Literarische Miniaturen

Doppelter Ausgang

Im Ruhestand würde er seinen Roman schreiben. Die unzähligen kurzen Texte, die er in den letzten Jahren geschrieben hatte, oft zwischen Tür und Angel – er konnte sie nicht mehr sehen. Nun, frei von beruflichen Verpflichtungen, würde er den großen Bogen ausziehen. Endlich all die Kreativität auffangen, die aus ihm herausfloss, und ihr die entsprechende Form geben.

Er stellte sich vor, wie er am Schreibtisch saß und sich seine Finger verzweifelt bemühten, den fliegenden Gedanken auf der Tastatur zu folgen. Am ersten Tag seines Ruhestands saß er morgens am Schreibtisch. Doch die Finger hoben nicht ab, weil die Gedanken am Boden blieben. Es ist die Übergangsphase, dachte er, ich muss mir etwas Zeit geben und mich an die neue Situation gewöhnen. Er gewöhnte sich an die neue Situation und schrieb nichts. Ich muss hinaus, brauche Impulse von außen, dachte er, und setzte sich vom späten Vormittag bis zur Dämmerung ins Straßencafé. Die Leben der Menschen flossen um ihn herum, ohne zu Geschichten zu werden. Leer kehrte er nach Hause zurück. Es war alles zu viel, immer noch. Stille würde ihm helfen und ans Tageslicht bringen, was darauf wartete, Gestalt anzunehmen. Er dankte seiner Frau, die sich einen zufriedenen Mann wünschte, und verabschiedete sich in die Einsamkeit. Nach zwei Wochen allein in einer Berghütte war er einer Depression nahe, aber dem Schreiben so fern wie nie zuvor. Wie soll ich auf etwas kommen, wenn ich nur auf mich selbst fokussiert bin?, dachte er. Es braucht echte Teilnahme, authentisches commitment. Er meldete sich für einen Freiwilligendienst bei der „Tafel“. Die Schicksale der Menschen, die zum Einkaufen kamen, berührten ihn: alte Mütterchen, deren armselige Rente zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel war, junge Frauen, die beim Anstehen an ihren teuren Handys hingen und deren Familien schon in der dritten oder vierten Generation von Sozialhilfe lebten. Aber er hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, daraus literarisch Kapital zu schlagen. Ich benutze diese Menschen und ihre Lebensgeschichten nur, dachte er.

Die Wochen und Monate plätscherten dahin. Dann kam ein Tag, an dem er zum ersten Mal nicht mehr ans Schreiben dachte.

(US-amerikanischer Schluss)
Als er am nächsten Morgen aufwachte, war alles fertig in seinem Kopf. Er setzte sich hin und begann zu schreiben. Sein Roman wurde von der Kritik hoch gelobt und entwickelte sich zum Bestseller des folgenden Jahres.

(Deutscher Schluss)
Als er am nächsten Morgen aufwachte, war alles fertig in seinem Kopf. Er setzte sich hin und begann zu schreiben. Einen dieser kleinen Texte. Und am nächsten Tag wieder einen.

Die Frau des Schriftstellers

Der Applaus verebbte. Vor ihnen standen die ersten auf. Die Preisverleihung war vorüber. Sein Name war nicht genannt worden. Wieder nicht. Sie sah zu ihm hinüber. Sein Adamsapfel schob sich ruckartig nach oben und rutschte langsam zurück. In diesem Augenblick lösten sich seine Hoffnungen in Luft auf. Auch ihre. Es war vorbei. Bis eben hatte sie gehofft, sie könnte von seinem Erfolg profitieren, auf den er seit Jahren verbissen hinarbeitete. Dass es noch einmal etwas hätte werden können mit ihnen, wenn er wieder aufgetaucht wäre aus seiner besessenen Jagd nach Erfolg. Aber der war zum wiederholten Male ausgeblieben. Und damit eine neue Chance für ihre Beziehung.

In dieser Nacht schnarchte er. Nicht mehr als sonst, aber diesmal konnte sie die Dämonen der Finsternis nicht mehr aufhalten. In der Nachtischschublade lagen noch die beiden Flugtickets: Er war nicht rechtzeitig mit seinem Manuskript fertig geworden. Genau so würde es weitergehen: er ständig absorbiert von seinem neuesten Projekt und der absurden Hoffnung, es doch noch zu schaffen. Gesehen zu werden! Mit jedem seiner Grunzer stieg ihr Zorn. Mein Gott, sie sah ihn schon fast sein ganzes Leben lang! Aber es reichte ihm nicht, er musste von anderen gesehen werden. Erst wenn alle applaudierten, war sein krankhaft unterentwickeltes Selbstbewusstsein befriedigt. Die Wut brach ihr aus allen Poren. Sie warf die Bettdecke von sich. Wenn sie jetzt einen Herzinfarkt bekäme, direkt neben ihm – nichts würde er davon merken!

Und plötzlich steigt etwas in ihr hoch, gegen alle Gesetze der Schwerkraft, es schnürt ihr die Taille ein, drückt dann auf ihren Bauch und steigt weiter. Es zwängt ihren Brustkorb zusammen und droht ihn gleichzeitig zu sprengen. Wie ein Fass, in das unter hohem Druck Flüssigkeit gepresst wird und das im nächsten Moment platzt.

Sie springt auf, taumelt in die Küche und kramt das Tranchiermesser mit der breiten Schneide hervor. Nimmt es so, dass ihre Finger den Griff von oben umklammern. Im Flur zerschneidet die Klinge die Dunkelheit vor ihr. Das Walross schnauft immer noch. Da sticht sie zu. Er hat keine Chance. Immer und immer wieder haut sie auf ihn ein. Alles, was sich über Jahre angestaut hat, entlädt sich innerhalb weniger Sekunden in einer hämmernden Stoßbewegung ihres rechten Oberarms. Tränenlos sticht sie zu, immer und immer wieder.

Dann ist es vorbei. Sie sinkt mit einem Wimmern nieder. Als sie den Kopf hebt, haben sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Sie sieht ihn an. Das, was von ihm übriggeblieben ist. Vom Papierstapel. Dem Manuskript ihres Mannes.

Familienbande

Am Tag, als unsere Katze starb, saßen wir auf den Stufen der Terrasse.

Morgens war die Tierärztin gekommen und hatte sie eingeschläfert. Wir begruben sie mit Blumen geschmückt im Garten.

Wir hängen unseren Gedanken nach, da nehmen wir aus den Augenwinkeln eine vertraute Bewegung wahr: Unsere Katze! Nein, vielmehr ihr Geist: Gandalf der Weiße, auferstanden von den Toten! Wieder fließen Tränen. Aber es ist kein Geist, es ist Jamie, der weiße Kater aus der Nachbarschaft. Zur Hälfte Maine Coon wie unsere Katze, zur Hälfte Perser. Eben ist er an ihrem Grab vorbei, jetzt steht er vor uns und schaut uns an. Nachts hat sie manchmal mit ihm um die Wette geheult, und immer unter unserem Schlafzimmerfenster. Dass er gerade heute vorbeischaut! Hat er gemerkt, dass Smoke vor wenigen Stunden gestorben ist? Er geht weiter und lässt sich im Beet unter der Katzenminze nieder – dort, wo sie sich so gern rieb. Das hat er noch nie getan. Tiere spüren so einiges.

Ein paar Tage später gehe ich mit einer Tüte voll Dosenfutter in der Nachbarschaft hausieren. Die Besitzerin von Jamie, dem weißen Kater, nimmt sie mir ab. Eine Woche darauf steht sie mit Blumen und Süßigkeiten vor der Tür. Dann sitzen wir auf der Terrasse und erzählen von unseren Katzen.

Ein Jahr nach uns sind sie hierher gezogen. Ihren Kater haben sie schon mitgebracht, aber er stammt nicht von ihrem letzten Wohnort. In einem Inserat auf Ebay-Kleinanzeigen hatten sie ihn entdeckt. Sie mussten ein ganzes Stück fahren, um ihn zu holen. Sie nennt den Namen des Ortes. Das ist ja interessant: dort haben wir zuletzt gelebt, bevor wir hierher gezogen sind. Ein sehr überschaubarer Ort. Sie beschreibt das Haus, zu dem sie bestellt wurden: alles sehr beengt, viele Tiere. Merkwürdig, wie bei der Herkunftsfamilie unserer Katze, bevor sie uns adoptierte. Wie alt ist ihr Kater? Ich rechne nach: vier Jahre jünger als unsere Katze. Er war damals auch nicht allein im Wurf, sagt sie, es gab noch ein zweites Junges, aber das war krank und konnte deshalb nicht verkauft werden. Auf meinen Unterarmen stellen sich die Härchen. Bevor Smoke zu uns kam, hatte sie zum ersten Mal geworfen: zwei Junge. Das eine wurde verkauft, das andere, ein einäugiges Katzenmädchen, blieb bei ihr und wurde wenig später überfahren. Kurz darauf wurde Smoke wieder trächtig. Die Tierärztin musste ihr Alter schätzen, da keinerlei Unterlagen vorhanden waren: etwa vier Jahre.
Ich spüre meine Augen feucht werden.

Mutter und Sohn waren sechs Jahre getrennt. Dann begegneten sie sich wieder. Wir wussten nichts davon. Ob sie es wussten?

Hangover mit null Promille

Vogelgezwitscher weckt mich.
Morgensonne fällt durch’s Fenster.

Warum habe ich heute Nacht hier im Gästezimmer geschlafen und nicht bei Susanne?
Bisher haben wir es noch jedes Mal geschafft, uns vor dem Schlafengehen wieder zu versöhnen.
Was ist passiert?

Ich versuche mich zu erinnern.
Meine Gedanken verirren sich in den Zimmerecken.
Der Farbton an den Wänden – macht ihn das Morgenlicht heller?

Ich schiebe das weiße Bettzeug zurück.
Glatt und kühl, wie damals in der Klinik.

Als ich mich aufsetze, ächzt mein Körper wie der eines Achtzigjährigen. Es wird Zeit, den Tag wieder regelmäßig mit ein paar Dehnungsübungen zu beginnen.
Ich hieve meine Beine mühsam über die Bettkante, lasse sie baumeln. Meine Oberschenkel waren auch schon muskulöser.
Seit wann haben wir dieses neue Gästebett?

Da fällt mein Blick aus dem Fenster. Der Garten.
Und auf einmal wird mir schummerig.
Die kleinen Sträucher, die ich letztes Jahr gesetzt habe – sie sind verschwunden. An ihrer Stelle stehen plötzlich wahre Monstren von Büschen. Und der übergroße Kirschlorbeer, der sich zum Baum ausgewachsen hatte und den ich schon längst  ummachen wollte – weg, die Lücke zugewachsen, man sieht rein gar nichts mehr.

Wer zum Teufel hat das veranlasst? Und wie kann das alles seit gestern passiert sein? Oder habe ich gar zwei ganze Tage durchgeschlafen? Und jemand hat kurz entschlossen meinen Blackout genutzt und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion alles neu angelegt? Unmöglich. Susanne wüsste, es gäbe den größten Krach, auch wenn sie sich schon oft beschwert hat, die Grenzen zu den Nachbarn würden zu langsam zuwachsen.

In meinem Hals klopfen die Adern wie wild. Ich muss raus. Nachsehen, was da los ist. Langsam, ganz langsam drücke ich mich hoch. Schaffe es auf die Füße.
So klapprig war ich noch nie. Was ist los mit mir?

Vorsichtig rutsche ich mehr als ich gehe ein paar Schritte. Dann muss ich mich an einem Stuhl festhalten. Mein Atem geht wie bei der letzten Runde Joggen. Was immer mich gestern Abend niedergestreckt hat – es war extrem heftig. Solche Nachwirkungen habe ich noch nie erlebt. Allerdings habe ich mich noch nie in meinem Leben betrunken. Vielleicht habe ich gestern etwas nachgeholt.

Ich wackle weiter.
Der Spiegel neben der Tür – ich muss kurz hineinschauen, bevor ich hinausgehe. Wer weiß, wie ich aussehe.

Ich stütze mich mit den Unterarmen auf die Kommode. Erstmal durchschnaufen. Dann hebe ich den Kopf zum Spiegel.
Erschrocken fahre ich herum zu meinem Vater. Aber hinter mir ist niemand. Ich drehe mich langsam zurück.

Aus dem Spiegel sieht er mich noch immer an.


Nachbemerkung:
Eine Schlagzeile über Michael Schumacher flimmert über meinen Bildschirm, ohne dass ich den Artikel lesen kann. Unvermittelt der Gedanke: Wie würde es sein, nach etlichen Jahren im Koma plötzlich aufzuwachen – in einer veränderten Welt, und vor allem: in einem gealterten Körper und einem junggebliebenen Geist, der nicht mehr zu dem Menschen passt, der ich geworden bin – völlig an mir vorbei?
Natürlich ist es unrealistisch, dass jemand nach mehreren Jahren Koma einfach aufsteht und durch’s Zimmer wackelt. Künstlerische Freiheit nennt sich das.

Digitalvertrackt

Mein Personalausweis ist abgelaufen. Schon wieder ein Jahrzehnt um! Merkwürdigerweise bekomme ich bereits binnen einer Woche einen Termin im Bürgerbüro. „Bringen Sie ein biometrisches Passbild mit, außerdem Ihren alten Ausweis und eine Heiratsurkunde.“ Heiratsurkunde. Heiratsurkunde?!

Ich drehe meinen Ausweis vorwärts, rückwärts, seitwärts. Nirgends ein Eintrag, ob ich verheiratet, verwitwet, geschieden oder sonstwas bin. Wofür brauchen die dann meine Heiratsurkunde?! Traut die Behörde ihren eigenen Daten nicht? Und wie kann es sein, dass in diesem Land so gut wie alles von mir erfasst ist, aber das Einwohnermeldeamt vor Ort meine Eheschließung nicht nachweisen kann?!

Die beste Ehefrau von allen hat ebenfalls einen neuen Perso beantragt und muss eine Bescheinigung über ihren Doppelnamen vorlegen. Vermutlich hat sie den erfunden, als ihr letzter Ausweis ausgestellt wurde. Was für ein Jammer, dass nun ihre mühsam aufgebaute Tarnung auffliegt und sie ihren Schläfer-Status aufgeben muss …

Ok, es hilft alles nichts. Also dann. Wo soll diese Bescheinigung sein? Bei ihren Heiratsunterlagen natürlich, dort müsste nach der Eheschließung als nächster Verwaltungsakt die Annahme ihres Doppelnamens beurkundet sein. Müsste, denn das gute Dokument ist nirgends zu finden.

