbeiwandeln oder sich mit Grillwürsten im Weck um Stehtische gruppieren. Langsam bekomme ich eine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, ausgeschlossen zu sein. Inzwischen habe ich in einer dunklen Ecke begonnen, Liegestützen zu machen, da meine ständigen Armbewegungen zum Handy nicht ausreichen, um warm zu bleiben. Kein Testergebnis. Meine Frau hat keine Lust, noch länger allein unterwegs zu sein, und kommt entnervt zum Eingang zurück. Ich kann sie überreden, ein letztes Mal loszuziehen, um eine Grillwurst zu besorgen. Die Pommes, die sie zusätzlich mitbringt, sind schon halb kalt, da sie am Grill noch warten musste. Lustlos kauend trotten wir wortkarg zum Parkhaus zurück. Als wir am hinteren, kleineren Weihnachtsmarkt vorbeikommen, spüre ich neben mir eine Regung. „Sollen wir da noch rein?“ Meine Frau ist unentschieden. Plötzlich sind die Testergebnisse da. Das vom Kasperletheater wurde 53 Minuten nach Test verschickt, das erste schon nach wenigen Minuten, kam aber erst nach zwei Stunden auf meinem Handy an. Die Schlange vor dem Eingang verspricht Eisbein mit Schnupfen als Zugabe. Bis zum Parkhaus und zur Sitzheizung sind es noch fünf Minuten. Ein Besuch zu zweit auf dem Weihnachtsmarkt ist einfach eine schöne Tradition.
Die Liebe der drei Schwestern –
eine Kindergeschichte nach Corona
An einem Sommerabend saß ich auf dem Balkon und sah die Schemen im Garten immer dunkler werden. Mit dem aufkommenden lauen Nachtwind wisperten mir die Bäume diese Geschichte zu, ich habe sie nur aufgeschrieben…
Seit Wochen muss Helene schon zuhause bleiben, weil ihre Kita geschlossen ist. In den Geschäften laufen alle mit komischen Masken herum. Ihre Eltern haben ängstliche Augen und lassen sie nicht raus.
An diesem Abend kann Helene nicht einschlafen. Sie schwitzt und stößt die Zudecke von sich. Im Zimmer ist es hell wie von einer silbernen Sonne. Helene krabbelt aus dem Bett, öffnet die Balkontür und tritt hinaus. Sie spürt den kühlen Boden unter ihren nackten Füßen. Die Luft ist warm, ein leichter Hauch streift ihr Nachthemd.
Am Himmel strahlt der Mond. Er steht über den „drei Schwestern“, die dunkel und groß aus dem Garten herauswachsen. Ganz leicht wiegen sie sich im Wind. Hin und her, her und hin, langsam, sehr langsam. Und sie summen leise vor sich hin – Helene streckt ihren Kopf nach vorn und hört den feinen, hellen Ton, der durch die Luft zu ihr kommt.
„Ich lieb‘ ihn.“ „Ich lieb‘ ihn auch.“ „Und ich erst!“ Helene reißt die Augen auf, als die drei Schwestern zu sprechen beginnen. Die Spitzen streifen sich im Mondlicht und tuscheln. „Wir lieben ihn alle drei“, kommt es nun aus dem Garten. „Wen denn?“ flüstert Helene und erschrickt, als sie ihre Stimme hört.
„Dort drüben steht er.“ Die längste der Schwestern beugt ihre Spitze ein Stückchen nach vorn. „Wir haben uns schon in ihn verliebt“, fallen die beiden anderen ein, „als wir noch ganz klein waren.“
Helene schaut hinüber in den Nachbargarten. Da steht der mächtige Nussbaum. Dunkle, große Pakete trägt er auf seinen Ästen, wie ein Wanderer, dem sein schwerer Rucksack den Rücken krumm macht. Sie lauscht. In seinen Blättern rauscht es wie vom Regen. Aber sie kann nichts verstehen.
„Nie sagt er etwas“, kommt es klagend von den drei Schwestern. „Er kann sich nicht zwischen uns entscheiden.“ Eine winzige Wolke schiebt sich vor den Mond. Schwarz und stumm stehen die drei nun da. „Aber warum kann er euch nicht alle drei lieb haben?“ ruft da Helene, deren Herz auf einmal schwer geworden ist. Der Wind fährt in die Spitzen der Schwestern, sie zischen und flüstern, aber so leise, dass Helene nichts mehr hören kann. Der Mond erscheint wieder, heller und silbriger als zuvor.
Am nächsten Morgen darf Helene zum ersten Mal wieder hinaus. Über den Zaun sieht sie Luca. Sie hat ihn vermisst. „Machst du mit?“, ruft Helene fröhlich hinüber. Sie holt ein Knäuel mit einer Schnur. Sie reicht Luca das Ende über den Zaun. „Das musst du um den großen Baum binden.“ Mit dem Knäuel in der Hand läuft sie um die drei Schwestern herum und bindet einen Knoten: „Jetzt sind sie zusammen.“ Luca runzelt die Stirn.
Helene pflückt Gänseblümchen. Sie zeigt Luca, wie man sie aneinander knüpft. Dann legen sie die Gänseblümchenketten über die Schnur. Helene rennt ins Haus und kommt mit einem grün-weißen Herzen wieder. Sie hängt es an die Schnur und klatscht in die Hände. „Wir feiern Baumhochzeit!“ Luca versteht gar nichts mehr. Aber er freut sich, dass er wieder draußen spielen kann.
Helene lacht. Sie dreht sich zu den drei Schwestern um. Ihre Wipfel nicken ihr zu. Der alte Nussbaum auf der anderen Seite knarrt leise und tief.
