Nicht vorbei

Im hintersten Winkel
eines piemontesischen Bergdorfs
lauernd hinter weißem Marmor
springt sie dich an

die grässliche Fratze
triefend vom Blut derer
über die in vermessener Hybris
man sich erhob

nicht totzukriegen
der Wahn

Schön, dass du da bist!

Mit breitem Grinsen und ausladenden Armbewegungen kommt die junge Frau im blauen T-Shirt auf mich zu. „Schön, dass du da bist!“ 

Auf dem Bistro-Tisch in der Bahnhofshalle, um den herum drei andere Gestalten in blauem T-Shirt und Willkommensblick beschwingt herumschwirren, informiert ein aufgeklappter Laptop über irgendwelche UNO-Projekte.

Ich kann es vertragen, geduzt zu werden (das scheint im Trend zu sein – auch Firmen reden mich verstärkt so an: auf Plakaten, in Anschreiben, im Netz etc.). Aber wenn jemand so tut, als habe er sein ganzes bisheriges Leben nur auf mich gewartet (ohne meine Frau zu sein), um mich zu ködern, werde ich stinksauer. Und so kriegt die junge Frau meinen gesammelten Zorn ab.

Da lobe ich mir die stillen Vertreter, die keusch auf der anderen Seite ihre heilsamen Schriften feilbieten.

Tacheles

Wenn du die Wahl hättest,
von deiner Wohnung aus
auf Penthouse-Appartements oder auf ein Asylbewerberwohnheim
zu blicken

du hättest plötzlich
vergessen,
wie man
political correctness
buchstabiert

Verstopfung

Das leise Rauschen des Regens
Das Gurgeln im Fallrohr
Das Zischen der Autoreifen auf dem nassen Asphalt

Hören sie nicht
die mit Knopf im Ohr 

Ernten

Die Ernte einbringen –
das ist nicht nur das,

was ich selbst
geleistet, erreicht, erwirtschaftet habe

Die Ernte – das ist auch
die Dankbarkeit
über den Menschen an meiner Seite
die Freude
an einem Sommertag
das Staunen
über das, was ohne mein Zutun gewachsen ist

Paddeln mit Taliban

Ich las einen Bericht (ZEIT-Magazin Nr. 23 vom 29.06.2023) über das diesjährige Oslo-Forum. An einem Ort in Norwegen wird dort im überschaubaren Kreis und hinter weitgehend verschlossenen Türen nach Lösungsansätzen in den weltweiten Kriegen (aktuell 25) und bewaffneten Konflikten gesucht. Russen und Ukrainer haben diesmal keine offiziellen Vertreter geschickt. Dafür waren mehrere Taliban dabei. Am letzten Abend gab es ein Kanurennen. Die Taliban gewannen.

Es bleiben Fragen: Warum wurden keine gemischten Teams gebildet? Weil die Talibans nicht mit Ungläubigen gepaddelt hätten? Oder weil sie sich geweigert hätten, mit Frauen im selben Boot zu sitzen? Oder wären die anderen nicht mit den Taliban ins Boot gestiegen?

Weiter: Kann man einen solchen Wettkampf miteinander bestreiten und sich trotzdem bekämpfen? Gemeinsam an einem Kanurennen teilnehmen, um sich danach wieder unversöhnlich gegenüberzustehen?

Müsste es nicht allein schon deshalb gelingen, weil alle Menschen sind? Oder ist das nur westlich-aufklärerische Ideologie? Immerhin haben etliche Staaten die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 bis heute nicht anerkannt; von einem globalen Konsens kann nicht die Rede sein. Ist es folglich nur naive Wunschvorstellung, dass Verständigung möglich sei auf der Basis einer gemeinsamen Anschauung vom Menschen?