Die Dame im Bürgerbüro kommt langsam ins Schwitzen. Wo ist noch gleich die Information dazu hinterlegt – beim letzten Wohnsitz oder am Ort der Eheschließung? Die beste Ehefrau von allen steht kurz vor der Explosion. Müssen möglicherweise die Steintafeln, auf denen der Vorgang in grauer Vorzeit eingemeißelt wurde, auch noch herbeispeditiert werden? Das Ganze scheint sich zum GAU (Größt Anzunehmender Urkundennotstand) auszuwachsen, zumal der Ort der Eheschließung satte drei Kilometer entfernt liegt.

Doch alles wird gut: Bereits nach zwei weiteren Besuchen auf dem Amt und ein paar informellen Anrufen ist die Angelegenheit geregelt – kurz bevor Personenschaden zu beklagen ist.

Digitalpakt war mal. Willkommen in der digitalen Steinzeit!

Zwei Leben

Die Wärme auf der Haut lässt sie wohlig erschauern. Sie presst die Beine gegen den Heizkörper und lehnt sich mit ihrem Oberkörper nach vorn, um mit ihrem Gesicht die Sonne zu erreichen, die in einem spitzen Winkel in die Fensterlaibung fällt. Die Rippen des Heizkörpers drücken gegen ihre Schienbeine. Sie schließt die Augen vor dem gleißenden Licht. Jeden Morgen muss sie sich überwinden, um aus dem Bett zu kommen und ihre Arbeit in Angriff zu nehmen, für die sie weder den Willen noch die Kraft hat und wo nur verdrängen hilft, verdrängen und sich fokussieren auf das, was unbedingt getan werden muss.
Einmal mehr hat sie es geschafft, nicht gut, aber auch nicht schlecht, und jetzt lässt sie sich für ein paar Sekunden in die Wärme und ins Licht fallen.

Als sie die Augen wieder öffnet, fällt ihr Blick aus dem Fenster. Unten, in der kleinen Parkanlage, ist ein Spaziergänger mit langsamen Schritten unterwegs. Nicht mehr als dreißig Jahre, schätzt sie, mit hellen Turnschuhen und einer weiten Jacke. Er nähert sich der lebensgroßen Statue der Aphrodite, die in anmutiger Pose die Besucher grüßt, legt einen Arm um sie und schießt mit seinem Handy ein Selfie. Dann geht er weiter. Und irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas ist falsch an seinen Proportionen. Es sieht aus, als ob … sie kneift die Augen zusammen. Dann könnte er doch nicht … Täuscht sie die Distanz? Direkt über dem Schuh bis hinauf zum Knie … das ist doch normalerweise nicht so dünn … Sie tritt vom Heizkörper zurück und betrachtet ihre Beine. Dann schaut sie dem jungen Mann nach, der mit bedächtigen Schritten davongeht – auf seinen dünnen Unterschenkeln, die zwei Stahlprothesen sind.

In the Loop oder: Alles läuft rund

Ich fahre meinen Computer hoch. Eine Meldung erscheint: „Einen Moment bitte! Ihr System wird aktualisiert.“
Vor meinem Termin wollte ich noch etwas Dringendes am PC erledigen. Naja. Es wird so lang schon nicht dauern.

Inzwischen ist auf dem Bildschirm ein Kranz von Kugeln erschienen, der sich dreht. „Hier wird gearbeitet“ soll das wohl signalisieren. Ich lasse mich vom fröhlichen Optimismus der quirligen Kugeln anstecken und bin guter Dinge.

Gefühlte zwanzig Minuten später sind 6% der Updates heruntergeladen. Ich rechne auf 100% hoch und stelle fest, dass ich meinen Termin bereits in zwei Wochen werde wahrnehmen können. Das System scheint indessen meinen Stimmungsumschwung registriert zu haben, denn auf einmal laufen die Prozente. Wobei „laufen“ reichlich übertrieben ist. Es bewegt sich etwas. Was sich vor allem bewegt, sind die Kugeln, die sich im Kreis bewegen. Während ich teste, ob ich so lange die Luft anhalten kann, bis die Anzeige um ein Prozent hochspringt, versuche ich herauszubekommen, wie viele Kugeln es sind. Die ersten drei kann ich ganz gut ausmachen, sie gleichen den vorderen Wagen einer Achterbahn, die auf dem Scheitelpunkt angekommen sich zunächst relativ langsam in die Tiefe bewegen, dann immer schneller werden und die letzten Wagen schließlich in wahnwitzigem Tempo mitreißen.

Auf einmal eine neue Anzeige: Windows wird aktualisiert. Ich dachte, das geschieht schon die ganze Zeit. Das System schweigt mich an, aber im Vergleich zu vorher steigt die Prozentzahl nun rasant an: Nach wenig mehr als zehn Minuten sind 100% erreicht. Es wird also doch noch, denke ich, da springt der Monitor auf die alte Anzeige zurück: 30% vom Update sind installiert. Ich rase wie die Kugeln im Kreis herum. Sechs sind es übrigens. Warum gerade sechs?
Sechs Kugeln, die laufen, halten meine Hoffnung am Laufen.

Vor zehn Minuten hätte ich aus dem Haus gehen müssen. Stattdessen sitze ich vor der Kiste und lasse mich von sechs Kugeln hypnotisieren, die sich permanent im Kreis bewegen. Und es inzwischen kaum noch bis nach oben schaffen. Mit letzter Kraft, will mir scheinen, kämpfen sie sich nach oben. Wie ich.

Auf Fotos im Internet lächelt Bill Gates immer. Auch privat ist er ein angenehmer Zeitgenosse. „Nice to meet you“, sagt er und streckt mir die Hand hin. Auf dem Tisch vor ihm steht eine Murmelbahn, wo sechs Kugeln in einem Looping immerzu im Kreis laufen, ganz offensichtlich ohne jede Energiezufuhr von außen.
Mir fehlen die Worte. „So you did it, Mr. Gates.“
„Did what?” Gates grinst wie ein großer Junge. „And please call me Bill.“
“You found the perpetuum mobile, the source of endless energy.”
Er kichert. “It’s just a bit of bycatch we did developing Windows 10.”
Unglaublich, dass ich das erleben darf!
„May I, … Bill?“ stammle ich ehrfürchtig und trete näher.
„Sure.“ Gates lacht immer noch.
Jetzt bin ich mutiger geworden: „I was wondering why you chose six marbles …”
„It’s quite simple”, antwortet mir ein verschmitzter Bill Gates, „you’ll figure out once you concentrate on the balls…”
Ich folge seiner Hand und starre auf die unscheinbaren Kugeln, die immerzu im Kreis laufen und die Weltformel in sich tragen. In meinem Kopf beginnt es sich zu drehen. Meine Gedanken sind mir plötzlich seltsam fremd und seltsam klar zugleich. Da fällt mir auf, dass sich die Murmelbahn in Gates‘ Händen zu einer riesigen analogen Uhr verwandelt hat, auf deren Zifferblatt die Kugeln nun umherrennen – was mich schlagartig an meinen Termin erinnert …

Ich schlage langsam die Augen auf. Warum ist es draußen dunkel? Vom Bildschirm leuchtet es mir entgegen: „Bitte starten Sie den Computer neu.“ Mühsam hieve ich die Hand auf die Tischplatte und lasse sie auf die Enter-Taste fallen. Der Bildschirm wird schwarz, anschließend fährt das System wieder hoch.
„Einen Moment bitte!“
Dann erscheinen sechs Kugeln, die im Kreis herum laufen.

Wenn ich Zeit habe

Wenn ich Zeit habe …

  1. bleibe ich stocksteif auf der Rolltreppe stehen
  2. entdecke ich den kleinen schmiedeeisernen Balkon hoch oben an der Hausfassade
  3. sehe ich, dass es dem Kollegen schon seit Wochen nicht gut geht
  4. beobachte ich das Zuckerhäufchen, wie es vom Kaffeetassenstrudel verschlungen wird
  5. frage ich mich, wer die tausend verschiedenen Gewürze im Markt kauft
  6. lausche ich der Stille, bis mir die Ohren summen
  7. verlasse ich als Letzter das Theater
  8. lese ich alle Todesanzeigen in der Zeitung
  9. hocke ich vor dem Ofen, bis die dicksten Scheite in Flammen stehen
  10. fahre ich über einen Umweg nach Hause
  11. lese ich die mehrsprachigen Zubereitungshinweise auf Lebensmittelverpackungen
  12. probiere ich einen neuen Desktophintergrund für meinen Bildschirm aus
  13. wasche ich den Backofen aus
  14. klebe ich die letzten drei Jahre Familienfotos ins Album
  15. kaue ich das Brot, bis es süß schmeckt
  16. verabschiede ich abends die Sonne, bis das letzte Stück von ihr verschwunden ist
  17. sitze ich im Café und schaue, was um mich herum passiert
  18. suche ich nach Flügen, die ich nie buchen werde
  19. verfasse ich von Hand einen Brief (was ich fast nicht mehr schaffe)
  20. kommt mir die Idee, über das Zeithaben zu schreiben

Was tue ich eigentlich, wenn ich keine Zeit habe?

Helden

Sie gehen ohne einen anderen Menschen an ihrer Seite durchs Leben. Auch jetzt in Corona-Zeiten.

An langen Wochenenden leisten sie sich selbst Gesellschaft und hören im Herbst dem raschelnden Laub unter ihren Schritten zu. Sie sitzen beim Arzt, einen leeren Stuhl neben sich, und harren ihrer Diagnose. Abends wartet eine leere Wohnung auf sie. Sie zelebrieren dinner for one ohne Butler oder löffeln ihre Suppe während der Sportschau. Sie schaffen es, sich selbst genug zu sein. Sie ermahnen sich selbst, raten sich selbst, trösten sich selbst.

Sie sind für mich die wahren Helden.

Sie gehen mit einem anderen Menschen an ihrer Seite durchs Leben. Auch jetzt in Corona-Zeiten.

Sie hören sich zum hundertsten Mal dieselbe Geschichte an. Sie zählen schöne Stunden dreifach und lassen miese Tage unter den Tisch fallen. Sie sind für den anderen da, ohne sich selbst aus den Augen zu verlieren. Sie ertragen das Unerträgliche und hoffen selbst dann, wenn Freunde ihnen längst abgeraten haben. Sie schaffen es, den anderen nach 30 Jahren noch positiv zu überraschen. Sie können Falten und Speckrolle aushalten, die Zipperlein des Alters und die zunehmende Dünnhäutigkeit.

Sie sind für mich die wahren Helden.

Traumfrau

Als ich jung war, in den 60ern und 70ern des letzten Jahrtausends, herrschten noch strenge Sitten. Manches lag schlichtweg außerhalb des Vorstellbaren – wohlgemerkt nicht außerhalb des Vorstellbaren meiner Generation, sondern der vorherigen. Wozu gemeinsames Übernachten zweier Unverheirateter unter einem Dach zählte. Vermutlich wirkte noch der sogenannte Kuppelparagraph nach, der erst 1973 (gegen die Stimmen der CDU-/CSU-Opposition) offiziell beerdigt wurde und meinen Kindern ungläubiges Staunen abnötigte: Eltern, die Minderjährige beieinander schliefen ließen, konnten strafrechtlich belangt werden?! Fake! Von wegen … es war eines jener Relikte, die erst spät zu Grabe getragen wurden, wie z.B. auch § 175 StGB (sogar erst 1994!).

So war es zwar höchst unerfreulich, aber nicht zu ändern, dass eine gemeinsame Nacht reines Wunschdenken bleiben musste, als mich meine Freundin von weither besuchen kam. Während sie in meinem Zimmer schlief, diente mir ein Truhenbett für zwei Personen im Keller als Liegestatt, das ich mir mit dem Freund meiner Schwester zu teilen hatte, der ebenfalls zu Besuch weilte.

In dieser Nacht träumte ich mich mit meiner Freundin zusammen im Bett. Sie lag neben mir, und ich fuhr mit den Fingern durch ihre Löwenmähne. Nur fühlten sich ihre Haare diesmal irgendwie anders an als sonst. Robuster. Widerspenstiger. Lockig zwar, doch erheblich kürzer.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag meine ‚Traumfrau‘ neben mir – mit kurzen, drahtigen Locken …

Missverständnis

Der Mann tritt aus dem Schatten des Baumes und will gerade in den Apfel beißen, den er gepflückt hat, da sieht er auf dem Feldweg eine schmächtige Gestalt, die Hände an einen Rollator geklammert. Mühsam schiebt die alte Frau die Gehhilfe an den Rand des Feldwegs und lässt sich schwer atmend auf der Querstange nieder. Sie macht einen abgezehrten und erschöpften Eindruck. Dann sieht sie den Mann. Ihm fällt der sehnsüchtige Blick auf, den sie auf seinen Apfel wirft. Er lässt den Arm sinken und geht auf sie zu: „Darf ich Ihnen den anbieten?“

Er hat ihr den Apfel entgegenstreckt. Sie schnauft noch immer schwer, aber winkt ab. „Das ist sehr freundlich von Ihnen“, sagt sie und holt wieder Luft, „aber ich glaube, Sie haben ihn nötiger als ich.“ Sie lässt ihren Blick über die Obstbäume streifen. „Ich bin die Besitzerin dieses Grundstücks.“

Fast erschrocken zieht der Mann den Apfel zurück. Er schultert seinen Rucksack, der zu schwer über seiner Schulter hängt. Dann nickt er der Frau zu und geht auf dem Feldweg davon, den Apfel kauend. Er hat noch keinen Schlafplatz für die Nacht.

Vergessene Gipfel

Schon mal was von Ignaz Holzbauer gehört? Nein? Dabei war er ein bedeutender Komponist des 18. Jahrhunderts. Aber keine Sorge, ich kannte ihn auch nicht. So wie viele andere bedeutende Musiker. Künstler. Menschen.

Holzbauer, ein Österreicher und zuletzt kurfürstlicher Kapellmeister in Mannheim, komponierte mehr als 200 (!) Sinfonien, 18 Streichquartette, 13 Konzerte für verschiedene Instrumente, mehrere Oratorien, 26 Messen, 37 Kantaten sowie 15 italienische Opern. Und, bitteschön: keinen Schund! Qualitativ hochwertige Musik, so dass sich der junge Mozart wunderte, wieviel Feuer noch in der Musik des alten Mannes stecke. (Woher diese Infos stammen? Woher wohl … von wiki; aber gestoßen wurde ich auf Holzbauer durch eine SWR2-Sendung)

Was für ein Universum an Begabungen und Leistungen um uns herum – ohne dass wir etwas davon mitbekommen! Vor uns und neben uns. Ein Reichtum an Kreativität, an Leben – schier nicht auszuhalten, dass es so vieles gibt, was wir nie mitbekommen, nie genießen, nie schätzen werden – weil es schlicht mehr ist, als menschliche Auffassungsgabe jemals bewältigen kann.