Theorie und Praxis –
eine Realsatire aus dem Impfzentrum
Definition Realsatire (nach Wikipedia): „Als Realsatire bezeichnet man einen Vorgang, der bereits bei neutraler, objektiver Beobachtung oder Beschreibung satirisch wirkt.“
Der Anruf erreicht mich am Sonntagnachmittag, mitten auf der Wiese. Ob ich schon früher da sein könnte? Nach etwas Verwirrung wird klar: Die Stimme am anderen Ende kommt aus dem Impfzentrum, wo ich für 17.30 Uhr einen Termin habe. Nein, sage ich, ich sei unterwegs. Ob denn heute Abend so viel los sei? Nach etwas Hin und Her stellt sich heraus: Genau das Gegenteil ist der Fall: Es stünden nur noch ein paar wenige Leute auf der Liste. Sie würden gern früher Schluss machen.
Als ich um 17.45 Uhr eintreffe, erwartet mich am Eingang eine sechsköpfige Delegation. Der diensthabende Arzt stellt einen Blumenstrauß oder Pralinen nach erfolgter Impfung in Aussicht. Warum sie schon Feierabend machten, möchte ich wissen. Der Mediziner weiß es selbst nicht. Aber ich sei noch nicht der Allerletzte.
Drinnen werde ich von einem Mitarbeiter gefragt, ob ich Astra Zeneca oder Moderna bekommen wolle. Das müssten doch die Fachleute wissen, wende ich ein. Aber niemand nimmt mir die Wahl ab. Ich wähle Astra, weil ich schon nach der ersten Impfung keinerlei Nebenwirkungen verspürt habe.
Der Arzt, meine übernächste Station, hat sich inzwischen kundig gemacht. Es sei nicht genügend Impfstoff da, momentan würden nur Zweitimpfungen durchgeführt, Ersttermine gäbe es erst in zwei Wochen wieder. Ich irre auf verschlungenen Wegen durch leere Räume auf der Suche nach dem Impfteam.
Nach dem kurzen Pieks werde ich in den Warteraum geschickt, wo eine einzige Person verloren herumsitzt. Ich habe genug und verschwinde. Draußen steigen die ersten Mitarbeiter in ihre Autos.
Schön, dass die Priorisierung nun endlich aufgehoben ist und ab morgen alle einen Impftermin bekommen können!
Die Tyrannei der Angsthasen
Seit vielen Generationen war die Hasenkolonie in den Feldern ansässig. Die Langohren verbrachten den Großteil ihres Lebens damit, auf den Wiesen und Äckern nach Futter zu suchen. Ein ruhiges und meist beschauliches Leben, das allerdings ab und zu auch dramatisch unterbrochen wurde. Manchmal holte der Mäusebussard einen jungen Hasen. Oder der Fuchs erwischte einen von den Alten, die nicht mehr schnell genug waren, ihm einen Haken zu schlagen. Und bisweilen kehrte einer nicht zurück, weil er in eines der Ungeheuer gerannt war, die blitzschnell auf den versteinerten Flüssen daherschossen.
Doch in jenem Frühjahr gab es mehr Füchse als gewöhnlich. Und mehr Hasen als gewöhnlich fielen ihnen zum Opfer. Binnen kurzem gab es kein anderes Thema mehr. Bei Tag sprach man nur noch von Füchsen, bei Nacht träumte man von ihnen – eine dunkle Wolke der Angst hatte sich über die Kolonie gelegt.
„Wir müssen in den Wald“, sagten die ersten, „dort sind wir vor den Füchsen besser geschützt.“ „Aber dort gibt es nicht so viel Nahrung“, wandten andere ein. „Das ist egal“, fuhren ihnen die ersten über den Mund, „solange wir nur den Füchsen aus dem Weg gehen.“
Einige wiesen darauf hin, dass es doch schon immer Füchse gegeben habe. Sie wurden zuerst mit Stillschweigen gestraft, dann bekamen sie Redeverbot. Und die wenigen, die sich nicht zum Schweigen bringen ließen, mussten die Kolonie verlassen.
Gesagt getan. Die Hasen verließen die Felder und zogen sich in den Wald zurück. Eine schwere Zeit begann, denn Nahrung war dort nicht leicht zu finden. Da ihre Ernährung nicht mehr so ausgewogen war, litten manche bald an Mangelerscheinungen. Das ganze Leben drehte sich inzwischen um Füchse: wie man ihnen am besten aus dem Weg ging (denn auch im Wald schlug der Fuchs bisweilen zu), welche Vorkehrungen man treffen konnte, um am effektivsten vor Füchsen zu warnen, wie viele Füchse in den letzten Tagen von den Wachposten gesichtet worden waren und wie sich diese Zahl zu den Sichtungen der vorherigen Wochen verhielt.
In den Nächten träumten die Hasen davon, auf den Feldern zu hoppeln und sich den Bauch mit Grünzeug vollzuschlagen. Aber wenn sich einer bei Tage ein Herz fasste und bemerkte, dass es nun doch genug sei und man allmählich wieder zurückkehren könne, blickte er in erschrockene Gesichter.
Viele Hasen litten unter dem Leben im Wald. Die Sonne fehlte ihnen, die Luft zum Atmen, der weite Raum, um sich ungehindert zu bewegen. Die meisten ließen die Ohren hängen. Die Kleinen wollten den Bau nicht mehr verlassen und mussten von ihren Eltern regelrecht nach draußen geschubst werden.
Indessen wurde in der Hasenversammlung darüber debattiert, ab welcher Sichtungszahl man wieder auf die Felder zurückkehren könne. Versuchsgruppen machten sich auf – aber sobald sich auch nur ein einziger Fuchs von ferne blicken ließ, wurden sie zurückgepfiffen. Wochen vergingen dann, ehe ein neues Team losgeschickt wurde.
Am Ende des Sommers war die Hasenkolonie ziemlich am Ende. Alle hätten satt und zufrieden sein sollen, um dem kommenden Winter zu trotzen. Stattdessen nagten sie lustlos an Stängeln, die ihnen nicht schmeckten, und warteten sehnsüchtig auf bessere Nachrichten von den Aussichtsposten.
Einer der Junghasen fragte schließlich: „Ihr sagt immer, ihr wollt unser Leben schützen. Aber was für ein Leben bleibt uns jetzt noch?“ „Du musst Geduld haben“, wiesen ihn die anderen zurecht, „es wird alles wieder gut.“ „Und dann wird es nie mehr Füchse geben?“, wollte der Kleine wissen. Die Alten sahen einander an.