Vielleicht braucht es einfach noch Zeit, bis sich dieses Verständnis überall etabliert hat. Oder ist das schon wieder westliche Bevormundung (zumindest wird dies denen mitunter vorgeworfen, die sich für die globale Geltung der Menschenrechte einsetzen)? Wer hier zu schnell einknickt, sollte sich die Frage stellen, wem es nützt, dass anderen grundlegende Rechte vorenthalten werden. Vor patriarchalen und/oder elitären Gesellschaften in die Knie zu gehen, die der Hälfte ihrer Bevölkerung Menschenrechte versagen (z.B. Saudi-Arabien oder Afghanistan), ist Verrat an denen, die bis heute vergeblich auf ihre Emanzipation warten.

Letzten Endes geht es um die Macht. Die an der Macht sind, werden sie nicht freiwillig aus der Hand geben. Umso weniger, wenn auch noch uralte religiöse Gewissheiten mit im Spiel sind. Vielleicht hielten die Taliban beim Rennen deshalb die Paddel so fest in der Hand. Das Rennen auf dem See war zum Glück nur Spiel.

Mouches volantes

Ein Sommerabend, lau und mild,
man will im Freien sitzen,
zufrieden wird der Durst gestillt
nach Arbeit und nach Schwitzen.

Doch wie es oft im Leben geht:
Im schönsten Augenblicke
stört etwas, was im Wege steht,
bei mir ist’s eine Mücke.

Vor meinem Auge hin und her
ist ständig dieses Schwirren,
ich greife in den Luftverkehr,
sie lässt sich nicht beirren.

Am Auge bleibt sie penetrant,
ich will sie deshalb stoppen,
ich wedle, fuchtle mit der Hand,
will dieses Tier mich foppen?

Weg, weg mit dir, du Kreatur,
und lass mich bloß in Ruhe,
verzieh dich fix in die Natur,
bevor ich dir was tue!

Doch weiter saust sie hin und her
und schwirrt vor der Pupille,
die Sache nervt mich mehr und mehr,
hilft nur, dass ich sie kille.

Die Flugbahn hab ich fest im Blick,
von links nach rechts und runter,
im spitzen Winkel dann zurück,
jetzt wird mein Jagdtrieb munter.

Was kreist du ständig, blödes Vieh,
o halte endlich stille,
ich wag‘ es, schlage zu – und wie! –
und treffe nur die Brille.

Daheim vor’m Spiegel seh ich dann,
warum die Jagd misslungen,
das Vieh klebt an der Brille dran,
nun rasch das Tuch geschwungen!

Die Brille ist gleich wieder rein,
ich bin am Säubern heiter,
doch plötzlich fällt mir nichts mehr ein:
vor’m Auge schwirrt es weiter!

Wer nun neugierig geworden ist, was es mit den mouches volantes („Fliegende Mücken“) auf sich hat, findet hier Informationen.

DB – Die Begründungsweltmeister

Kurzfristiger Personalausfall
Personen im Gleis
Notarzteinsatz auf der Strecke
Personenschaden
Reparatur am Zug
Reparatur an der Oberleitung
Verspätung aus vorheriger Fahrt
Unterstützung beim Ein- und Ausstieg
Defektes Signal
Sturmschäden
Warten auf einen übergeordneten Zug
Eingefrorene Weiche
Verspätete Bereitstellung des Zuges
Baustelle
Reparatur an einem Signal
Unwetterauswirkungen
Verspätetes Personal aus vorheriger Fahrt
Polizeieinsatz 
Reparatur an einer Brücke
Kurzfristiger Personalausfall
Entschärfung einer Fliegerbombe
Feuer auf der Strecke (Buschbrand)
Warten auf Anschlussreisende
Verspätung eines vorausfahrenden Zuges
Stellwerk defekt
Tiere auf der Strecke 

Manchmal geht es auch einfacher:
Fahrt fällt aus

Diese Liste ist nach unten offen und wird laufend ergänzt …

Nachhaltigkeit

Hier muss es sein – der morsche Pfosten ist gebrochen und hat den Zaun mit hinuntergezogen, so dass die Kuh ausbüxen konnte. Iryna zieht den Draht so weit nach oben, wie es geht. Da muss möglichst schnell ein neuer Pfosten gesetzt werden. Heute Abend gleich wird sie es Daniil sagen. Er wird nicht begeistert sein, wo es diese Woche  so viel zu tun gibt. Wenn man mit vierzig heiratet, fällt das Fest zwar nicht mehr so groß aus, aber es bleibt noch genug Arbeit. 