August Halm? Auch Fehlanzeige? Musiker, Musikpädagoge, Theologe, Maler im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Dass er selten gespielt wird, sollte nicht zu falschen Rückschlüssen verleiten. Schon nach den ersten Takten lässt mich seine Musik aufhorchen: Das ist hochkarätig, auch wenn er nicht an sein großes Vorbild Bruckner heranreicht.

Es ist wie im Gebirge. In der Regel kennen wir nur die höchsten Gipfel. Dabei stehen so viele Berge herum, und die Gipfel der höchsten wachsen oft aus den Schultern der niedrigeren heraus. Nein, ich verspüre keinen Druck, mir von nun an die Namen aller Berge zu merken oder mir alle 200 Sinfonien Holzbauers vorzunehmen. Ich verspüre nur die Nötigung zu staunen. Was ich hiermit tue.

Wahrnehmung

Die beste Ehefrau von allen fährt gut und sicher Auto. Vor allem schnell. Ich habe vollstes Vertrauen in ihre Fahrkünste und kann auf dem Beifahrersitz sogar schlafen. Bis auf die letzten 400 Meter.

Es ist dunkel, wir biegen in unser Wohngebiet ein. Zone 30. Und sie rauscht mit 50 Sachen durch. Verstehe ich, wenn man direkt von der Autobahn kommt. Aber hier leben Katzen (wir hatten auch mal eine) und Kinder (haben wir noch, die fahren selbst Auto und könnten uns möglicherweise entgegenkommen). Der Wagen schießt über die Buckelpiste – die Stadt ist chronisch pleite und lässt Krater erst ab 30 cm Tiefe auffüllen. Mir bricht der Schweiß aus. Ich setze vorsichtig an: „Ich glaube, du bist ein bisschen zu schnell unterwegs.“ Kein Kommentar. Der Wagen hoppelt weiter und nimmt schwungvoll die Abzweigung. Meine Hand umklammert den Haltegriff. In hohem Tempo geht es den Buckel hinauf, von rechts mündet eine kleine Seitenstraße ein. „Pass auf, hier kommt manchmal einer!“ Eisiges Schweigen, während wir den Berg hinauffliegen. Gott sei Dank kommt niemand! Ich schiele auf den Tacho. 42 km/h!

Am nächsten Tag bin ich allein mit dem Auto unterwegs. Gemächlich biege ich ins Wohngebiet ein und lasse den Wagen mit viel Gefühl über die Unebenheiten rollen. Männer sind einfach die besseren Autofahrer, da können mir Frauen viel erzählen. Ein umsichtiger Blick nach rechts und zur Sicherheit auch nach links, bevor ich abbiege. Ich beschleunige moderat und lenke die letzte Rampe hinauf. Satt liegt der Wagen auf der Straße, gleitet ruhig den Berg hinauf. Schade, dass meine Frau nicht neben mir sitzt und sieht, wie es auch geht. Vor der kleinen Seitenstraße nehme ich Gas weg. Ich schaue nach rechts – niemand kommt. Ich kann nichts machen, ich war einfach schon immer ein verantwortungsbewusster Autofahrer. Als ich den Kopf zurückdrehe, bleibt mein Blick am Tacho hängen: 46 km/h.

Parabel nach unten geöffnet

Ganz klein fängst du an. Wirst gewaschen, gewickelt, angezogen, gefüttert. Machst deine ersten Schritte. Wächst. Wirst geformt und geprägt. Eroberst täglich neues Terrain dazu. Wirst, was du sein willst oder sein musst. Streckst dich aus. Findest deinen Platz. Gestaltest mit. Triffst Entscheidungen. Breitest dich mehr und mehr aus. Formst und prägst selbst. Machst. Tust. Gibst anderen die Richtung vor. Bestimmst künftige Entwicklungen und stellst die Weichen für die nächste Generation. Füllst dein Universum. Wirst trunken von dir selbst. Trittst einen Schritt zurück. Machst Platz und lässt anderen Raum. Triffst die weisesten Entscheidungen deines Lebens. Begleitest andere und hilfst ihnen, ihr Potenzial auszubauen. Verringerst das Tempo deiner Schritte. Schaust dankbar zurück. Wirst demütig. Trennst dich von manchem. Nimmst eine helfende Hand an. Wirst geschätzt als Zuhörer. Ziehst den Radius immer enger. Verlierst deine Gedanken. Wirst gewaschen, gewickelt, angezogen, gefüttert. Ganz klein hörst du auf.

(Ab hier taugt die mathematische Metapher nicht mehr)

Bist nichts mehr. Und deshalb alles.

Als Luther den Bismarckhering stahl

Am letzten Ferientag im Norden findet die beste Ehefrau von allen heraus: Der Bismarckhering stammt aus Stralsund. Ein dort ansässiger Fischhändler soll 1871 dem Reichskanzler Otto von Bismarck ein Fässchen mit sauer eingelegten Heringsfilets gesandt haben. Daraufhin habe dieser ihm das Privileg erteilt, dem nach dieser Rezeptur behandelten Hering seinen Namen zu geben.

Wir waren drei Tage in Stralsund und haben Scholle, Dorsch und aus der Hand Backfisch gegessen. Außerdem Labskaus, den ich aus Kindertagen noch von einer LP über „Die Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson im Ohr hatte. Nur keinen Bismarckhering. Ein absolutes No Go.

Leider ist die Zeit schon vorgerückt – die Fischkutter am Hafen haben längst Feierabend und die Planen vorgezogen. Bleibt also nur noch der Weg zum Bahnhof am nächsten Morgen. Sind wir nicht tags zuvor in der Altstadt an einem Fischgeschäft vorbeigekommen? Wir sind. Ein Leichtes für den inzwischen ortskundigen Ehemann, den Weg zu rekonstruieren. Eine kleine Schleife auf dem Weg zum Zug, und wir kriegen ihn – den Bismarckhering.

In freudiger Erwartung brechen wir am Morgen auf. Zuvor haben wir das Internet befragt: Wann öffnet das Geschäft? Alles im grünen Bereich, wir werden nicht vor verschlossenen Türen stehen. Ein letztes Mal quälen sich unsere Koffer über das holprige Kopfsteinpflaster der Altstadt. Nach diesem Urlaub sind die Rollen hinüber.

Hier müssen wir rechts abbiegen in die Fußgängerzone Richtung Alter Markt. Und dann die … warte mal, ich glaube, es ist die zweite links …. ja, genau hier, links ab in dieses Sträßchen. Hier waren wir gestern, und da vorn auf der linken Seite liegt der Fischladen. Wir sind prima in der Zeit, könnten gut und gerne noch drei Bismarckheringe essen bis zur Abfahrt des Zuges.

Für mich ist es zugegeben noch etwas früh für Fisch, ich hoffe, das gute Stück kann eingepackt werden. Ein kleiner Imbiss im Zug, während draußen die norddeutsche Landschaft vorbeigleitet – vielleicht verschafft uns der Bismarckhering ja sogar ein paar freie Plätze um uns herum? Ich stehe vor der Tür des Fischgeschäfts und drücke fröhlich die Klinke. Was soll das?! Zu! Sind wir doch zu früh? Haben wir die Umstellung auf die Winterzeit verpasst? Oder der Fischverkäufer? Ich stehe am Schaufenster und blinzle hinein. Drinnen ist alles dunkel. Die Verkaufstheke ein gähnendes, schwarzes Loch.

Es ist ein stinknormaler Samstagmorgen Ende Oktober, und auf der Eingangstür steht schwarz auf weiß: ab 9 Uhr geöffnet. Jetzt ist 10.30 Uhr. Die beste Ehefrau von allen ist in den Stimmungskeller gefallen und macht mit ihren Mundwinkeln Angie Konkurrenz.

Ratlos drehe ich mich um. Auf der anderen Straßenseite winkt uns eine Frau. „Heute ist zu!“, ruft sie herüber. „Reformationstag!“
Mann, Martin!!!

Das Netz (1)

Laut einem landläufigen Vorurteil trägt das Internet zur Anonymität bei. Menschen kommunizieren virtuell, statt sich in die Augen zu sehen und sich leibhaftig zu begegnen. Da ist schon was dran, denn wie soll ich herausfinden, ob ich jemanden riechen kann, wenn ich ihn nicht riechen kann?

Leider hat mein Drucker den Geist aufgegeben. Der Techniker hat ihn für nicht mehr reparabel erklärt. Ich schmeiße äußerst ungern Dinge weg, die zu 99% noch funktionsfähig sind – würde ich mein Auto verschrotten lassen, nur weil das Radio nicht mehr tut? Allerdings fährt mein Auto auch ohne Radio, während mein Drucker nun mal eben nicht mehr das tut, was seine Bestimmung ist: drucken. Also muss ein neuer her, den alten bringe ich auf die Deponie. Ich trage ihn zum Container und setze ihn hinein. Schaue ihn nochmal an. Ein schönes Gerät, sieht noch top aus – schade. Ich fahre wieder nach Hause. Im Kofferraum der Drucker. Wenn er sowieso nicht mehr tut, kann ich auch einen letzten Versuch starten und ihn auseinanderbauen – schlimmer kann es nicht werden.

Daheim will ich ans Innenleben gehen. Nach meiner Vermutung ist ein Blatt Papier beim Druckvorgang zusammengeknüllt worden und blockiert das ganze System. Nur, wie soll ich das Ding öffnen? Ich bin kein Schrauber und in der Bedienungsanleitung steht dazu nichts. Fast bin ich versucht aufzugeben, bevor ich noch richtig begonnen habe, da fällt mir Tante Google ein. Und richtig, nach einigem Suchen lande ich bei einem Youtube-Video, das ein paar polnische Freaks zeigt, wie sie Schritt für Schritt mein Gerät auseinanderbauen. Dass ich ihre Kommentare nicht verstehe – geschenkt, denn die Grafiken in Verbindung mit dem Video geben mir die nötigen Informationen, so dass ich nach und nach zum Herz meines Druckers vordringe. Wo – wer hätte es gedacht – ein zerknülltes Blatt Papier auf mich wartet. Mit zwei Fingern ziehe ich den Fremdkörper easy heraus, und der Drucker läuft, als habe er nie etwas anderes getan.

O ihr polnischen Brüder, lasst euch umarmen für euer Video! Wertvoller als die gesamte Ostpolitik Willy Brandts!

Rückkehr aus dem Apfel-Land

Ich orientiere mich um. So alt bin ich schließlich noch nicht. Ja, ich nehme die Herausforderung an, verstehe sie als Gelegenheit, geistig fit zu bleiben. Außerdem sind die Apfel-Geräte ja so intuitiv. Selbsterklärend. Smart. Viel besser als die Fenster-Maschinen, die es an Innovation fehlen lassen.

Naja, vielleicht merkt man doch die Jahre? Ganz so selbsterklärend ist das Gerät jedenfalls nicht. Alles, was mir bisher schnell von der Hand ging, ist plötzlich viel umständlicher und dauert wesentlich länger. Und selbsterklärend? Meine Kinder, die ich errötend um Rat frage, sehen mich mitleidig von der Seite an. Der alte Vater und die Technik … Mir schwillt der Kamm, ich spüre den Drang, mich zu rechtfertigen und klarzustellen, dass es nicht an meiner mangelnden Auffassungsgabe liegt … sie nicken freundlich.

Doch so schnell gebe ich nicht auf. Es geht schließlich auch um meine Ehre. Ich knie mich hinein. Klicke mich durch die Menüs, die tausend Schaltflächen bieten, nur nicht für das, was ich suche. Offensichtlich gibt es verschiedene Konzepte von Intuition. Die abendländische Logik, mit der ich groß wurde, kann ich hier jedenfalls nicht verorten. Umständlich statt klar: Knappe Befehle werden zu langen Zeilen aufgebläht, wo das Wichtigste am Schluss statt am Anfang steht. Langsam beginnt mich zu interessieren, wie die das als Fortschritt verkauft haben. Eines muss man den Apfel-Leuten lassen: gute PR-Arbeit!

Seit längerem bin ich nun schon Dauergast auf diversen Internetforen, die Hilfe anbieten. Ich folge den didaktisch vorzüglich aufbereiteten Schritten, um beim letzten festzustellen, dass mein Menü die angezeigten Auswahlmöglichkeiten nicht anbietet. Wenigstens profitiere ich von der therapeutischen Nebenwirkung: Es gibt offenbar auch andere, die sich an diesen Äpfeln verschlucken.

Inzwischen bekomme ich öfter Emails, denen die Anhänge fehlen. Passiert mir beim Versenden bisweilen auch. Aber so viele vergessliche Zeitgenossen? Habe ich etwas übersehen? Nein, da ist keine pdf, nur eine Datei ominösen Formats. Auf den Foren werde ich mit einem warmen Willkommen empfangen, und bereits nach wenigen Stunden Recherche ist klar: genau diese Datei ist es. Sie muss nur noch mittels eines speziellen Programms umformatiert und abgespeichert werden, schon kann ich sie öffnen. In diesem Moment höre ich eine lange unterdrückte Stimme zu mir sprechen und löse intuitiv die Rückfahrkarte aus dem Apfel-Land. Wie ein verlorener Sohn kehre ich zurück zu meinen Fenstern, öffne sie und lasse die Sonne herein. Die Äpfel wären bei mir nicht reif geworden, sie sind mir definitiv zu sauer.

Das Buch, das leer blieb

Mit einem vollkommenen Stück wollte er anfangen. Deshalb blieb das Buch immer leer.

Jedes Mal, wenn er sich dazu durchgerungen hatte, die ersten Noten auf die Linien zu bringen, fiel sein Blick auf den meisterlich gearbeiteten Rücken und strichen seine Finger über den perlmuttfarbenen Notenschlüssel, der sich wie eine Einlegearbeit vom blauen Einband abhob. Und er klappte die Seiten, deren leere Notensysteme auf Hälse und Köpfe warteten wie frischgebaute Blocks auf ihre ersten Bewohner, wieder zu.

Als die Kinder seinen Nachlass durchsahen, fiel ihnen auch das Notenbuch in die Hände. Sie öffneten es, und es war noch immer unberührt. Aber aus den leeren Zeilen heraus flatterten ihnen all die Lieder und Melodien entgegen, die sie von ihrem Vater gehört hatten.