Was die Alten antworteten und wie die Geschichte ausging, weiß ich nicht mehr. Ich hoffe, sie nahm ein gutes Ende, und die Hasen begannen wieder zu leben, statt ihr Leben damit zuzubringen, Angst zu haben vor dem, was alles passieren kann.
InciWatch
(Knacken und Rauschen) Hallo? Ja, guten Morgen, hier ist Sebastian Krone vom SWR 1, für Sie vor Ort unterwegs. Heute mit einem Gerät, das es uns leichter machen soll, in der Pandemie gut durchzukommen. Es wurde in der schwäbischen IT-Schmiede Äpple entwickelt und heißt „InciWatch“: „Watch“, weil ich es wie eine Uhr am Handgelenk trage, und „Inci“, weil es die Inzidenzzahlen des Ortes anzeigt, an dem ich mich gerade befinde.
Im Display kann ich zwischen zwei Modi wählen: Im einfachen Modus zeigt das Gerät nur Farben an: grün für eine Inzidenz unter 35, gelb unter 50 und rot bis 100. Über 100 verändert sich die Anzeige dann von braun bis schwarz – aber so weit werden Sie gar nicht kommen, weil das Gerät dann einen durchdringenden Pfeifton ausstößt. Generell erhalten Sie bereits ab einer Inzidenz von 50 ein akustisches Signal, nur entsprechend leiser und in längeren Abständen. Im Expertenmodus können Sie sich die genauen Werte bis auf ein Zehntel hinter dem Komma als Grafik anzeigen lassen – dazu gibt es auch eine Übersicht über die letzten vier Wochen.
Ein besonderer Clou: Über das Menü können Sie sich optional die Corona-Todeszahlen des Tages einblenden lassen, außerdem ein Audio der jeweils letzten Pressekonferenz der Bundesregierung. Und über einen Link können Sie sogar die neuesten Prognosen der prominentesten Virologen abrufen.
So, aber jetzt genug der Theorie. Schalten wir das gute Ding doch mal ein. (Summen, Piepsen) Und schon ist es soweit! Wir sehen nun – im Einfachmodus – die Farbe grün, was bedeutet: keine Gefahr! Ab sofort kann ich mich mit diesem Gerät also wieder sicher draußen bewegen und ohne Angst vor Ansteckung unterwegs sein. Die Schwaben waren diesmal der Konkurrenz einen gehörigen Schritt voraus. Im Ländle kennt man sich halt doch am besten aus mit dem, was die Amerikaner the German Angst nennen.
Und jetzt starten wir unsere Tour. Ich werde nun einen kleinen Rundgang über die Stadtgrenze hinaus machen. Mal sehen, ob sich die Farbe auf meinem Display verändert oder ob mich ein Pfeifton zurückhält.
Übrigens: Die Äpple-Aktie hat seit der Vorstellung der InciWatch einen Kurssprung um mehr als 50% gemacht. Anleger sind begeistert und prognostizieren, dass das Unternehmen in diesem Jahr die magische Umsatzgrenze von einer Milliarde Euro überspringen wird. „Smart ist die Krise halb so hart“ heißt das Motto, unter dem Äpple mit der Inci-Watch angetreten ist. Security sells …
Wie immer gibt es zu dieser Sendung auch ein Quiz: Rufen Sie im Studio an und geben Sie den Inzidenzwert an, bei dem das Display grün leuchtet. Die ersten drei Anrufer erhalten als Preis für ihre richtige Antwort eine InciWatch.
So, und jetzt gehe ich unter sicherer Führung durch meine InciWatch los und melde mich nach dem nächsten Musikbeitrag wieder von meiner Tour. Allen, die sich jetzt verabschieden müssen, sage ich tschüß, und bleiben Sie … (Bremsen quietschen, dumpfes Aufprallgeräusch, einen Moment Stille, dann Durcheinander von aufgeregten Stimmen: „Ein Krankenwagen! Ein Krankenwagen!“ „O Gott, den hat’s aber bös erwischt!“ „Der ist einfach drauf zu gelaufen, ohne auf die Straße zu …“ Die Übertragung bricht ab, der nächste Musiktitel wird eingespielt: „Highway to hell“.)
Aller Anfang ist schwer
Es ist schon 10 Uhr, als ich die gesammelten Veränderungen in den Corona-Verordnungen, die seit heute Morgen für die nächsten zwei Tage gelten, studiert und diejenigen memoriert habe, die mich betreffen.
Ich will mich gerade auf den Weg zu meinem Arbeitsplatz machen, da fällt mir ein, dass ich heute beruflich im angrenzenden Bundesland zu tun habe, wo wieder andere Regelungen gelten. Nach einer weiteren Stunde Lektüre kann mein Tag beginnen. Dafür habe ich inzwischen vergessen, was vor meiner eigenen Haustür gilt.
Mein Bett empfängt mich mit einem letzten Rest Wärme.
Das dürfte Angie sowieso am liebsten sein. Und Winnie erst recht …
Nachbemerkung: Diese Kurzsatire ließe sich noch prächtig frisieren mit den entsprechenden Zitaten aus entsprechenden divergierenden Corona-Verordnungen. Aber ehrlich gesagt hatte ich diesmal keine Lust, mich mit den Vorzeigeobjekten deutscher Regulierungswut zu befassen.
