Sie gehorchen schon wieder zu viel

Ein Saal in einem altehrwürdigen Kloster, zwei üppige Deckengemälde aus der Barockzeit, zwanzig Frauen und Männer stehen in hygienekonzeptgemäßen Abständen im Kreis. Der Dozent hat Karteikarten mit Sprüchen ausgegeben – Stimmbildung für Lehrkräfte in akustisch anspruchsvollem Gelände –, die jede und jeder nun quasi als Meisterstück dem Plenum darbieten soll. Sinn und Unsinn sind dabei, und die Runde ist fast zu Ende, da gehen die Köpfe plötzlich hoch. Ein Spruch lässt aufhorchen und lenkt die Aufmerksamkeit von der perfekten Performerin im Nu auf den Inhalt (das tut gute Performance – sie stellt die Botschaft in den Mittelpunkt, nicht die Botin): „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen. – Hannah Arendt.“ Verhört? Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen?! Stirnrunzeln, fragende Gesichter. Bei einer indischen Gruppe, mit dem statischen Kastenwesen im Hinterkopf, habe dieser Satz die Übung glatt gesprengt, erzählt der Dozent.

Hannah Arendt stellt unsere Erwartungen formal und inhaltlich komplett auf den Kopf – nicht nur die von Indern, sondern auch die meiner Schüler, als ich den Satz in der nächsten Stunde an die Tafel schreibe. „Jeder Mensch hat die Pflicht zu gehorchen“ – das erwarten die Jugendlichen und assoziieren „Mensch“ mit „Schüler“. Sie lassen sich dann darauf ein, dass man in bestimmten Situationen auch das Recht haben könne, den Gehorsam zu verweigern … aber dass kein Mensch das Recht habe, zu gehorchen?!

Neugierig geworden habe ich nach der Fortbildung begonnen zu recherchieren …
1960 war Adolf Eichmann, ideologisch gestähltes Organisationsgenie, der von seinem Berliner Schreibtisch aus Millionen europäischer Juden in die Züge zu den Vernichtungslagern dirigiert hatte (von der Effizienz seiner Tätigkeit überzeugte er sich bisweilen vor Ort), in Argentinien von einem Mossad-Kommando entführt und nach Israel ausgeflogen worden – der entscheidende Hinweis auf eine Quelle hatte die Israelis über den Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer erreicht (packend und im Kern historisch zutreffend verfilmt in: „Der Staat gegen Fritz Bauer“), obwohl deutsche Behörden und vermutlich sogar die Bundesregierung spätestens schon zwei Jahre vorher seinen Aufenthaltsort kannten, ihn Tel-Aviv aber nicht verrieten, um etwaige belastende Aussagen gegen deutsche Politikprominenz zu verhindern. Als Eichmann dann vor einem israelischen Gericht stand, verteidigte er sich damit, lediglich Befehlen gehorcht zu haben, ja, er führte entschuldigend an, er habe doch nur im Sinne der Kantischen Pflichtenethik gehandelt.
Mehr als zwei Jahre sind seit der Hinrichtung Eichmanns vergangen, als Hannah Arendt in einem Interview darauf reagiert. Dabei fällt der Satz: „Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen.“ Will meinen: Es gibt kein Recht auf unbedingten Gehorsam, d.h. ohne die Grundlage im Kantischen Sinn zu prüfen, ob sich also die zugrundeliegende Norm (das Gesetz, die Verwaltungsvorschrift etc.) auch zur Maxime allgemeinen Handelns machen lasse. Eichmanns Versuch, Kant für sich in Anspruch zu nehmen, sei eine Unverschämtheit.
(Eine ausführlichere Darstellung gibt z.B. das Südtiroler Nachrichtenportal anlässlich der Aufstellung eines antifaschistischen Mahnmals mit dem verkürzten Arendt-Zitat 2017)

Ist das Zitat in dieser Fassung nicht gleich viel besser zu verstehen? Atmet es doch nicht mehr ganz so heftig den anarchistischen Geist, den viele mit den 1960er-Jahren verbinden. Nicht mehr so leicht misszuverstehen. Aber der Stachel schmerzt auch nicht mehr so. Vielleicht sollte er das aber. Und das katapultiert mich ins Jahr 2021.