Im alten System

Die Angestellte, die seit mehreren Minuten erfolglos im Computer nach meinem Auftrag sucht, der sechs Jahre zurückliegt, sieht mich ratlos an. „Guck mal ins alte System!“ Der rettende Tipp ihrer Kollegin erwischt mich auf dem falschen Fuß. Genau dahin, ins alte System, gehöre ich inzwischen wohl auch, selbst wenn nur die Vorgängersoftware gemeint war.

Es gibt bestimmte Zäsuren, die für mich darüber entscheiden, wer ins alte System gehört und wer nicht. Hast du die Olympiade 1972 in München mitbekommen? Hast du deine Texte jemals auf einer mechanischen Schreibmaschine getippt? Hast du bis vor kurzem noch Euro in D-Mark umgerechnet? Dann willkommen im alten System!

Schnell assoziieren wir dazu die üblichen Romantizismen, was WIR in den 1960ern und 1970ern alles durften, ohne reglementiert und beaufsichtigt zu werden – die einschlägigen verklärenden Texte erinnern uns daran: Drei-Punkt-Sicherheitsgurte, Kopfstützen oder gar Airbags – was, bitte, soll das sein? Wir kletterten einfach auf die Rücksitzbank und hingen dort herum, wie wir wollten. – Wie reizend sentimental! Aber die Unfallstatistik sah dafür auch anders aus als heute…

Und dann gibt es noch die objektive Zäsur, die meine Generation von der nächsten scheidet: “Ihr seid ein anderes Jahrtausend!”,  pflegten unsere Kinder in ihrer zurückhaltenden Art die Eltern daran zu erinnern, an welchen Platz sie gehörten.

Die Angestellte hat meinen Auftrag inzwischen gefunden. Alte Systeme, so tröste ich mich als einer, der den Siegeszug des Personalcomputers miterlebt hat (angefangen bei meinem 286er mit 16 MHz Taktfrequenz und 20 MB Festplatte), sind ausgereift, sie laufen rund und zuverlässig. Außerdem verbrauchen sie oft weniger Energie als die neuen. Und das hört sich schon wieder erstaunlich zukunftsfähig an. Guck mal ins alte System!

Stilles Drama

Die kristalline Substanz legt sich kreisförmig als weiße Schicht auf die Oberfläche. Dann beginnt sie sich vom Rand her bräunlich zu verfärben. Die Verfärbung wandert nach innen, bis sie den Mittelpunkt erreicht hat, der in diesem Moment wegsackt. Der Sog darunter hat einen Krater eröffnet, der die braune Scheibe in einer kreisförmigen Bewegung in die Tiefe zieht. Im Nu hat sie das Schwarze Loch verschluckt und der Schlund schließt sich wieder. Schaum kräuselt sich unschuldig darüber.

Manchmal nehme ich Zucker zum Cappuccino.

Wonach ich auf der Speisekarte zuerst schauen kann

Nach dem Preis
Nach vegetarischen Gerichten
Nach veganen Gerichten
Nach Rechtschreibfehlern
Nach kritischen Inhaltsstoffen
Nach der Schrifttype
Nach dem Design
Nach der Papiersorte
Nach Flecken

Nach dem, was mir schmeckt

Außenspiegel

Ihren langen Zopf sehe ich als erstes. Goldblond leuchtet er aus ihrem linken Außenspiegel. Direkt vor mir hat sie sich am Autobahnkreuz auf den letzten Drücker in die Abbiegerspur gezwängt. Im Schritttempo lerne ich sie kennen. Ein Ohrring blitzt – sicher ein Diamant, standesgemäß zu ihrem Porsche. Elegante Linien und ansprechende Kurven. Das Auto – ihre gibt mir der Außenspiegel nicht preis. Medizinerin auf der Fahrt zu einem Kongress (laut Nummernschild kommt sie aus dem benachbarten Bundesland)? Anwältin in einer dieser edlen Kanzleien, wo du mehr Geld verdienst, als du ausgeben kannst, weil du (a) bei 80 Stunden Wochenarbeitszeit gar keine Gelegenheit dazu hast  und (b) du vor dem Ruhestand durch (b1) Herzinfarkt, (b2) Schlaganfall oder (b3) Suizid hinweggerafft wirst? Oder eine BWL‘lerin aus dem mittleren Chemie-Management?
Wir fahren im Kreis auf die andere Autobahn. Auch meine Gedanken kreisen. Leider sehe ich zu wenig von ihrem Gesicht. Helle Haut, aber weit entfernt von blass, das Gesicht nicht zu fein ziseliert, will mir scheinen. Ich mag markante Linien. Die echten Schönheiten. Sie verstecken das Leben nicht, das hinter ihnen liegt. Auch Schweres hat dazugehört. Einzigartige Frauen, in jeder Hinsicht. Die Unbekannte wächst mir immer mehr ans Herz.

Schade, dass sie jetzt keine Panne hat. Ich wäre sofort zur Stelle. 

Wir fädeln ein. Gleich ist sie weg mit ihrer Rakete. Doch zum Glück sind wir in einer Baustelle. Ich wechsle flink die Spur und überhole sie gemächlich.

Ein Blick zur Seite.

Ich war schon immer hetero.

Gerüche (4)

Wir standen im Garten und sahen uns um. Die Besichtigung mit der kleinen Delegation, die uns an diesem trüben Samstagmorgen herumgeführt hatte, war äußerst zufriedenstellend verlaufen. Der Dienstsitz, ein zweihundertfünfzig Jahre altes Gebäude, doch in höchst erfreulichem Zustand, böte unserer vierköpfigen Familie ausreichend Platz.

Das Außengelände, natürlich würden sie uns das auch gerne zeigen, sei es doch gerade für Kinder auf’s Beste geeignet. Ich sah, wo die Schaukel stehen würde (die es noch nicht gab), und in der Ecke würden wir uns einen Sitzplatz anlegen. Meine Frau und ich lachten uns an, sogen fröhlich die gute Landluft ein und stutzten. Litt einer unserer Führer an Blähungen? Nein, der üble Schwaden, der uns unvermittelt einhüllte, kam von jenseits der Bruchsteinmauer, die den Garten begrenzte. Einer der Herren musste unsere angewiderten Mienen bemerkt haben: Der Nachbar habe einen Schweinestall. Aber, so suchte man uns zu beschwichtigen, keine Sorge, das gehe sicher nicht mehr lange, der Bauer sei schon in vorgerücktem Alter. Und außerdem sei das nur bei einer bestimmten Wetterlage so. Die wir heute dummerweise erwischt hatten. Sie sahen unsere Unsicherheit. Wir sollten in Ruhe nachdenken.

Schweigend fuhren wir zurück. „Ist das die Schlange im Paradies?“ Meine Frau sagte es mehr zu sich selbst als zu mir. „Es wird nicht ewig so bleiben“, wandte ich ein. „Warten auf die biologische Lösung, ist es das, was du meinst?“ Sie hatte die Schuhe ausgezogen, zog ein Bein an den Körper. „Ich weiß nicht, ob ich das will.“ Schaukel und Sitzplatz lösten sich in Luft auf. „Sie kommen uns entgegen, wo es nur geht.“ „Sie kaute am Ärmel ihres Pullis. Ich schob meine Hand zu ihr hinüber und legte sie auf ihren Bauch. „Sie bauen sogar das Dach aus, falls es noch eine Nummer drei gibt. Und einen Abschluss zwischen Dienst- und Privaträumen wollen sie auch einziehen.“ Sie lächelte gequält. Ich schoss mein stärkstes Argument ab: „Es ist nur eine halbe Stunde bis zu deinen Eltern.“ Drei Monate später zogen wir ein.

Unter den unangenehmen, von Tieren abgesonderten Gerüchen rangiert der Gestank von Schweinen an zweiter Stelle hinter dem von Hühnermist. Finde ich. Aber das ist Geschmackssache … im wahrsten Sinne des Wortes.

Dass wir uns im Laufe der Zeit daran gewöhnt hätten, wäre übertrieben. Tatsächlich waberten die Schwaden nur bei Inversionswetterlage zu uns herüber, die ärgsten nur bis zu einer bestimmten Stelle im Garten – der Todeszone.

Es war der Mix von Gerüchen, wie sie auf dem Land vorkommen, der uns allmählich vertraut wurde und dessen Fehlen wir erst bemerkten, wenn wir eine Weile weg gewesen waren. Wenn wir nachts vom Sommerurlaub zurückkamen und ich ausstieg, um das zweiflüglige Hoftor zu öffnen, ertönte ein kollektives „Ah!“ aus dem Auto (sofern nicht alle schliefen): „Ah, die gute Landluft hat uns wieder. Wir sind daheim.“ Halb dankbar, halb mit Galgenhumor. Über uns wölbte sich der Sternenhimmel.

Die Zeit verging. Unser drittes Kind wurde geboren, das Dachgeschoß ausgebaut. Die Kinder spielten mit dem Nachwuchs des Bauernsohnes, der eine Vollzeitanstellung in einer Metallfirma hatte. Drei Hasen zogen in einen Stall unter unserem Carport ein, später adoptierte uns eine Katze aus der Nachbarschaft. Die Kinder kamen in den Kindergarten und in die Schule. Der Bauer überschrieb seinen Hof an den ältesten Sohn, der nun nebenberuflich in die Landwirtschaft einstieg. Schon lang saßen unsere Kinder zum Spielen nicht mehr auf den Weizenbergen, die während der Ernte über der Gasse aufgekippt wurden. Dann hatte das erste auf einmal sein Abi in der Tasche und verabschiedete sich ins Ausland. Die Schweinepreise fielen auf einen historischen Tiefstand.

Wehmütig dachten wir an die glücklichen Momente zurück, als unsere Kinder nach einem Ausflug auf den benachbarten Hof ihre Kleider gleich hinter der Haustür ablegten wie Häftlinge bei der Aufnahme. Nackt ging es von dort schnurstracks in die Badewanne. Strahlend saßen sie im Schaum, ohne unsere verzerrten Mienen zu bemerken. Ihre Haarschöpfe, die stanken wie die Sau, konnten sie nicht ablegen.

Nicht lange bevor der LKW mit Hänger vorfuhr, um unsere tausend Umzugskartons einzuladen, legte der Nachbar den ersten Koben still. Bald danach holte der Viehtransporter die letzten Schweine ab.

Wir waren 16 Jahre geblieben.

Sie ist es

Sie war anders.

Ein flüchtiger Eindruck, im Bruchteil einer Sekunde gewonnen. In rasendem Tempo hatte sein Gehirn die eingehenden Sinneswahrnehmungen verarbeitet und sie mit Tausenden von abgespeicherten Eindrücken abgeglichen.
Ja, das war sie, die Eine. Wie ein Engel stand sie da, ihm mit ihrem wachsweißen Gesicht zugewandt.

So viele schon hatte er gesehen, als er aus dem Dunkel kam. Einige Male, er erinnerte sich genau, hatte er schon geglaubt, sie sei es. Aber er hatte sich noch jedes Mal getäuscht. Kein Wunder, wer vermochte schon innerhalb einer Sekunde zu einer verlässlichen Einschätzung zu kommen.

Aber er hatte dazugelernt. So leicht wie am Anfang war er nicht mehr zu täuschen. Es musste schon einiges zusammenkommen, bis er überzeugt war: Sie ist es.
Jetzt war der Moment gekommen.

Die Frau kam ihm entgegen und sah ihm nun direkt in die Augen. Und wenn er bis dahin noch einen Zweifel gehegt haben sollte: jetzt wusste er, dass sie es war. Er las es in ihrem Blick.

Oft hatte er sich überlegt, wie es wohl sein würde, wenn er sie träfe. Wie lange es dauern würde, bis er wusste, dass sie es war.
Man konnte diese Situation nicht simulieren. Oder wenn man sie simulierte, konnte man nie sicher sein, ob es im Ernstfall dann wirklich so eintreffen würde.
Es war immerhin die erste Begegnung mit einem bis dahin wildfremden Menschen. Und er hatte beim besten Willen keine Ahnung, wie er reagieren würde.

Sie flog auf ihn zu.

Seine Gedanken rasten fieberhaft: Wie sollte er sich verhalten? Was tun?
Die Zeit scheint sich in einem solchen Moment zu einer Ewigkeit zu dehnen, dabei dauert es nur einen Augen-blick lang. Und obwohl in unserem Gehirn im Bruchteil einer Sekunde unzählige Szenarien aufploppen, wird keiner dieser Gedanken Tat. Es ist keine Zeit dazu.

Wind fuhr unter ihren Mantel und blähte ihn auf. Ihr Engelshaar, das zuvor streng nach unten fiel, flog davon.

Warum hatte sie ihn ausgewählt? War an ihm etwas Besonderes? Er selbst hätte sich als durchschnittlich in jeder Hinsicht bezeichnet. Oder lag es gar nicht an ihm, sondern an den Umständen? Eine Verkettung verschiedener Faktoren, die dazu geführt hatte, dass sie nun hier auf ihn wartete?

Sie streckte die Arme nach ihm aus und machte einen Schritt auf ihn zu.

Einen Moment später war sie unter ihm.

Selbst wenn es ihm gelungen wäre, die Notbremsung schneller einzuleiten: Er hätte den Engel nicht davon abhalten können, sich in den Abgrund zu stürzen.

Gerüche (3)

Ich komme aus der Dusche, rubble mir das Gesicht mit dem großen weißen Badetuch und stehe in der Abfüllhalle von Coca-Cola in der Münchner Steinstraße, unweit vom Rosenheimer Platz. Hier drinnen herrscht tropisches Klima, die raumhohen Fensterflächen zur Straße hin sind bis obenhin angelaufen. Unter infernalischem Lärm schieben sich aneinander reibende Glasflaschen auf Bändern voran, die Arbeiterinnen haben sich vorschriftsgemäß Watte in die Ohren gestopft. Süßlich-metallischer Geruch hängt in der Luft. Die Befüllungsmaschine dreht sich nicht mehr, und mit einem Mal staut sich alles davor: an der Station, wo ein Lichtstrahl prüft, ob die Flasche  leer ist, bewegt sich nichts mehr; am beleuchteten Schirm, vor dem die Flaschen vorübereilen und die Wächterin, die heute ihre Goldkette angelegt hat, blitzschnell erkennen muss, ob der Glasrand an der Öffnung vielleicht abgesplittert ist, Ruhe. Auch die Waschmaschine, in die verschmutzte Flaschen wie Soldaten in Exerzierreihen einlaufen (manche strecken Strohhalme in allerlei Farben wie bunte Spieße in die Luft), spuckt keine gespülten Exemplare mehr aus. Selbst die Staplerfahrer, die immer neuen Nachschub auf Paletten herbeischaffen, hocken breitbeinig auf ihren Karren und paffen.