Die neue Höflichkeit oder: Backwaren mit Backpfeifen
Soll ich
oder
soll ich nicht?
frage ich mich
als der Kundin vor mir
die Tüte entgleitet
und zwei Brötchen über den Boden kullern
Was ich
in pandemiefreier Vorzeit
gelernt habe
trägt mir momentan
vielleicht
einen bösen Blick ein
oder Übleres
Immerhin
müsste ich
die Brötchen
anfassen
Kein Ausweg
aus diesem Dilemma
Zum Glück
hat sie
sich gerade
gebückt
Im Nachhinein fand ich eine Notiz über eine tätliche Auseinandersetzung zweier Männer – genau aus diesem Grund: „Laut Polizei gerieten sie in einem Supermarkt in Rheinfelden nahe Lörrach aneinander, weil einer der beiden Backwaren mit bloßen Händen aus einer Auslage entnahm. Wie die Ermittler mitteilten, wies ein 56 Jahre alter Mann den 22-Jährigen am Samstagmittag zurecht, er solle dies aus Hygienegründen nicht tun. Der junge Mann beleidigte ihn daraufhin. Die Situation eskalierte, es kam zu Ohrfeigen und Schlägen. Beide Männer erwartet nun ein Strafverfahren.“ (Spiegel-Online 06.12.20)
Was machst du bloß für Sache, Jong?!
Du meinst es gut, mein Jong, ich weiß. Aber gut meinen und gut machen sind oft zwei paar Stiefel. Vielleicht hättest du mal deine Omma gefragt, bevor ihr jetzt zum zweiten Mal das Licht ausknipst.
Du sagst, ihr wollt die Alten schützen, aber in meinem Alter hat man keine Zeit mehr, mit dem Leben zu warten. In meinem Alter hat man auch längst kapiert, was am wichtigsten im Leben ist: dass man die Menschen um sich hat, die man liebt. Deshalb war’s damals schon schwer genug für mich, ins Heim zu gehen: so viele habe ich auf einmal nicht mehr gesehen, mit denen ich mein ganzes Leben zusammen war: die Frauen aus der Nachbarschaft, die aus dem Altenclub und Ilse, die mich nicht besuchen kann, weil sie niemanden hat, der sie fährt. Soll ich dir sagen, was mich seitdem am Leben hält? Dass ich eure Gesichter immer wieder sehe, die deiner Eltern, deiner Geschwister, deins und die paar wenigen, die noch kommen können.
Und dann, im Frühjahr, waren auch die weg. Kannst du dir vorstellen, wie ich gelitten habe?! Jeden Morgen hab ich mich gefragt, warum ich eigentlich noch da bin. Und manchmal hab ich sogar darüber nachgedacht, ob ich dem Herrgott etwas nachhelfe, mich zu holen.
Und dann konntet ihr auf einmal wieder kommen! Das war wie Weihnachten und Ostern an einem Tag! Plötzlich waren all die dunklen Wolken weg!
Du weißt, diese Masken finde ich wirklich nicht toll, weil man den anderen nicht richtig sieht, aber wenn’s sein muss, dann ist es eben so. Nur sperrt mir nicht wieder meine Leute aus! Und sagt schon gar nicht, dass ihr uns Alte damit schützt!
Erinnerst du dich an meinen Klassenkameraden Walter? Der ist die letzten Monate nicht mehr vor die Tür und seine Enkelkinder wollte er auch nicht mehr sehen, weil er solche Angst hatte sich anzustecken. Jetzt ist er am Schlaganfall gestorben.
Meine Zeit läuft ab. Ich habe keine Angst davor, an diesem Corona-Zeugs zu sterben. Aber ich habe Angst, langsam vor mich hin zu sterben, weil niemand mehr da ist, der mir wichtig ist. Also tu deiner Omma den Gefallen und sorg dafür, dass sie nicht vor die Hunde geht. Wer sonst kann das machen – du bist doch Minister, Jens!
De Gaaferlabbe
Keine Frage: Die Corona-Krise mutet uns einiges zu. Arbeit und Aktivitäten wurden eingeschränkt, Mobilität und Kommunikation begrenzt. Und nicht zuletzt immer wieder the f……* mask.
Inzwischen hängen sie reihenweise hinter dem Lenkrad, das Gummiband hinter den Ohren und die Maske unter dem Kinn geschürzt, als säßen sie gerade im Hochstuhl beim Morgenbrei.
Menschenskinder, lasst doch nicht alle Ästhetik fahren! Bewahrt euch bitteschön ein bisschen Würde und entratet nicht aller guten Manieren! Früh genug noch werdet ihr wieder anfangen zu sabbern und ihn brauchen: de Gaaferlabbe (für Fremdsprachler: den Geiferlappen).
O her mer doch uff, alder Schlabbe!
Mir mache uns selwer zu Dabbe!
Was hängd unnerm Kinn,
egal, wu sie sinn?
Wie’m Gloane zum Gaafern de Labbe!
Samstags im Baumarkt
Samstagvormittag im Baumarkt. Mund-Nase-bewehrte Zeitgenossen bugsieren ihre Einkaufswagen mit Heimwerkerbedarf auf pflichtgemäßem Corona-Sicherheitsabstand aneinander vorbei zu den Kassen.
Inmitten ihrer Geschäftigkeit eine Jugendliche, leicht gothicmäßig angehaucht, aber noch Mainstream genug, um unter normalen Umständen nicht aufzufallen, wenn da nicht ihr schwarzes T-shirt mit der Aufschrift in weißen Lettern wäre: „Wir werden alle sterben.“
Wir werden alle sterben.
Eine Ruferin in der Wüste.
Sternstunde
Aus der Corona-Verordnung Sport des Kultus- und Sozialministeriums Baden-Württemberg vom 25.06.20
§ 3
(2) Während der gesamten Trainings- und Übungseinheiten soll ein Abstand von mindestens 1,5 Metern zwischen sämtlichen anwesenden Personen eingehalten werden; davon ausgenommen sind für das Training oder die Übungseinheit übliche Sport-, Spiel- und Übungssituationen.
[Anm.: Dieser Satz verdient ob seiner Sinnfreiheit einen Preis!]
(3) Sofern der Trainings- und Übungsbetrieb in Gruppen stattfindet, soll eine Durchmischung der Gruppen vermieden werden.
(4) Soweit durchgängig oder über einen längeren Zeitraum ein unmittelbarer Körperkontakt erforderlich ist, sind in jedem Training oder jeder Übungseinheit möglichst feste Trainings- oder Übungspaare zu bilden.