Der Boden unter ihr schmatzt bei jedem Schritt ihrer Gummistiefel. Es hat viel geregnet in den letzten Tagen, das Gras steht prächtig. Die Kühe sind gesund, die Preise für Getreide stabil. Es geht langsam wieder aufwärts mit dem Hof.

Das rote Kleid mit den weißen Punkten. „Du bist verrückt“,  sagte ihre Mutter, „noch nie hatte jemand in unserem Dorf so ein Kleid zur Hochzeit an!“ Sie wäre  die erste gewesen. Dann, drei Wochen vor der Hochzeit, kam Mykyta eines Abends. „Ich kann jetzt nicht heiraten!“ sagte er und küsste ihren Nacken, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. „Ich hab mich gestern freiwillig gemeldet. Wir treten den Russen in den Arsch. Glaub mir, der Krieg wird schnell vorbei sein. Und dann wird richtig gefeiert!“
Die Nachricht kam zehn Monate später: Er hatte sich einen Bauchschuss eingefangen und es nicht mehr bis ins Krankenhaus geschafft.

An seinem zehnten Todestag holte sie das Kleid zum ersten Mal wieder aus dem Schrank und strich ungläubig über den Stoff. Wahrscheinlich müsste es jetzt enger gemacht werden – die Jahre des Krieges hatten an ihr gezehrt. 

Jetzt schmatzt es auch im rechten Schuh. Irgendwo muss der Stiefel einen Riss haben. Wenn sie das nächste Mal in der Stadt ist, wird sie ein Paar neue Gummistiefel kaufen. Das meiste gibt es inzwischen wieder, ohne dass man horrende Preise dafür bezahlen muss. Jahre dauerte es nach dem Krieg, bis sich die Regale wieder gefüllt hatten. Inzwischen war der Vorkriegszustand in etwa wieder erreicht. Auch bei ihr: Heiratete mit vierzig statt mit zwanzig. Als ob es die zwanzig Jahre dazwischen nicht gegeben hätte. 

Daniil war ein Lieber, nicht der Mann ihrer Träume, aber er würde zu ihr halten. Keiner der Männer, bei denen die Frau nur ein Fortsatz ihrer selbst war. Es würde gut werden mit ihm. 

Iryna streicht mit der Hand über den Bauch, der die Schürze nach außen wölbt. „Kind, wie kannst du uns das antun!“ Sie hat die Stimme ihrer Mutter im Kopf, auch wenn die Mutter diese Worte gar nicht mehr hat sagen können: im vergangenen Winter ist sie an einer Lungenentzündung gestorben. Aber sie hat Daniil noch kennengelernt und ihren Segen dazu gegeben – zumindest hat das Irina daraus geschlossen, dass kein kritischer Kommentar kam.

Sie muss endlich sehen, ob das rote Kleid noch passt. Wahrscheinlich ist es in ihrem jetzigen Zustand sogar zu eng. Und vielleicht kann sie sich sowieso nicht mehr darin sehen.

Der Knall reißt Iryna von den Füßen. Einen Augenblick weiß sie nicht, wo sie ist. Die Kälte in ihrem Nacken spürt sie zuerst. Nasses Gras. Sie schlägt die Augen auf. Stützt sich auf ihre Ellbogen. Ein Stück vor ihr liegt etwas, was zuvor nicht da war. Sie kneift die Augen zusammen, um schärfer zu sehen. Es ist ein Gummistiefel. Etwas Langes steckt darin.

Iryna fällt zurück. Der Himmel über ihr ist wolkenlos. Dann kommt der Nebel.

Landminen gehören zu den nachhaltigsten Produkten, die es gibt. Schon jetzt richten sie Furchtbares in der Ukraine an. Auch in anderen Ländern.