Mit ausladenden Schritten eilt der Produktionsleiter, ein rotgesichtiges Männchen, herbei, die Schöße seines weißen Kittels fliegen trotz der Luftfeuchtigkeit. Seine pockennarbige Nase beginnt zu glühen, als er hektisch an der Maschine hantiert. Auch dahinter steht das Band inzwischen still. Nur noch das vereinzelte Zischen der Befüller im Probelauf ist zu hören. Nach einigen Minuten ertönt ein durchdringender Signalton, und die Soldaten marschieren mit ihrem ohrenbetäubenden Geklirr wieder ins Feld hinaus …

Ungläubig betrachte ich das Badetuch in meinen Händen: Was haben die in dieser Pension bloß im Weichspüler, dass ich um 40 Jahre an den Ort zurückversetzt werde, wo ich in den Schulferien meine Einkünfte aufgebessert habe?

Der Sinn des Lebens

Es gibt viele Menschen, deren Leben ein einziger Kampf um’s Überleben ist. Von früh bis spät sind sie nur damit beschäftigt, ihre Existenz zu sichern. Wer um’s Überleben kämpft, hat den Sinn des Lebens schon gefunden: überleben.

Wer sich hingegen in der privilegierten Situation befindet, dass sein tägliches Brot sicher ist, er seine Meinung frei sagen kann und ihm keine schwere Krankheit im Pelz sitzt, hat die Suche nach dem Sinn noch vor sich. Vielleicht findet er sie in der Liebe zu Partner und/oder Kindern, in der Arbeit, in einem Hobby, in der Religion oder einfach im Genuss.

Doch wäre es zu simpel, eine Gruppe gegen die andere auszuspielen: Auch wer ständig um sein Dasein kämpft, stellt die Frage nach dem Sinn, und sei es, dass er fragt, warum das Leben ein einziger Kampf ist.
Der Mensch, dessen Überleben gesichert ist, hat es leichter und schwerer zugleich. Leichter, weil Plackerei und Sorgen wegfallen. Schwerer, weil er selber einen Sinn konstruieren muss.

Nach dem Sinn fragen zu dürfen macht den Glanz, nach ihm fragen zu müssen das Elend menschlichen Lebens aus. Ist doch der Sinn des Lebens nicht evident noch lässt er sich für ein ganzes Leben im Voraus festlegen. Obwohl es manchen anscheinend (oder scheinbar?) gelingt: Ihr Leben wirkt wie ein einziger, großer Bogen, vom Anfang bis zum Ende konsequent mit einem Strich durchgezogen, ohne abzusetzen, ohne zu zittern. Beeindruckend, ohne Frage, erst recht, wenn ein opus magnum dabei wächst. Gleichzeitig hinterlässt ein solches Leben bei mir auch noch einen anderen Eindruck: Hat er nie gezweifelt an der eingeschlagenen Richtung? Kam sie nie in die Situation, alles über den Haufen werfen zu müssen, woran sie glaubte? Ging das Schiff nie unter, auf dem dieser Mensch unterwegs war, fand er sich niemals in ein aufgewühltes Meer geworfen, wo er sich einzig an die Planke der Hoffnung klammern konnte?

Manche verwechseln die Aufgabe der Sinnfindung damit, sich eine Existenzberechtigung für ihr Dasein zu verschaffen, die außerhalb ihrer selbst liegt, z.B. indem sie durch ihr Tun für andere wichtig werden. Für andere sinnvoll zu sein ist dann ihr Sinn.
Auch dabei geschieht oft Bewundernswertes. Und doch: Werden andere bei allem Altruismus letzten Endes nicht instrumentalisiert, werden Erfüllungsgehilfen der eigenen Sinnsuche, zu Kronzeugen ernannt, die nicht im letzten Gericht, sondern vor dem eigenen inneren Gerichtshof aufgerufen werden, wenn es darum geht, dem Leben Sinn beizulegen?

Den Sinn zu finden – das ist die Aufgabe, die uns niemand abnehmen kann: kein Gott, kein Staat, kein Partner.
Es ist eine Frage, die jeder Mensch für sich selbst beantworten muss: Was ist der Sinn meines Lebens?

Aber vielleicht gibt es Vorbilder, von denen wir lernen können: Tiere.
Unsere Katze zum Beispiel. Sie konnte den ganzen Tag faul (das ist menschliche Wertung, in Wirklichkeit müsste es heißen „untätig“, noch besser lassen wir das Adjektiv ganz weg), also: sie lag den ganzen Tag an einem Ort, machte zwischendrin ein paar Schritte, fraß und legte sich in die nächste Ecke. Sie musste definitiv nicht für ihr Dasein rackern, sie hatte alles, was sie brauchte. Sie tat … nichts. Nichts außer da sein. Leben.

Doch würden wir, lernten wir von den Tieren, nicht im selben Moment alles verlieren, was uns überhaupt erst zu Menschen macht, nämlich das Bewusstsein unserer selbst?
Oder müsste der Sündenfall der Menschheitsgeschichte just in dem Augenblick lokalisiert werden, als der Urmensch zum ersten Mal so etwas wie ein Bewusstsein von sich selbst entwickelte? Und sich selbst als virtuelles Gegenüber wahrnahm, gleichsam als physisch-psychisches Hologramm, das er anzuschauen und in der Folgezeit auch mehr und mehr zu sezieren lernte?

Nur: Wir können unser Bewusstsein nicht einfach abgeben und den Sprung zurück in die Steinzeit machen. Die Frage ist, ob wir unser Bewusstsein nicht trotzdem dazu bringen können, dass es zur Ruhe kommt, statt wie ein ausgehungerter Tiger an den Stäben unseres Seelenkäfigs rastlos auf- und abzupatrouillieren. Oder ist es gerade diese Rastlosigkeit, die uns im Innersten lebendig hält und verhindert, dass wir nur existieren?

Zoran bin ich auf einer kleinen dalmatinischen Insel begegnet. Sechs Monate im Jahr verbringt er in einer kleinen Wohnung auf dem Festland, die anderen sechs im Ferienhaus auf der Insel. Seit seine Eltern verstorben sind, kommt er alleine hierher. Die Firma, bei der er beschäftigt war, hat schon vor längerem die Tore geschlossen. Im kommenden Jahr wird er sechzig, ab dann ist er offiziell im Ruhestand. Zoran war nie verheiratet, sein Bruder ist schon in jungen Jahren tödlich verunglückt, es gibt keine direkten Verwandten. Eine angeborene Augenerkrankung begrenzt seinen Radius. Auf der kleinen Insel sind ihm die Wege vertraut.

Was tut Zoran den ganzen Tag? Er hält das Haus in Schuss, kauft ein und er beherbergt weitläufige Verwandte und Bekannte. Schon morgens sitzen Leute aus dem Dorf bei ihm zum türkischen Kaffee oder Schnaps.

Was macht sein Leben aus? Zuverlässige Anlaufstelle für seine Freunde zu sein? Der aufmerksamste Gastgeber, den ich jemals erlebt habe?
Ich habe ihn nicht gefragt, was für ihn der Sinn des Lebens ist. Aber mein Eindruck ist: er hat ihn gefunden. Trotzdem würde mir seine Antwort wahrscheinlich nicht nützen – es ist seine Antwort, es ist sein Leben.

Wie vieler begrabener Träume und zerschlagener Hoffnungen es bedurfte, um dahin zu kommen – ich weiß es nicht. Ich sehe nur, dass es Menschen gibt, die offenbar im Frieden mit sich und ihrem Leben sind. Ohne deshalb vielleicht sagen zu können, was der Sinn des Lebens sei …

Vorbei

Bis eben hat das Herz noch geschlagen, der Brustkorb sich gehoben und gesenkt. Und auf einmal ist fertig. So banal geht Leben zu Ende, unspektakulär, ohne Aufhebens. Gerade noch da und jetzt weg, da kannst du noch so lange hinschauen: Der Brustkorb wird sich nie mehr heben, und das Herz, dieser fleißigste aller Muskeln, tut, was es sich seit seinem ersten Schlag im Uterus nie gegönnt hat: es steht still.

Für mich ist es eine Beleidigung dieses Lebens, dass es jetzt plötzlich vorbei sein soll. All die Jahre – mit einem Schlag entwertet, als sei es nicht mehr wahr. Müsste nicht wenigstens außen herum alles atemlos stillstehen, sich in andächtigem Schweigen um dieses Leben sammeln, das nicht mehr ist?
Doch die Tauben gurren weiter ihr sommerliches Gurren, wo hier doch nichts mehr weitergeht, sondern für immer an sein Ende gekommen ist.

Wenn ich zurückschaue, staune ich über den Reichtum, der in diesen Jahren lag. Ein Universum für sich – dieses Leben. Und es trifft mich ins Mark, dass es vorbei ist und nie wieder kommt.

Wo ist das alles jetzt aufbewahrt? Nur in unserer Erinnerung, wie manche Anzeigen tröstlich zu formulieren glauben? Doch was geschieht, wenn ich nicht mehr bin und sich niemand mehr an meine Erinnerung erinnert? Ist es nicht einfach menschliches, aber törichtes Wunschdenken, erinnert werden zu wollen, anstatt wahrzuhaben, dass die Dinge eines Tages unwiderruflich vorbei sein werden, unerinnert in alle Ewigkeit?

Ich schaue dem Sterben zu und spüre, wie der Stachel tief in mich eindringt. Die Wehmut, selber auch einmal von allem Abschied nehmen zu müssen. Für einen Augenblick kommt es über mich, das kleine Sterben vor dem großen. Ja, es ist auch in mir. Es ist in allen.

Zwei Männer

Der Mann mit der dunklen Sonnenbrille hat einen üppigen Burt-Reynolds-Schnauzer im Gesicht prangen. Über der nackten, dichtbehaarten Brust baumelt eine Goldkette. Er hat den Kopf ein wenig schiefgelegt und den Mund halb geöffnet, als wolle er gerade etwas sagen, was einen fast kindlichen Eindruck vermittelt. Unter der gestreiften Bootsmütze quillt tiefschwarzes Haar hervor. Einen Arm hat er lässig über den Außenborder gelegt. Sein Alter ist schwer zu schätzen, zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Das Meer verschwimmt hinter ihm.

Die Schaufel mit dem langen Stil und den Besen in den Ärmchen trippelt der Alte über den Hof. Vom Rand, wo in großen Töpfen Zitronen und Palmen stehen, ziehen sich Risse über den betonierten Boden. Der Wind hat Blätter herangetrieben, von denen es einige bis vor die Eingangstür geschafft haben. Dort bleibt der Alte stehen, setzt die Schaufel ab und beginnt die wenigen Blätter hineinzukehren. Unter der gespannten Haut seines gekrümmten schmalen Rückens, auf dem sich dunkle Altersbehaarung kräuselt, zeichnen sich die Wirbelfortsätze ab. Jetzt richtet er sich wieder auf. An den Schläfen streiten schwarze und graue Haare um die Oberhand, und über dem Schädeldach wölbt sich eine dunkelbraune Perücke, die seinem Aussehen etwas Skurriles verleiht. Nur ein Halbblinder konnte dieses Teil passend finden.
Behutsam, als sei etwas Zerbrechliches darin, trägt er die Schaufel fort. Als er zurückkommt, öffnet er die bescheidene Haustür. Mit sicheren Schritten geht er durch das Halbdunkel des Vorraums, wo ein gesticktes Kreuz hängt und eine Karte heiliger Pflanzen. Vor einem gerahmten Foto an der Wand bleibt er stehen. Sein Gesicht mit dem dichten Schnauzer spiegelt sich im Rahmenglas und legt sich über das Gesicht des jungen Mannes im Motorboot.

Gerüche (2)

Ich riss mich nicht darum, abends die Läden im Kinderzimmer zu schließen. Drei Fenster mal zwei Klappläden hieß sechsmal sich in lebensgefährlicher Haltung aus dem Fenster lehnen, um den kleinen Bronzekopf umzulegen, der den Laden an der Hauswand hielt.

Freitags freute ich mich allerdings darauf. Da störte mich keine klemmende Halterung. Am Freitagabend war ich vollauf damit beschäftigt, den Duft einzusaugen, der sich durch die Gasse schlängelte und bis zu unserem Haus kroch. Auf der anderen Seite der Dorfstraße wurde bereits kräftig gearbeitet, um am Samstagmorgen die Wünsche der Kunden prall in Papiertüten abzupacken.

Was mich die nervigen Klappläden vergessen ließ, war der Duft nach frischem Brot. Warm stand er in der kühlen Luft vor dem offenen Fenster und wartete darauf, hereingelassen zu werden. Nicht die Abendglocke war es, die mir das Wochenende einläutete, sondern dieser Geruch nach frischem Brot.

Es gibt nur einen anderen Duft, der meine Riechzellen ähnlich in Freude versetzt …

Gerüche (1)

Kaum etwas ruft unmittelbarer und stärker die Assoziation von Urlaub, Strand und Hitze hervor als Sonnenöl. Wie wir geeicht sind auf Gerüche und bestimmte Situationen damit in Verbindung bringen – unser ganzes Leben lang!

Fast möchte man meinen, die Duftstoffe im Sonnenöl seien gewissermaßen als konjunkturfördernde Ingredienzen zugesetzt werden, um Erinnerungen an vergangenen Urlaub zu triggern und so unsere Reiselust zu entfachen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Produktion von Sonnenöl von der Reisebranche gesponsert würde. Und jetzt, in Zeiten von coronabedingter Reiseunlust, wäre sogar vorstellbar, dass bestimmte Länder, die aktuell stark von sinkenden Buchungen betroffen sind, mit einem unverwechselbaren Duft auf sich aufmerksam machen. So dass die Benutzer eines bestimmten Sonnenöls plötzlich bella Italia vor sich sehen oder die eines anderen auf einmal Lust verspüren, nach Hellas aufzubrechen. Und proportional zum Lichtschutzfaktor gibt’s den Sehnsuchtsfaktor: je höher, desto stärker. Sehnsuchtsfaktor 20: Es kribbelt! Faktor 30: Es wird Zeit, dass ich endlich mal wieder verreise! 50: Holt mich raus aus diesen Wänden und bringt mich auf’s nächste Schiff!