§ 4
(3) Untersagt sind Sportwettkämpfe und Sportwettbewerbe
- mit über 100 Sportlerinnen und Sportlern und über 100 Zuschauerinnen und Zuschauern bis einschließlich 31. Juli 2020;
- mit insgesamt über 500 Sportlerinnen und Sportlern sowie Zuschaue- rinnen und Zuschauern bis einschließlich 31. Oktober 2020.
Die zulässige Zuschauerzahl erhöht sich bis einschließlich 31. Juli 2020 auf 250 Zuschauerinnen und Zuschauer, wenn zusätzlich
- den Zuschauerinnen und Zuschauern für die gesamte Dauer der Veranstaltung feste Sitzplätze zugewiesen werden und
- die Veranstaltung einem im Vorhinein festgelegten Programm folgt.
- Bei der Bemessung der Zuschauerzahl bleiben die Beschäftigten und sonstigen Mitwirkenden an der Veranstaltung wie Trainerinnen und Trainer, Betreuerinnen und Betreuer, Schieds- und Kampfrichterinnen und -richter sowie weiteres Funktionspersonal außer Betracht. Unter den Zuschauerinnen und Zuschauern ist ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten, sofern nicht § 2 Absatz 2 in Verbindung mit § 9 CoronaVO etwas anderes zulässt.
Unbestreitbar eine Sternstunde deutscher Bürokratie. Hoffentlich werden noch viele Novellierungen nötig.
Nach der Sommerpause soll übrigens das Studienfach „Corona“ eingerichtet werden, das in die Lage versetzt, das Regelwerk in die Praxis umzusetzen.
Kommt (bitte nicht alle) her zu mir …
Sie postieren sich vor Discos und Bars, Clubs und Veranstaltungshallen und sorgen für eine klare Trennung zwischen denen drinnen und denen draußen: die einen dürfen rein, die anderen nicht.
So ziemlich das Gegenteil von dem, was sich die Kirchen auf die Fahnen geschrieben haben: für alle da zu sein, niemand ausgrenzen, offen.
Doch seit kurzem gibt es vor Kirchen Türsteher. Sie prüfen, dass die zulässige Anzahl an Gottesdienstbesuchern (max. 100, bei einem Mindestabstand von 2 m) nicht überschritten wird.
Ein reichlich theoretisches Problem, werden viele denken, die Kirchen sind doch ohnehin leer. Weit gefehlt. Entgegen landläufiger Annahme gibt es etliche Gotteshäuser, wo diese Regelung schwer umsetzbar wäre, sollten alle kommen, die für gewöhnlich kommen.
Doch wie im richtigen Leben sind nicht alle, die draußen bleiben sollen, damit einverstanden: Vor dem Wormser Dom würgte ein verhinderter Besucher kürzlich den Mesner, der ihm den Zutritt zur Messe verwehrte. Er hätte sich zuvor anmelden müssen. Das Opfer konnte sich ins Innere der Kirche retten. Drinnen, draußen.
Schon in vergangenen Zeiten war der Zugang zum Heiligen nicht immer frei. In der frühen lateinischen Kirche sorgte der Ostiarius (von lat. Ostia, Türen), dafür, dass jeder entsprechend seines geistlichen Status platziert wurde und sich ggf. rechtzeitig vor dem Heiligsten (der Eucharistie) wieder entfernte. Das betraf noch nicht Getaufte (Katechumenen) ebenso wie Menschen, die sich gerade in einer kirchlich verordneten Auszeit (Buße) befanden. Sie hatten sich im Eingangsbereich der Kirche aufzuhalten, um später rasch verschwinden zu können. Falls nötig, wurde nachgeholfen. Türsteher von niederen Weihen.
Werden die Kirchen durch die erzwungene Zugangsreglementierung attraktiver werden – „Verringere das Angebot, und die Nachfrage wird wachsen“? Es wird wohl bei der bisherigen Situation bleiben, die ein Kalauer lakonisch so kommentiert:
Wenn alle reingehen würden, würden nicht alle reingehen. Aber weil nicht alle reingehen, gehen alle rein.
Jedenfalls dann, wenn nicht gerade Heiligabend oder Konfirmation ist. Oder Corona.
Abweisend zugewandt
Die Taktik des alten Agrippa
Der alte Menenius Agrippa war ein Fuchs: Als die römischen Plebejer eines Tages gegen ihr drückendes Los aufbegehrten und den Auszug aus der Stadt probten, eilte Agrippa ihnen auf den Aventin nach und predigte ihnen eine Fabel:
Einst, sprach er, erhoben sich die Glieder des Körpers gegen den faulen Magen. Sie wollten nicht immer nur dienen, während er sich im Müßiggang übte. Also stellten sie ihre Tätigkeit ein. Doch als der Magen keine Nahrung mehr von ihnen bekam, wurden sie selber schwach und schadeten damit auch sich selbst. Auf diese Weise begriffen sie, dass der Magen keineswegs faul daliege, sondern eine wichtige Tätigkeit für den gesamten Körper ausübe, indem er alle anderen Organe ernähre.
So, die applicatio des Menenius Agrippa, sei es auch im Gemeinwesen. Ein jeder habe seine besondere Aufgabe und sei darin für die Gemeinschaft unverzichtbar – die Plebejer, aber genauso auch die Patrizier.
An diesen alten Fuchs werde ich erinnert, wenn in der Corona-Krise bestimmte „systemrelevante“ Berufsgruppen über den grünen Klee gelobt werden: Da spielt eine Einzelhandelskette in ihren Filialen Lobeshymnen ein für alle, die für Lebensmittelnachschub sorgen, da danken Konzerne Lkw-Fahrern, Politiker ergehen sich in Dankadressen an die Pflegeberufe und Kassiererinnen.
Ein freundlicher Akt der Wertschätzung, möchte man meinen, und doch versetzen mich diese Worte auf den Aventin zurück, wo Agrippa den Plebejern 494 v. Chr. der Legende nach solange Honig um’s Maul schmierte, bis sie schließlich nach Rom zurückkehrten.
Doch viele durchschauen heute die seichte Rhetorik: Ich habe von Krankenschwestern gehört, die keinen Pfifferling auf wohlfeile Dankesworte geben, sondern stattdessen verbesserte Arbeitsbedingungen und höheres Gehalt einfordern.
Wären diese Dankadressen wirklich ernst gemeint, müsste es im nächsten Schritt darum gehen, die „Systemrelevanz“ dieser Gruppen auch finanziell „darzustellen“, indem wir mehr Verteilungsgerechtigkeit in unserem Land schaffen.
Alles andere bringt den Honig nur um’s Maul herum, aber nicht ins Maul.
Corona und Dürre
Volontär (liest seinen Bericht dem Chefredakteur vor):
„Zu einem drastischen Schritt entschloss sich vor wenigen Tagen die Heidelberger Stadtverwaltung. Zuvor war im Rahmen der Schutzmaßnahmen gegen das Corona-Virus die Neckarwiese gesperrt worden. Die aufgestellten Verbotsschilder konnten allerdings nicht verhindern, dass immer wieder Ansammlungen von kleineren und größeren Gruppen auf der Grünanlage anzutreffen waren. Daraufhin kamen Corona-Streifen zum Einsatz. Doch selbst deren massive Präsenz vermochte nichts daran zu ändern, dass das bei der Bevölkerung beliebte Gelände vor allem in den Nachtstunden weiter belagert war.
Nach ausführlicher Diskussion alternativer Lösungsvorschläge entschied sich der Stadtrat schließlich schweren Herzens für einen schmerzlichen Schnitt: Die Neckarwiese wurde gesprengt.“
Chefredakteur:
Was haben Sie sich nur bei diesem Bericht gedacht?
Volontär:
Ich habe die Information erhalten, dass die Neckarwiese gesprengt wurde.
Chefredakteur:
Und jetzt macht mich Ihre Information zum Nachahmungstäter…
Volontär:
???
Chefredakteur:
Heute noch werde ich meinen Garten sprengen.
Trevi in W.
Niemals hätte sich die Plexiglas-Industrie am Anfang des Jahres einen solchen Hype erträumen lassen. Inzwischen sind die durchsichtigen Scheiben allgegenwärtig: im Baumarkt und in der Bäckerei, am Marktstand, im Lebensmitteldiscounter.
Bei einer der großen Ketten, die ihre Kundschaft derzeit mit Lobeshymnen über diejenigen Werktätigen berieseln, die für Warennachschub sorgen (hat das früher irgendjemanden interessiert?), hat man die Kassiererinnen durch eine Plexiglasscheibe von den Kunden getrennt. Diese ist mit dem Tresen verschraubt, über den das Förderband läuft. Allerdings blieb ein Spalt von etwa einem halben Zentimeter, da der Tresen oberhalb der Befestigungspunkte etwas zurückspringt. Dort, gut sichtbar, sammeln sich nun Münzen, die zwischen Kundenhand und Kassierhand abstürzen. Sie enden in diesem Spalt, unerreichbar selbst für den dünnsten Finger.
Sollten sich krisenbedingt immer mehr Münzen dort ansammeln, wird zu überlegen sein, was mit dem Geld passieren soll. Womit sich die Frage erhebt: Wem gehört dieses Geld eigentlich? Psychologisch gesehen ist die statistische Wahrscheinlichkeit höher, dass es Kunden aus der Hand fällt, da diese a) weniger routiniert im händischen Geldtransfer und b) tendenziell nervöser sind aus Angst vor Ansteckung als die Kassiererinnen, die ihrer Arbeit grundsätzlich nur behandschuht nachgehen.
Damit wäre eine Rückgabe an die ursprünglichen Besitzer aus praktischen Gründen allerdings ausgeschlossen.
Möglicherweise gelangen die Münzen aber sogar absichtlich dahin – Votivmünzen, die freiwillig geopfert werden als Gabe für die Götter mit der Absicht, Böses abzuhalten … wer weiß schon, was an archaischen apotropäischen Riten in einer Phase fundamentalen Ausgeliefertseins wieder fröhliche Urständ feiert …
Im Trevi-Brunnen in Rom, wo nur rückwärts und über die Schulter geworfen werden darf, fischen städtische Angestellte jährlich die Münzen aus dem Bassin. Im Jahr 2013, so weiß Wikipedia, sollen dort 1,2 Millionen Euro zusammengekommen sein. Monatelang floss das Wasser über sie hinweg, nun flossen sie – als Spende an die Caritas.
Darf man das?!
Eine Zeitung, der ich meine Satire (vgl. folgender Text „Jagdsaison“) über das Einkaufsverhalten mancher Zeitgenossen schickte, lehnte die Veröffentlichung ab. Die Redaktion habe entschieden, man dürfe über ein so ernstes Thema wie Corona keine Witze machen.
Was für ein trauriger Kurzschluss! Schon immer haben Menschen auch über Schwieriges und Hochproblematisches gelacht. Manchmal war es sogar ihre einzige Chance, dem Teufel auf den Kopf zu treten und sich für einen Augenblick souverän zu fühlen.
Corona bietet viele Anlässe zum Schreiben, beileibe nicht nur witzige. Die folgenden Texte decken ein weites Spektrum ab. Aber alles darf literarisch verarbeitet werden.
Jagdsaison
„Ich hatte drei“, stieß er gepresst hervor und legte zwei arg gequetschte Etwas auf den Tisch.
Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Wie siehst du denn aus?!“
Er hatte es als erster entdeckt. Zuvor war er durch zig andere Läden gehetzt. Erfolglos. Überall ausverkauft. Und überall Unmengen von Menschen, die mit ihren überfüllten Einkaufswagen durch die überfüllten Gänge auf überfüllte Kassen zusteuerten.
Genau in dem Moment, als er entnervt aufgeben wollte, sah er es: Es war nach hinten gerutscht und steckte nun fest, eingeklemmt zwischen Palette und Wand. Glückshormone durchfluteten seinen Körper. Seine Frau würde Augen machen. Er kniete sich auf das Holz, beugte sich nach vorn und zog es heraus.