Nur was mache ich, wenn ich zu denen gehöre, die mutig aufgebrochen sind und mir am Strand von Rimini mein Sonnenöl plötzlich griechische Tempel vorgaukelt? In diesem Fall nicht ganz so schlimm: die kann ich auch auf Sizilien sehen. Doch was tun, wenn beim Eincremen die Hagia Sophia wie eine Fata Morgana über meinen Speckfalten auftaucht?

Bevor ich spontan meiner Sehnsucht folge, erfahre ich von meiner Begleiterin Vicky (wiki), dass dieses außergewöhnliche Bauwerk, nachdem es fast tausend Jahre christliches Gotteshaus war, „ab 1453 bis heute als Moschee genutzt wird, mit Ausnahme der Jahre 1935–2020, als sie als Museum (Ayasofya Müzesi, „Hagia-Sophia-Museum“) diente.“ So schnell wird Gegenwart Geschichte, denke ich ernüchtert. Der Reiseduft hat sich inzwischen auch verflüchtigt.

Heute, am 24.07.2020, wurde die Hagia Sophia mit einem Gottesdienst wieder als Moschee in Gebrauch genommen.

Das geheime Leben der Katzen

In Erinnerung an Smoke

In ihren letzten Tagen, als wir ängstlich über Kommen und Gehen wachten, fiel es mir noch einmal neu auf. Aber im Grunde war es schon immer so gewesen. Zwar war sie uns in einer katzen-untypischen Weise zugewandt, aber dennoch gab es daneben eine uns verborgene Welt, in der sie andere Wege ging, fremde Töpfe leckte und sich von Leuten streicheln ließ, die wir noch nicht einmal kannten.

Manchmal, vor allem in ihren frühen Jahren, fanden wir morgens das Resultat ihres geheimen Lebens vor: eine Maus, die vor der Tür lag, oder bisweilen auch einen Vogel, den sie erwischt hatte. Aber wir wurden nie Zeugen, wie sie die Maus ansprang oder den Vogel von einem vermeintlich sicheren Platz holte. Wenn uns nachts befremdliche Gurgellaute aus dem Schlaf rissen, mutmaßten wir wohl, dass sie gerade Nachbars Kater anschmachtete, und als wir noch auf dem Lande wohnten, nahmen wir morgens Reißaus, wenn ihre nächtliche Tour sie durch den Schweinestall geführt hatte. Als sie einmal verschwunden war, fanden wir sie nach drei Tagen in einem verriegelten Koben in der benachbarten Landwirtschaft. Sie hatte gehört, dass wir sie riefen, und antwortete.

Wahrscheinlich war sie überall unterwegs – in den Gärten und Höfen, in den Hecken, um die Häuser herum und sogar auf den Dächern: dieses Schauspiel gönnte sie uns tagsüber einmal und ließ uns mit offenen Mündern zurück.

Kam sie morgens zur Tür herein, erzählte sie von ihren nächtlichen Gängen in der Sprache der Katzen. Deshalb blieb es ihr Geheimnis.

Sie hatte noch ein anderes Leben neben uns.

So wie manche Menschen auch.

Und so fing alles an …

Wie tief ist das Meer!

Ich liebe es, am Strand zu sitzen, vor mir einen Cappuccino, und auf’s Meer hinauszuschauen. Die endlose Weite tut der Seele gut.

Manchmal überlege ich, wie weit es bis zum nächsten Festland ist. Oder wie viele Kirchtürme man vom Meeresboden an übereinander stapeln müsste, bis die oberste Spitze die Wellen durchsticht.

Unglaubliche Dimensionen!

In meinem Kopf baue ich ein Modell vom Nordatlantik.
Die Entfernung zwischen Lissabon und New York beträgt 5.400 km. Bei einem Maßstab von 1 : 1.000.000 hat das Modell eine Länge von 54 cm.

Und wie tief muss der Ozean werden, der neben der Titanic unzählige andere Schiffe in den nachtschwarzen, bodenlosen Abgrund gezogen hat?
Bei einer mittleren Tiefe des Nordatlantiks von 3.300 m sind das im Modell 0,0033 m, d.h. etwa 3 mm.

Meere sind Pfützen.

Alles Verschwendung

Es ist eine Verschwendung, sagt mein Schwiegervater, das Obst am Baum verfaulen zu lassen. Früher, in der schlechten Zeit, wäre man froh gewesen, ein paar Bäume abernten zu können.

Gehorsam mache ich mich auf den Weg, Kirschen zu pflücken. Wo sonst bekommt man so wunderbar ungespritzte Früchte. Ich schlage mich durch’s hohe Gras. Da steht der Baum. Rot leuchten die Kirschen gegen den weiß-blauen Himmel. Ich liebe ernten. Was für ein Erfolgserlebnis, ruck-zuck einen Eimer zu füllen. Die ersten Kirschen trommeln auf den Eimerboden. Das müssen andere Früchte gewesen sein, oder der Eimer war kleiner, jedenfalls zieht sich das Pflücken in die Länge. Zwischendurch nasche ich. Manche Kirsche hat ein winziges Loch – aha, bewohnt, also gleich weg. Langsam, langsam steigt der Kirschenpegel in meinem Eimer. Mein Schweißpegel auch.

Ich glaube, es reicht. Die Dinger müssen heute ja auch noch zu Marmelade verarbeitet werden. Also auf’s Rad und den dunkelroten Schatz vorsichtig nach Hause bugsiert.

„Ich habe eine schlechte Nachricht für dich.“ Die beste Ehefrau von allen erscheint mit düsterer Miene auf der Terrasse, wo ich mich nach der Pflückaktion ausgestreckt habe. Keine Ahnung, was jetzt kommt.
„Ich kann die Kirschen nicht nehmen.“ Sie habe mehrere aufgeschnitten, jede sei angestochen, die Würmer krabbelten zum Teil schon im Eimer herum und grinsten sie an.
„Na gut, dann gibt es dieses Jahr eben Kirschmarmelade nur für mich. Mir macht das bisschen Eiweiß nichts aus. Es wird doch sowieso alles gekocht. Was meinst du, was alles drin ist in einer Marmelade, die du im Laden kaufst?!“
„Vielleicht, aber da weiß ich’s nicht.“
Sprachlos ob dieser bestechenden Logik kippe ich meinen kostbaren Schatz in die Biotonne.

Nächstes Jahr lasse ich das Obst am Baum verfaulen. Verschwendung? Pah, die Natur verschwendet ständig! Wieviel geht in der Natur kaputt! Und was heißt da überhaupt „kaputt“? Nichts geht kaputt, alles kehrt zurück in den Kreislauf des Lebens. Die Natur lebt, indem sie verschwendet. Das Leben ist Verschwendung! Verschwendung ist Leben!

An der Grenze

Das andere Land begann irgendwo auf der Wiese. Es gab nichts, was deutlich machte, dass man eigenen Boden verließ, wenn man weiterging, noch nicht einmal einen Grenzstein. Die Bauern wussten es einfach. Und so hörten die einen mit ihrem Gerät genau dort auf, wo die anderen anfingen. Und der Feldweg, der beide Länder verband, war ein Feldweg wie jeder andere.

Die Menschen diesseits und jenseits der Grenze lebten nicht im Unfrieden. Die Bauern lupften ihren Hut, wenn der Kollege zum Heuwenden kam, und bisweilen wurde auch mal ein Schwatz über die Grenze hinweggehalten: in der wievielten Klasse die Kinder seien und ob es im Sommer wieder so dürr würde wie im letzten Jahr. Doch nie lud einer den anderen zu sich nach Hause ein und nie wurde abends in der Wirtschaft zusammen ein Helles gehoben.

Von klein auf wuchs er mit der Grenze auf. Als Kleinkind war ihm noch unverständlich, warum er nicht hinüberdurfte. Als Schulkind hatte er sich daran gewöhnt. Als Jugendlicher hätte er sicher dagegen aufbegehrt, aber da war nichts, was besonders lockte, Grenzen zu überschreiten. Als junger Erwachsener stellte er dem Vater die Frage, warum man nicht auf die andere Seite dürfe. So eine richtige Antwort vermochte ihm der Vater darauf nicht zu geben, außer dass es schon immer so gewesen sei und sich ja wohl auch bewährt habe, was schlecht zu entkräften war.

In späteren Jahren stellte er sich in schlaflosen Nächten vor, wie sein Land wohl von drüben aussah. Wie es prächtig dalag mit seinen fetten Wiesen und den Kühen mit ihren prallen Eutern. Und dem stattlichen Haus auf dem Hügel.

Er lebte lange genug, um die Öffnung der Grenzen zu erleben.
Nun konnte er endlich hinübergehen und sehen, was er sich ein Leben lang vorgestellt hatte.
Aber er blieb an der Stelle stehen, wo er immer stehengeblieben war.

„Willst du nicht wissen, wie es drüben aussieht?“, fragten sie ihn.
„Ich will nicht wissen, wie es von drüben aussieht“, antwortete er.

Und er dachte: Vielleicht ist ja alles ganz anders.

Dinge, die unter den Tisch fallen

Vielleicht lagen sie auf einer Pizza, als ich sie zum ersten Mal sah, in unserem Familienurlaub in Südtirol. Die Berge wuchsen wie vor unserer Münchner Haustür in die Höhe (nur höher), und die Sprache verstanden wir auch, nachdem wir uns in den ungewohnten Dialekt eingehört hatten (unser Lieblingswort war Speckch-kchnödel). Daneben begegnete uns das Italienische auf Straßenschildern und in Geschäften, wir sammelten die bunten Hundert-Lire-Scheine, von denen nur Unikate gedruckt zu werden schienen, um dann ein dickes Bündel gerade mal gegen gelato für vier einzutauschen.

Es war die Zeit, als sich sparsame deutsche Familienväter beim ADAC Benzingutscheine besorgten, um an italienischen Säulen den sündhaft teuren Treibstoff günstiger zu zapfen – die Gutscheine fungierten auch als schwarze Währung; unser Hausvater ließ sich beim nächsten Besuch extra Gutscheine mitbringen.

Befremdlich war für uns auch, dass wir, obschon zum ersten Mal Gäste, von der Wirtsfamilie unmittelbar nach unser Ankunft auf die Hochzeit der ältesten Tochter selbigen Tags eingeladen wurden. Von dieser Gastfreundschaft überwältigt konnten wir unmöglich absagen, auch wenn wir ein wenig deplatziert inmitten der in Tracht gewandeten Hochzeitsgesellschaft zur Kirche am Hang prozessierten. An die Zeremonie erinnere ich mich nicht mehr, außer dass ich ein bisschen verliebt war in die Braut. Danach ging es in die Wirtschaft. Dort wurde die Hochzeitsgesellschaft auf mehrere Räume verteilt und deftig bewirtet.

Ich weiß nicht mehr, in welcher Begleitung die kleinen schwarzen Kugeln kamen. Ich hatte keine Ahnung, was das sei, und schob sie vorsichtshalber erstmal zur Seite. Als ich alles andere aufgegessen hatte, balancierte ich eine auf der Gabel in den Mund, um sie am liebsten sofort wieder auszuspucken. Wie grässlich bitter! Und da lag noch ein halbes Dutzend auf meinem Teller! Am liebsten hätte ich sie da liegen gelassen – aber das war nach der Tischetikette, mit der ich groß geworden war, nicht vorgesehen: Man isst auf, was auf den Teller kommt, und zwar alles! Hilfesuchend sah ich mich um – aber niemand bemerkte meine Lage.

Später habe ich mich gefragt, wann sie denn gefunden wurden und mit welchen Schimpfworten ich unbekannterweise bedacht wurde.

Außerdem ging mir auf, wie grotesk es war, der erlernten Etikette zu folgen, die den Respekt vor dem Essen bewahren sollte, den ich durch mein Tun doch doppelt und dreifach verletzte – aber eben heimlich, so, dass es niemand sah und der Schein gewahrt blieb.

Der halbwegs korrekte Weg wäre gewesen, die Kugeln in die Hosentasche zu stecken. Aber da gab es eine andere Etikette, nämlich die, nicht die Kleidung zu ruinieren. In meiner Not nahm ich eine Kugel nach der anderen mit den Fingern, ließ die Hand wie zufällig unter den Tisch sinken und beförderte das Ding mit einer Drehung des Handgelenks unter die Eckbank, auf der ich saß. Den Rest des Abends verbrachte ich über einem Friedhof.

Heute liebe ich die kleinen schwarzen Oliven.

Tattoo-tada

Da steht er breitbeinig vor mir am Schalter, jeder Zentimeter seiner Haut mit Ornamenten bedeckt. Ich bin geschockt.

Wie kann man seinen Körper so verunstalten? Ok, jetzt geht meine bürgerliche Ästhetik mit mir durch, deshalb modifiziere ich mein Unbehagen: Wie kann man seinem Körper eine irreversible Fassade geben, mit der man für den Rest seines Lebens herumlaufen muss?

Ich stelle mir vor, wie in dreißig Jahren schlaffes Fleisch das Tattoo hat zusammenschrumpeln lassen. Wenn die Holde, deren Name momentan den Unterschenkel ziert, längst andere Unterschenkel liebkost. Oder wenn die einstmals stolze Tattoo-Trägerin in zehn Jahren am liebsten aus der Haut fahren würde, um ihr Design von damals loszuwerden, weil es nicht mehr ihrem Lebensgefühl oder dem aktuellen Style entspricht.

Auf gar keinen Fall würde ich mir sowas stechen lassen.

Immer noch steht er vor mir am Schalter, jeder Zentimeter seiner Haut mit Ornamenten bedeckt.

Wie sehr muss ein Mensch im Hier und Jetzt leben, um sich zum bleibenden Gesamtkunstwerk modellieren zu lassen! Nicht an morgen denken, weder diese noch jene Eventualitäten einkalkulieren – einfach jetzt leben. Dazu gehört schon etwas! Man kann nur im Heute leben, nicht wahr?

Dieses Zutrauen zu sich selbst und zum Augenblick lässt mich neidisch werden. Leben ohne Netz und doppelten Boden.

„Tada, hier bin ich!“

Ob ich mir eins stechen lassen soll?

Sich finden lassen

Ich hatte eine Geschichte im Kopf. Sie war des Nachts zu mir gekommen, aber nicht im Traum. Als ich aufwachte, es war noch dunkel, war sie plötzlich da. Eine schlichte, schöne Geschichte mit einer überraschenden Wendung. So stand sie klar vor meinen Augen.

Ich überlegte, ob ich sie skizzieren oder zumindest ein Stichwort notieren sollte. Nicht nötig, ich würde mich am Morgen auf jeden Fall erinnern.

Als ich am helllichten Tag erwachte, war sie weg. Ich grübelte, verbiss mich darin, dass sie doch so schlicht war und ich sie deshalb auf jeden Fall behalten haben müsse. Vergebens.