Mit dem Paket unter der Achsel stand er auf, als er von hinten einen kräftigen Zug verspürte. Er drehte sich um und fand sich Auge in Auge mit einem rüstigen Rentner, der mit wild entschlossenem Blick das andere Ende seiner Beute festhielt. „He, Opa!“, rief er, „das ist meins!“ Doch sein Gegner ließ sich davon nicht beeindrucken und zog umso heftiger daran. „Gib her!“, brüllte er und trat dem anderen ans Schienbein. In diesem Moment riss die Verpackung und der Inhalt kullerte über den Boden. Im Nu fielen alle Jäger darüber her, und es entbrannte ein wüster Kampf. Er schlug sich gut, im wahrsten Sinne des Wortes, bis ihn ein Schlag auf den Kopf in die Knie zwang. Als er sich mühsam wieder aufrappelte, tropfte Blut vor ihm auf den gelb gefliesten Boden. „Hilfe!“, rief er, „ich blute!“. Mit einem Mal war der Kampf zu Ende und die Kontrahenten begannen ihre Wunden zu lecken. Der rüstige Rentner, der ihm eben noch seine Beute hatte abjagen wollen, entpuppte sich als findiger Ersthelfer und umwickelte ihm den Kopf mit dem Nächstbesten, was gerade zur Hand war, um die Blutung zu stillen.
Das Angebot des Marktleiters, einen Krankenwagen zu rufen, lehnte er dankend ab aus Angst, auch noch den letzten Rest seiner Beute zu verlieren. Er bugsierte die Wollmütze über seinen Schädel, der doppelt so groß wie zuvor schien. Die Wunde pochte bei jedem Schritt. Immerhin hatte er drei … drei?! Er kramte in seiner Tasche. Wo war die dritte?! Die Erkenntnis überfiel ihn schlagartig, nicht minder schlimm als der Schlag im Einkaufsmarkt…
„Ich habe es für dich getan.“ Stockend kamen die Worte aus seinem Mund. Dann zog er sich langsam die Mütze vom Kopf. Sie wusste nicht, ob sie angesichts des schaurig-komischen Anblicks lachen oder weinen sollte. Der Turban war bereits rot durchtränkt. Es war ja auch nur … Klopapier.
Letzte Krone
Mit seiner Trauerfeier wollte er sich ein letztes Mal die Krone aufsetzen.
Einen Großteil seines letzten Lebensjahres hatte er damit zugebracht, seine eigene Trauerfeier zu planen. Inzwischen hätte er sich gut als funeral planner selbständig machen können. Kein Tag verging, an dem er seine Familie nicht auf den großen Ordner hinwies, der an prominenter Stelle im Wohnzimmerschrank stand und auf dessen Etikett in fetten Lettern „Mein Abschied“ prangte.
Seine Familie ertrug seine allfälligen Hinweise nur deshalb mit stoischer Ergebenheit, weil es andererseits doch beklagenswert war, so frühzeitig vom eigenen Tod zu wissen. Indes die Diagnose der Ärzte war klar: Es blieben ihm nur wenige Monate bis zum unvermeidbaren Ende.
Unterdessen wuchs der Ordner Woche um Woche. Akkurat abgetrennt durch verschiedenfarbige Kartonstreifen waren die diversen Sektionen im Handumdrehen greifbar, die größte unter ihnen – sie umfasste wohl die Hälfte des gesamten Ordners – schlicht mit „Vita“ bezeichnet. Sie begann mit seinem Stammbaum, der bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte und für dessen Entzifferung es eine Lupe brauchte. Es folgten Anekdoten aus dem Leben seiner Großeltern und Eltern, eine Reihe von Fotos in verschiedenen Altersstufen (mit Wiege, im Matrosenanzug, inmitten von geschätzt 50 Schülergesichtern, inmitten von geschätzt 80 Konfirmanden, Hochzeitsfotos etc.). Dann die ersten Zeitungsartikel über seine berufliche Laufbahn und Erfolge, nicht zu vergessen die vier Kinder und diverse Familienfotos an diversen Familienferienorten etc.
Den schriftlichen Kommentar dazu bildete ein zehnseitiger, computergeschriebener Lebenslauf (mit Hinweis auf einen USB-Stick, welcher das Dokument enthielt), der dem Trauerredner einen ersten Eindruck von der Persönlichkeit des Verstorbenen vermitteln sollte.
Mehrere Seiten mit Informationen aus populärwissenschaftlichen medizinischen Internetseiten über sein Krankheitsbild standen am Ende dieser Abteilung.
Aber das war noch nicht alles. Unter der Rubrik „Ablauf der Trauerfeier“ fanden sich eine Reihe von Anmerkungen für die Gestaltung, angefangen von zwei Seiten mit Lied- und Musikvorschlägen (bei denen er durchaus auch die Geschmäcker der nächsten Generation berücksichtigte), Hinweise zur Beteiligung von Familienmitgliedern (ja, erwünscht!) sowie mehrere Modelle für eine solche Mitwirkung. Dann eine florale Choreographie für die Trauerhalle, deren Mittelpunkt ein mannsgroßer weißer Gipsengel bildete, der mit ausgebreiteten Armen bzw. Flügeln neben der Urne stehen würde.
Schließlich eine Menüzusammenstellung für den Leichenschmaus samt dem Hinweis, dass die ausgewählte Gaststätte vorab schon informiert sei und alles entsprechend seinen Wünschen realisieren werde. Eine Liste der eingeladenen Gäste vervollständigte diesen Teil.
Der letzte Abschnitt hieß „Finanzierung“. Darin fanden sich detaillierte Hinweise über die zu erwartenden Kosten sowie eine Aufstellung, welche Summe welchem Topf zu entnehmen sei.
Seine Familie versprach hoch und heilig, alles getreulich umzusetzen.
Er starb im Frühjahr, das ein beständiger scharfer Wind, der alles hinwegblies, reichlich unangenehm geraten ließ.