Irgendwo in meinem Kopf sitzt sie, aber ich kann nicht hingelangen. Die Tür ist zu. Es ist, als hörte ich sie dahinter über den Boden schweben und nähme ihren Schemen durch die dünnen Wände wahr. Und doch bleibt sie mir verborgen.

Solange ich verbissen nach ihr suche, werde ich sie kaum finden – das weiß ich, auch wenn es mich nicht vom Suchen abgehalten hat. Erst wenn ich die Suche aufgegeben habe, werde ich vielleicht darauf stoßen – wie auf den verlorenen Haustürschlüssel, der Wochen später aus der Hose im Schrank fiel. Ich werde sie so unerwartet finden, wie sie mich fand.

Möglicherweise ist es aber auch ganz anders gewesen. Vielleicht glich meine Geschichte den kuriosen Gedankenblitzen, die in der Einschlafphase einschlagen und uns (es sind ja Blitze) überraschende Erkenntnisse offenbaren, denen wir sonst unverrichteter Dinge nachjagen. Tauchen wir zwei Sekunden später doch noch einmal auf und wollen sie uns freudig vergegenwärtigen, erscheinen sie uns plötzlich schief, verquer, grotesk – wie ein kleines Kind, das sich mit Mamas Garderobe ausstaffiert hat.

Nebel

„… die Wetteraussichten für morgen …“ Ich beuge mich zum Radio hinüber, um den Ton lauter zu stellen …

Ein Blitz
Dunkelheit
Stille
Stille
Stille

Stimmen aus dem Nebel. Leise. Dumpf.
„Meinen Sie wirklich, wir sollten …?“
„Ja, es sind jetzt drei Wochen, es bringt nichts, es ihm noch länger zu verschweigen.“

Warum höre ich so schlecht? Ich greife an meine Ohren. Sie sind einbandagiert. Erleichtert sinke ich zurück. Sie haben meinen Kopf einbandagiert. Das ist auch der Grund, warum ich nichts sehe.

„… müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihre Frau nicht retten konnten …“

Bilder wie Blitze: Ihr dunkelblaues Kleid, die Verachtung in ihren Augen, der helle Streifen an ihrem Finger, dort, wo gestern noch der Ehering …
Dann ist sie also …? 

Ich atme tief aus. Wenn die Binde nicht meine Augen bedecken würde, könnten sie darin jetzt die Erleichterung lesen.

Getrappel von Füßen.

„Was haben Sie mit …?“

Sie sind am Gehen. 
Ich räuspere mich. Lauter: „Wie lange noch muss ich den Verband tragen?“

Das Getrappel hört auf. Diesmal höre ich die Stimme klar und deutlich.
„Bis die Operationswunde am Bein zu ist.“

Ich rutsche hin und her.
„Ich meine den über den Augen.“

Die Pause dauert zu lange. Nebel steigt wieder auf, durch den die Antwort an meine Ohren dringt: 
„Welcher Verband?“

Ein ganzes Leben

Das Auto kommt aus der Tiefgarage und bremst abrupt vor ihm ab. Es versperrt den Gehweg über die ganze Breite. Auf der Straße hat eben ein Müllauto angehalten und blockiert die Ausfahrt.

Im Auto dreht sich jemand in seine Richtung und hebt entschuldigend die Arme. Dann sieht er ihr Gesicht. Und ihre Augen.
Tonnen schlagen bei der Entleerung oben an den Müllwagen.
Die Frau im Auto und der Mann auf dem Gehweg sehen sich an.
Für ein, zwei Sekunden oder mehr.

Er ist nie der Typ gewesen, der Frauen anbaggert. Oder Buch führt über seine Erwerbungen. Eher schüchtern.
Aber in diesem Moment begreift er, dass er handeln muss.
Er geht auf ihr Auto zu, klopft gegen die Beifahrerscheibe. Lächelnd. Sie macht sich lang und beginnt zu kurbeln. „Sagen Sie …?“

Jahre später weiß er nicht mehr, was er damals gesagt hat. Hat er einen platten Reifen erfunden? Oder so getan, als habe er sie erkannt, um sich dann für seine Verwechslung zu entschuldigen? 

Ihr erstes Treffen fand ganz altmodisch am Stadtpark statt, mit einem Kaffee im Kurhaus zum Abschluss, wo sie den Altersdurchschnitt ganz gehörig senkten.
Es war Liebe auf den ersten Blick. Soviel Gemeinsames. Soviel auszutauschen, dass ihm schwindlig wurde und er sich fragte, ob sie diese Intensität ein Leben lang durchstehen würden. Und wie schlimm es sein würde, wenn sie einmal nicht mehr da wäre.

Sie heirateten direkt nach dem Examen, bekamen beide eine gute Stelle. Beruflich erfolgreich. Zwei Kinder, Haus mit Garten, fast schon unanständig bürgerlich, ohne sich so zu fühlen.
Die Liebe hielt. Und der Austausch hielt an. Mit jedem Jahr wuchs das Bewusstsein, dass dieses Kostbare zwischen ihnen begrenzt war. Und deshalb noch kostbarer.

Sie sind beide im Vorruhestand. Sie können es sich leisten. Die Kinder gehen längst ihre eigenen Wege. Auch sie machen sich auf, entdecken die Welt noch einmal, in zweiter Neugier und studentischer Einfachheit. Es ist so schön, dass es fast schmerzt. 

Dann bringt sie von einer Asien-Reise etwas mit. Unterschätzt und zu spät behandelt. An ihrem großen Fest zu ihrem 70. Geburtstag strahlt sie noch einmal zwischen Kindern und Enkeln, schon gezeichnet. Von da ab geht es sehr schnell. 

Als nach dem Trauerkaffee alle gegangen sind, macht er sich zu Fuß nach Hause auf. Sucht die Stelle, wo sie sich Jahrzehnte zuvor begegnet sind. Die Tiefgarage ist verschwunden, dem Gehweg hat eine Radfahrerspur die halbe Breite geraubt. 

Das Müllauto ist nicht mehr da. Er sieht ihr nach, wie sie auf die Straße einbiegt. Der Käfer knattert los, dann ist sie weg.

Mit ihr ein ganzes Leben.

Tee aus Olivenblättern

Ich war ein paar Tage allein unterwegs und begegnete ihr auf einsamem Weg, hoch über dem Ligurischen Meer, unter einem Olivenbaum. Sie zupfte Blätter ab. Ich fragte auf Italienisch, was sie damit vorhabe. Aus den Blättern des Olivenbaums, antwortete sie auf Deutsch mit österreichischem Akzent, könne man Tee zubereiten – gegen Bluthochdruck. Mein Blutdruck ist nicht zu hoch, sagte ich, eher zu niedrig. Und außerdem habe ich keine Tüte dabei.

Da war etwas zwischen uns. Wie eine Blume, die vorsichtig ihr Köpfchen aus dem grünen Rasen streckt. Doch niemand griff danach. Wir gingen in verschiedene Richtungen weiter.

Drei Tage später stand ich in einem Laden an der Kasse, als mich jemand ansprach und sich augenzwinkernd nach meinem Blutdruck erkundigte. Und wieder war da etwas.
Meine Schlange kam schneller voran als ihre, und ich war vor ihr fertig. Ich winkte ihr zu und ging.

Am Nachmittag traf ich sie das dritte Mal. An der Strandpromenade. Ich lud sie auf einen Kaffee ein. Wir sahen ins Weite hinaus, dorthin, wo Meer und Horizont ineinander verschwimmen. Und dann …

Und dann? Nichts „und dann“. Denn das dritte Treffen hat nie stattgefunden.

Es gibt so viele schöne, intelligente und faszinierende Frauen auf der Welt. Es gibt viele Rosen, aber DIE Rose gibt es nur einmal.

Langer Abschied

Sie sind so klein geworden. Vielleicht liegt es daran, dass ich sie vom Bus aus sehe.

Die Mutter tritt unauffällig von einem Fuß auf den anderen. Es soll nicht so aussehen, als sei es eine Last für sie, in der morgendlichen Kälte auszuharren. Sie will bleiben bis zum Schluss.

Der Vater holt sein Handy zum wiederholten Mal aus einer Manteltasche und steckt es in die andere.

Mit einem Blick checke ich die neuesten WhatsApp-Nachrichten. Wir stehen noch immer.

Die Mutter winkt zum hundertsten Mal, zusammen mit ihrer Handtasche. Ich winke zurück und lächle.

Ich habe aufgehört mich dafür zu schämen, dass meine alten Eltern ihre erwachsene Tochter zum Bus bringen. Sie sind so aufmerksam. So bemüht. Genau das stört mich. Ich würde lieber mit einem „Ciao“ zur Haustür hinausgehen, statt zum Bahnhof eskortiert zu werden wie ein Gast, der einmal im Jahr zu Besuch kommt. Ich komme einmal im Jahr zu Besuch.

Der Vater sieht nach rechts, nach links, er vermeidet den Blick zu mir. Tränen? Erleichterung, dass ich wieder abfahre?

Jährlich vor Weihnachten erhöht sich die Frequenz unserer Telefongespräche. Ich freue mich, nach Hause zu fahren. Und jedes Jahr bin ich erleichtert, wieder abzufahren von einem Ort, an dem mir die Position jedes Läufers bis auf den Zentimeter genau vertraut ist und dem doch die Wärme fehlt, die ein Ort braucht, um Heimat zu sein. Alle Jahre wieder. Eigentlich müsste ich es im Voraus wissen.

So viele Jahre war ihr der Mantel zu kurz. Jetzt, mit der aktuellen Mode, passt er wieder, obwohl die Beinchen darunter nicht mehr zum Vorzeigen taugen.

Ich spüre ein Ziehen, trotz der Erleichterung. Es wird mir einmal fehlen: Ihre knotigen Hände, die mir den Teller aufhäufen, ob ich will oder nicht. Der aggressive Ton in seiner Stimme, der mich zurückstößt und Sorge verrät.

Der Bus rollt los. Jetzt winken beide. Ich auch.

Stolz

Der alte Mann stand am Weg neben der einzigen, mageren Skipiste im Tal. Am ausgestreckten Arm hielt er eine Kamera. Der stolze Opa, der seine Enkel beim Skifahren filmt. Oder schon die Urenkel? Gleich würden sie vorbeifahren und ihm zuwinken, während er sie mit der Kamera verfolgte.

Ein milder Frühlingstag kurz vor Saisonende. Kaum Betrieb. Oben auf der leeren Piste tauchten zwei Kinder auf und fuhren geradewegs auf den alten Mann zu. Gleich würde der Arm mit der Kamera hochgehen. Schau mal, wie toll sie schon fahren!, würde er später zu seiner Frau sagen, wenn er ihr die Bilder vorspielte. Doch der Kameraarm bewegte sich nicht. Offenbar wollte er erst anfangen zu filmen, wenn sie näher an die selbstgebaute Minischanze am Pistenrand herangekommen waren. Sie beim Anlauf verfolgen und dann Sprung und Landung ganz groß ins Bild kriegen. Das erste Kind passierte die Schanze, riss die Arme hoch. Keine Reaktion. Das zweite folgte direkt dahinter. Der Kameraarm hing wie ein dürrer Ast an der Schulter des Mannes.

Ein Motorschlitten knatterte über die Piste und hielt an einem Slalomtor. Ein Mann im Skianzug sprang herunter, sammelte die roten und blauen Stangen ein, stieg wieder auf. Mit einem Satz schoss der Schlitten nach vorn.

Der alte Mann spähte noch immer nach oben. Von dort näherte sich ein erwachsener Skifahrer mit gedrungener Statur. Er glitt in der unsicheren Haltung des Anfängers, den Oberkörper nach vorn gebeugt, um das Gleichgewicht besser zu halten. Plötzlich schoss der Arm mit der Kamera hoch, fokussierte den Skifahrer und verfolgte ihn, wie er vorsichtig einen Bogen an den anderen setzte. Den ganzen Hang hinab. Unten angekommen brachte der Mann seine Skier mit einem Pflugbogen zum Stehen. Er stieß die Stöcke in den Schnee, schob die Skibrille hoch und winkte nach oben. Aus seinem Gesicht strahlte ein Lachen, das die Welt umarmte. Das Lachen eines Menschen mit Down-Syndrom.

Was der Mensch alles überlebt

Lorenz Kratzert starb im hundertsten Lebensjahr. Er hatte 99 Jahre, 8 Monate und 17 Tage in einem Dorf verbracht, dessen Kirchturmspitze die umliegenden Hügel nicht überragte und dessen Bewohner mehr voneinander wussten, als ihnen zuträglich war. 

In seinem ersten Jahrzehnt überlebte er im Gegensatz zu vielen seiner Altersgenossen die wichtigsten Kinderkrankheiten. Welche, war völlig ausgeschlossen zu sagen, da er einen Arzt erst mit 16 bei der Musterung sah – das Vaterland ließ nur Gesunde für sich sterben. Es genügte, dass er überlebte, nicht ohne dabei auf dem linken Ohr das Gehör einzubüßen. 

Im zweiten Jahrzehnt überlebte er die Schikanen seines Lehrherrn, der ihn im Suff zweimal die Treppe hinunterwarf und mehrmals verbrannte.

Im dritten Jahrzehnt überlebte er den russischen Winter, aus dem er mit drei erfrorenen Fußzehen, besser gesagt: ohne diese zurückkehrte.

Im vierten Jahrzehnt überlebte er seine Frau, die bei der Geburt ihres ersten Kindes, etwas mehr als ein Jahr nach ihrer Heirat im Februar, starb. Noch Jahre später sah er die Osterglocken in der Vase an ihrem Bett.

Im fünften Jahrzehnt überlebte er die Pubertät seiner Tochter, wobei er selbst diese Zeit nie so nannte.

Im sechsten Jahrzehnt überlebte er den Konkurs des Geschäfts für Futtermittel und Tierzuchtbedarf, wo er seit dem Ende seiner Lehrzeit beschäftigt gewesen war.

Im siebten Jahrzehnt überlebte er die Nachstellungen seiner Nachbarin, die ihn nach dem Tode ihres Mannes, der in halb dementem Zustand von seinem eigenen Traktor überrollt worden war, unbedingt in ihr Haus und (ihren Augen nach zu urteilen) auch in ihr Bett kriegen wollte.

Im achten Jahrzehnt überlebte er einen Krebs, der ihm einen knappen Meter Darm wegfraß und ihn zum ersten Mal ein Krankenhaus von innen sehen ließ.

Im neunten Jahrzehnt überlebte er den Zusammenstoß mit dem Auto eines Vertreters, das genau in dem Moment von links kam, als er mit seinem tauben linken Ohr die paar Meter Asphalt überquerte, die sich mit dem Titel “Hauptstraße” schmückten.

Im zehnten Jahrzehnt überlebte er so gut wie alle, die er von früher her gekannt hatte, und sah in zu viele fremde Gesichter. 

An seinem Sterbetag sah ihn die Urenkelin seiner 17 Jahre zuvor verstorbenen Nachbarin, wie er ausgestreckt und bewegungslos in seinem Hof lag. Und er hätte sicherlich auch noch die Reanimationsmaßnahmen des Einsatzteams überlebt, wenn der Ort nicht so weit abseits gelegen hätte, so dass der gestandene Notfallsanitäter, beruhigt durch die Schilderung der Urenkelin von nebenan, den Koffer in knalligem Orange ohne zu öffnen ins Auto zurücktrug und sich und seinem Kollegen eine ausgiebige Zigarettenpause verordnete, nicht ohne für einen Moment dem durch seinen Kopf huschenden Gedanken Beachtung zu schenken, es sei so am Ende vermutlich besser gewesen. 

Selbstzweifel

Still beglückt vom Ausblick auf die umliegenden 4000er stieg ich in die Bindung. Das tägliche Ritual in unserem Skiurlaub: Cappuccino schlürfen auf der Sonnenterrasse der Bergstation, ins grelle Sonnenlicht blinzeln und über das Ketchup in den Mundwinkeln der Kinder schmunzeln.

„Papa, komm!“ Meine Jüngste winkte mir, bevor sie zum Ziehweg vorrutschte. Ein Stück weiter unten würde das Leichtgewicht mit seinen kurzen Skiern auf dem ebenen Stück stehenbleiben. Und die Arme ausstrecken, damit ich sie im Vorbeifahren ergriff.

An der Mittelstation der Seilbahn konnte ich bis zum Kontrollautomaten durchfahren. Ich drehte mich um, um mit der Skistockspitze die Bindung zu lösen. Dabei fiel mir zum ersten Mal auf, dass in den Kipphebel drei große Löcher eingefräst waren. Das hatte ich noch nie zuvor bemerkt. Außerdem war er klobiger, als ich ihn in Erinnerung hatte. Viel klobiger sogar. 

Was war los mit mir? Es gibt beschriebene Fälle von Demenz unter 50 Jahren. Waren das wirklich meine Skier? Die Marke stimmte, die Farbe auch – natürlich waren das meine Skier! Außerdem hatte die Bindung exakt für meine Skistiefel gepasst, ich war an der Bergstation geradewegs so hineingeschlüpft. Ganz zu schweigen davon, dass ich beim Fahren keinen Unterschied festgestellt hatte. Seit ich die Skier besaß, hatte ich noch nie jemand mit diesem Modell getroffen. Und jetzt sollte da oben, wo keine hundert Leute saßen …? 

Als wir drei Tage später nach Hause fuhren, hatte sich niemand auf meinen Zettel an der Talstation hin gemeldet. Kein Anruf auf meine Telefonnummer „Hey, ich glaube, wir haben unsere Skier vertauscht!“ Meine Kinder hatten mir am Abend noch in rührender Weise versichert, es seien meine Bretter – sie suchten mich meiner intakten kognitiven Fähigkeiten zu versichern. Doch die Wahrheit war stärker als ihre Liebe. Meine Messung ergab eine Längendifferenz von 7 cm. Die Bindung war wuchtiger (und besser?) als meine alte, die Schaufeln einen Tick breiter und die Skier insgesamt etwas schwerer. 

Inzwischen habe ich Frieden mit dem unfreiwilligen Tausch gemacht. Meine neuen Skier liegen in der Kurve besser als die alten. So habe ich vielleicht sogar das bessere Teil erwählt. Doch wenn ich diese Geschichte erzähle, lese ich auf den Gesichtern immer dieselbe wortlose Frage: Kann man denn nicht dümmer sein? Wahrscheinlich würde ich mich das genauso fragen, wäre es mir nicht selbst passiert.

Die Demenztheorie habe ich abgehakt, wenngleich mich neuerdings aufkommende Wortfindungsstörungen etwas stutzig machen. Eines würde mich freilich beruhigen: Wenn ich wüsste, dass er es war, der zuerst in die falschen Skier stieg.

Handel im Wandel

Der Freund, mit dem ich mich in der Stadt verabredet habe, ruft mich an. Er kommt erst später von der Arbeit weg. Mir bleibt noch eine halbe Stunde, bevor wir uns treffen. 

Das große Kaufhaus ist ganz in der Nähe. Ein Mix aus 1001 Parfum empfängt mich, als ich die Kosmetikabteilung im Erdgeschoß betrete. Verkäuferinnen in engen Röcken und Mehrschicht-Makeups hängen an den Theken herum. Durch die Gänge schweben herrschaftlich einige Nikabs.

Die Rolltreppe bringt mich ins oberste Stockwerk, wo sich das Restaurant befindet. Neben den Toilettensymbolen hängt ein Wegweiser „Muslimischer Gebetsraum.“ Ich kenne muslimische Gebetsräume von Flughäfen. Aber in einem Kaufhaus? Wie dieser Raum wohl aussieht? Ich bin neugierig geworden und schlage die Richtung dahin ein, als mir auf dem Gang einige Personen entgegenkommen. Offensichtlich wird das Angebot in Anspruch genommen.

Ich will nicht stören beim Beten und steuere wie geplant die Toiletten an. Ein sauberer, großzügiger Raum, vorbildlich ausgestattet nach den sanitären Anforderungen der Zeit. Über jedem der Waschbecken hängt ein Schild, dreisprachig in Deutsch, Englisch und Arabisch: „Bitte keine Füße im Waschbecken waschen!“

Blabla

Meine erste Fahrt mit BlaBlaCar, der größten Mitfahrzentrale Europas.

Ich finde schnell jemand, der meine Strecke fährt. Er kommt von anderswo, wir verabreden, dass ich an der Autobahnraststätte zusteige. Ich schicke meine offizielle Anfrage. Sie wird vom Fahrer akzeptiert. Ich überweise den Betrag. Das läuft ja wie am Schnürchen. Kurz darauf bekomme ich eine sms. Die Fahrt wurde abgesagt.

Ich finde ein neues Angebot. Bei den Infos über den Fahrer fehlt mir die Angabe „Nichtraucherfahrzeug“. „Rauchst du im Auto?“ frage ich per sms. „Nein“, kommt prompt die Antwort. Ich bin zufrieden und schicke meine Anfrage. „Negativ“, lautet die Antwort, denn er nimmt nur Fahrgäste ab dem Ausgangspunkt mit. Der liegt 300 km von mir entfernt. Ist nachvollziehbar, aber warum schreibt er das nicht in sein Angebot?

Zwei Tage noch bis zur Reise. Das Hotel ist längst gebucht.

Es gibt keine Angebote mehr auf meiner Strecke. Da hilft nur Kreativität. Ich wähle einen neuen Startpunkt, eine Stunde von mir entfernt. Ich könnte mit Bus oder Zug hinkommen und von dort die Mitfahrgelegenheit nehmen. Und tatsächlich gibt es ein Angebot von dort aus. Ich schicke meine offizielle Anfrage. Leider, wird mir zurückgeschrieben, kann ich noch keine definitive Antwort kriegen, da irgendwas noch unklar ist mit den anderen Fahrgästen. Ok, schreibe ich zurück und schaue nach, ob der Bus noch freie Plätze hat. Er hat.

Am nächsten Morgen frage ich noch einmal nach: Wie sieht es inzwischen aus? Keine Antwort.

Ich buche den Bus und sage dem schweigsamen Autofahrer ab.

Ein Tag vor der Abfahrt.

Am Morgen des Reisetags sehe ich eine Nachricht, die nachts um 3 Uhr eingegangen ist: Es ist noch ein Platz frei im Auto. Schön, aber leider zu spät.

Um 9.50 Uhr steige ich in den Bus ein.

Das war mein erster Versuch mit BlaBlaCar.
Ich finde, die haben den richtigen Namen.
Viel Blabla um nichts.

Schlafstörungen

Der sonnige Frühlingstag erlaubt es, den Mittagskaffee auf der Terrasse einzunehmen. Ich freue mich auf das Nickerchen danach. Der Stuhl ist schon angenehm in Rückenlage gebracht. Doch von jenseits unseres Gartens dringen unüberhörbare Geräusche an mein Ohr. Die Baustelle zwei Häuser weiter? Ausnahmsweise Fehlanzeige. Der Nachbar hinter uns geht gerade mit einem Hochdruckreiniger über seinen Balkon. Ein Balkon ist von seiner Quadratmeterzahl überschaubar. Dieser Balkon verläuft über die gesamte Rückseite des Doppelhauses. Ich kehre zurück in meinen Liegestuhl. Gut, dass ich sehr unempfindlich bin gegen Lärm – ich schlafe beim größten Krach, wenn ich müde bin. Heute bin ich nicht müde, auch wenn ich die Nacht zuvor nur wenig geschlafen habe.

Das Gerät wird abgestellt. Na also, denke ich, früher fertig als erwartet. Nach zwei Sekunden ein „plopp“, dann geht es weiter mit dem aufdringlich schnarrenden Ton. Muss das sein, jetzt um 14.30 Uhr? Steht nicht in einem Gesetz, dass Arbeiten zwischen 13 und 15 Uhr verboten sind? Doch jetzt hat es wirklich aufgehört, das Geräusch ist verstummt. Ich lehne mich dankbar zurück. Beim nächsten „plopp“ wird mir klar, wie dieses Geräusch zustande kommt: Es ist der Schlauch, der sich unter dem Druck des nachströmenden Wassers plötzlich spannt.

Aber dadurch werde ich mich nicht um meinen Schlaf bringen lassen. Das gleichmäßige Schnarren wird mich in den Schlaf wiegen, auch wenn es laut ist. Wenn es gleichmäßig wäre. Der beständige Wechsel zwischen Lärm und Ruhe wirft mich andauernd zwischen Anspannung und Entspannung hin und her.

Zwanzig Minuten später: Ich will gerade die Flinte ins Korn werfen, da kehrt endlich Ruhe ein. Atemlos zähle ich die Sekunden: zehn, dreißig … er ist tatsächlich fertig! Ich relaxe. Die Mittagssonne brennt mir wohlig auf den Pelz. Alles ist gut. Ich döse weg …

Im Nachbarhaus beginnt jemand Schlagzeug zu üben.

Größte Schriftstellerin

„Was machen Sie mit der Liebe, die noch übrig ist, wenn Sie Ihre Bücher geschrieben haben?“ Für einen Augenblick kippte sie aus der „Die-größte-Schriftstellerin-des-Jahrzehnts-macht-eine-Lesung“-Rolle und murmelte etwas, das souverän und witzig klingen sollte. Aber sie war rot geworden, und an der fahrigen Art, in der sie die folgenden Fragen beantwortete, merkte er, dass sie noch an der seinen hing.

Beim Signieren war er der Letzte. Sie nahm ein Buch vom Stapel, schlug es mit einer tausendfach eingeübten Bewegung auf und signierte mit einem dunkelroten Füller. Ihre Hand streckte ihm das Buch hin, begleitet von einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. „Sie haben mich fast aus dem Konzept gebracht.“ Er lächelte zurück und griff nach dem Buch. „Und Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“ Sie hielten das Buch von beiden Seiten. „Warum interessiert Sie die Antwort?“ „Weil ich mich gefragt habe, ob es sein kann, dass ein Mensch all seine Liebe in ein Buch steckt.“ Das Buch zwischen ihnen begann zu zittern. „Wenn Sie es wirklich wissen wollen, dann begleiten Sie mich nachher doch zum Abendessen.“ 

„Wohin stecken Sie denn Ihre Liebe?“ Mit dem Rotwein in der Hand hatte sie gleich den Gegenangriff eröffnet. Dunkel hing der Wein im Glas. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Viele Jahre habe ich meine Liebe einer Frau gegeben. Aber dann konnte ich nicht mehr. Vielleicht war es auch zuvor schon keine Liebe, sondern …“ „Abhängigkeit?“ Über dem Rand des Glases sah er ihre Augen. „Ja, vielleicht Abhängigkeit. So, wie man es uns Männern nachsagt. Die Frau als Mutterersatz.“ Er nahm einen Schluck und wischte sich den Mund mit der Serviette. „Und jetzt? Ist die Liebe noch da? Oder weg?“ Ihre schlichten silbernen Ohrhänger schwangen vollendet zu ihren Worten. „Sie ist momentan eher bei mir selbst, würde ich sagen. Ich habe danach erstmal versucht, zu mir selbst zu kommen, bei mir selbst zu bleiben.“ Er sah immer noch auf ihre Ohrhänger. „Man kann nach außen stark wirken und gleichzeitig innerlich schwach sein, und niemand merkt es. Auch du selbst merkst es erst sehr spät.“ Er sah Zustimmung in ihrem Blick, die ihn ermutigte sich weiter zu öffnen. „Aber es kann wachsen. Es hat Kraft. Es trägt dich, wenn du darauf vertraust, wenn du dir selber vertraust. Jeden Tag wächst es ein bisschen mehr und macht dich stark.“ Sie hatte die Ellenbogen auf den Tisch aufgelegt und den Kopf darauf gestützt. „Und was ist mit der Liebe? Oder ist die jetzt überflüssig?“ Ein Zucken in ihrem linken Augenlid verriet ihm, dass ihre Frage mehr als rein sachlich gemeint war. Er versuchte zu ergründen, was in ihrem Blick war. Dann ließ er seine Seele zu seinen Augen hinaus. „Kann man ganz bei sich selbst sein und sich gleichzeitig ganz einem anderen Menschen zuwenden?“ Sie hatte gerade einen Schluck Wein genommen. Der Tisch schien plötzlich keinen Abstand mehr zwischen ihnen zu schaffen. Er beugte sich zu ihr hinüber und wechselte ins piano: „Ich versuche es gerade.“ Sie verschluckte sich, musste husten und verschüttete Wein aus ihrem Glas, der rote Flecken auf dem Tisch und auf ihrem Ärmel hinterließ. Er griff nach einer Serviette und tupfte die Spuren ab. Sein Daumen berührte dabei die glatte Haut ihres Unterarms. Winzige Härchen stellten sich auf und setzten eine Wärmeexplosion frei, ein Schauer lief durch den Arm. Die größte Schriftstellerin des Jahrzehnts zitterte.