Bei der Trauerfeier standen zehn Personen in einem großen Kreis um sein Grab. Der Redner empfahl sich mit einer hilflosen Geste unmittelbar nach seiner Laudatio, die er auf ein Fünftel ihres geplanten Umfangs zusammengestrichen hatte. Als er merkte, dass die Trauergäste unruhig von einem Fuß auf den anderen traten, ließ er spontan noch einmal einen Teil weg. Nach zehn Minuten blieb die Urne mit der Asche des Verstorbenen in einem 40 auf 40 cm großen Loch zurück, unerreichbar für den scharfen Frühlingswind.
Die Krone war ihm gewährt worden. Krone, lateinisch corona.
Kostbare Fracht
Filippo dreht den Zündschlüssel um. Mit einem dumpfen Grollen springt der Motor an.
Sie werden in Kolonne fahren, 11 Fahrzeuge, hat ihnen der Oberstleutnant bei der Dienstbesprechung im Morgengrauen gesagt. Filippo hat erst vor kurzem den Führerschein für die schweren Militär-LKWs gemacht. Neben ihm sitzt ein Kamerad, der schon länger dabei ist. „Fahr du ruhig“, sagt Giorgio, als er Filippos fragenden Blick sieht, „ich hab schon mehr Stunden auf diesem Kübel als du.“
„Haben Sie eine Namensliste?“ Nach der Dienstbesprechung hat er den Mitarbeiter der Stadtverwaltung abgepasst. „Natürlich. Was wollen Sie damit?“ Plötzlich hat Filippo einen Kloß im Hals und feuchte Augen. Der Verantwortliche reicht ihm stumm die Liste. „Sie sind nach Datum geordnet.“ Filippo nickt. Er blättert durch die Seiten, findet, was er sucht. Die Nummer des Fahrzeugs steht auch dabei.
Der Kompaniechef steht mit einer Kaffeetasse in der Hand da. Fünf Minuten bis zum Aufsitzen. „Wäre es möglich, dass ich mit Luca das Fahrzeug tausche?“ Filippo hat all seinen Mut zusammengenommen. Der Kompaniechef sieht ihn argwöhnisch an. „Hat man dir einen Fahrzeugtyp zugeteilt, den du noch nicht kennst?“ „Nein, Comandante, das ist es nicht, es ist nur …“
Zehn Minuten später beginnt die Verladung. Filippo und Giorgio sind im vorletzten Fahrzeug. Sie fahren rückwärts an die Rampe, der LKW wird beladen. In einer Nebenstraße wächst langsam der Konvoi an. Filippo hält das Lenkrad umklammert. „Jetzt mach dir mal nicht in die Hosen, Kumpel“, beschwichtigt ihn Giorgio, „du hast das Teil doch im Griff.“ Filippo sieht rasch zum Seitenfenster hinaus.
Dann geht es los. Sie fahren im Schritttempo durch die Stadt. Es ist Nacht geworden, die Straßen sind leer, aber auf den Balkonen stehen vereinzelt Menschen. Manche winken oder salutieren, andere filmen mit ihren Handys. Filippo ist froh, dass es dunkel ist. Niemand sieht die Tränen, die ihm über die Wangen laufen.
Hinter dem Ortsschild nimmt das Begleitfahrzeug an der Spitze langsam Tempo auf. „Na also, bis jetzt ging’s doch super“, sagt sein Beifahrer. Filippo atmet durch und schaltet behutsam in einen höheren Gang. Der Fracht darf nichts passieren.
Auf der Ladefläche stehen 12 Särge. In einem davon liegt Giovanna. Seine Großmutter.
Jahrestag
Er würde sie in das neue Lokal einladen, von dem sie bei ihrem letzten Telefonat erzählt hatte. Danach, wenn sie angenehm beschwipst waren, würde er eintauchen in ihren Körper, dessen Hügel und Täler sich auch nach den Wochen der Ferne sofort wieder heimisch anfühlten.
Als er den Anruf bekam, raste er in einem gemieteten Auto nach Hause – in ein unbekanntes Land, wo ihn menschenleere Plätze und das immerwährende Geheul von Ambulanzen erwarteten. Er hielt vor der Klinik und drängte den schwarzgekleideten Security-Posten zur Seite, der ihn aufhalten wollte. Die Schleuse zur Intensivstation beendete seinen Sturm. Panisch drückte er den Knopf für die Gegensprechanlage. Hämmerte gegen die Tür. Die beiden Uniformierten mussten all ihre Kraft aufwenden, um ihn wegzuschleppen.
Er schichtete die Arbeitskleidung in aller Ruhe aufeinander und legte den Stapel auf die Ladefläche des Firmenfahrzeugs. In zwei Stunden saß er im Bus, der ihn nach Hause brachte, wo ihn belebte Plätze und das aufgeregte Hupen von Motorrollern erwarteten. Und die Kinder. Sie wollten in dem Restaurant essen gehen, von dem sie ihm bei ihrem letzten Telefonat erzählt hatte. Zum ersten Jahrestag.
Am meisten machte ihm zu schaffen, dass er sie nicht mehr sehen konnte. Eine verwackelte Videobotschaft per WhatsApp über ein Handy, das ihr vor’s Gesicht gehalten wurde – das war das Letzte, was er von ihr sah. Danach hatte er sich die ganze Nacht nicht von seinem Stuhl fortbewegt. Immer und immer wieder das Video abgespielt. Als er morgens den Anruf bekam, warf er das Handy gegen die Wand.
(Foto und Text
gehören zum Projekt „Strandgut“)
Er steuerte das Fahrzeug über die kurvenreiche Strecke. Die Sonne schien.
Die Kinder wollten Francesca mit ihren beiden Söhnen zum Essen einladen. Sie hatte damals ihren wesentlich älteren Mann verloren. Anscheinend hatten sie Angst, es könne zu depressiv werden, wenn sie allein zusammensaßen. Zuerst war er dagegen, aber warum eigentlich nicht? Sofia konnte Francesca immer gut leiden.