Ich finde, es wird in deutschen Landen inzwischen schon wieder zu viel gehorcht. Damit rede ich nicht einem dubiosen und abstrusen Anarchismus das Wort. Aber ich frage mich, warum erwachsene, oft auch gebildete Menschen sich Vorschriften und Gesetzen anscheinend grundsätzlich fügen – gemäß der erlernten Devise meiner Schüler. Die Tatsache, dass angeordnet wird, ist ihnen Legitimation genug.
Ja, ich gebe zu, die Corona-Zeit hat meine Wahrnehmung geschärft, und es befremdet, ja entsetzt mich beinahe täglich, wie willfährig viele Zeitgenossen sich in alle möglichen und unmöglichen Anordnungen (incl. Beschneidung ihrer Grundrechte) nicht nur klaglos schicken, sondern sich mitunter beinahe noch damit angefreundet zu haben scheinen. Was mir richtig wehtut: Grundschulkinder, die im Morgenradio treuherzig bekennen, wie sie sich doch inzwischen an die Masken gewöhnt haben (Konjunktiv) und bisweilen sogar vergäßen, sie nach der Schule abzuziehen. Ist das nicht rührend, wie die Kleinen den Altruismus bereits verinnerlicht haben? Ich gehe dabei an die Decke! Warum wird eigentlich so selten gesendet, dass mancherorts die Kinderarztpraxen schon überquellen, weil der junge Organismus, durch’s Maskentragen dem notwendigen Immunisierungsprozess gegen das tägliche Allerlei anstürmender Viren etc. entzogen, v.a. bei Atemwegserkrankungen plötzlich mit schweren Verläufen reagiert?! Dass die Erwachsenenwelt also Kinder, für die Corona praktisch nie eine ernsthafte Gefahr darstellt,  als Schutzschilde missbraucht, um sich selbst zu schützen, und einmal mehr jede Menge „Kollateralschäden“ billigend in Kauf nimmt?!

„Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“ Danke, verehrte Hannah Arendt, für diesen subversiven, im Wortsinn „umstürzenden“ Spruch, der wider den Stachel von Mainstream-Geplapper und allzu seligem Vertrauen gegenüber denen „da oben“ löckt!

Die Deutschen – ich meine mit dieser unzulässigen Verallgemeinerung die schweigende Mehrheit – gehorchen schon wieder zu viel und überlassen das Denken anderen. Um Corona geht es mir dabei gar nicht primär, sondern um künftige Herausforderungen, die für unsere Gesellschaft womöglich weitaus schwerwiegender sein werden als das, was uns dieses Virus abverlangt. Dann in einem Land leben zu müssen, wo gehorcht wird, statt dass selbstständig gedacht wird, wünsche ich weder mir noch meinen Kindern.

Geschwister im Irrationalen

Längst befassen sich Philosophen und Psychoanalytiker mit den Mechanismen von Verschwörungstheoretikern. Dabei könnte der Eindruck entstehen, als seien sie in der Corona-Pandemie die einzigen Fehlgeleiteten. Mir scheint hingegen, die Protagonisten des anderen Extrems glichen ihnen mehr, als dass sie sich von ihnen unterschieden. Sozusagen zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Die Antagonisten der Verschwörungstheoretiker, welche jene scheuen wie der Teufel das Weihwasser, sind diejenigen, die uns seit Beginn der Pandemie mit immer neuen Horrorszenarien überziehen. Für sie ist Corona das Schlimmste, was dieser Welt je passiert ist – alle anderen Übel fallen dagegen nicht ins Gewicht. Oder wie es in der bisweilen eher verkniffenen als satirischen Ecke meiner Tageszeitung hieß: Wenn erst einmal alle geimpft seien, würde das Leben wieder sicher. Als hätten sich sämtliche Risikofaktoren des Universums im Corona-Virus konzentriert und man müsse da (und nur da) stets mit dem Allerschlimmsten rechnen. Ich habe beruflich und privat schon zu viel gesehen, um diesen Unsinn zu glauben.

Mit dem Schlimmsten rechnen auch die Verschwörungstheoretiker – nur dass sie es nicht vom Virus, sondern von Menschen, v.a. von Politikern, erwarten. Denn in Wirklichkeit haben einige wenige global player die ganze Pandemie eingefädelt, um uns zu täuschen und zu beherrschen, das Eigentliche läuft zu 100% hinter den Kulissen ab, wo Seilschaften und Lobbyisten die Strippen ziehen.

Beides ist zugegebenermaßen nicht völlig falsch: Das Corona-Virus führt mitunter zu schweren Krankheitsverläufen, die mit bleibenden Schädigungen oder sogar dem Tod enden können. Und Politiker führen uns manchmal an der Nase herum und lassen uns darüber im Unklaren, wem sie alles verpflichtet sind oder sich verpflichtet gemacht haben.
Nur: Wenn das Schlimmste zum Normalfall und das Negativste des Negativen zum Dreh- und Angelpunkt der Weltsicht wird, beginnt es neurotisch zu werden. Denn beide Gruppen machen aus dem „Restrisiko“, das Leben immer darstellt, eine Faktizität, der alle zwangsläufig unterliegen werden. Und die Angst vor dieser Gefahr dominiert Wahrnehmung und Handeln so stark, dass alles schief werden muss: Die Verschwörungstheoretiker verheddern sich in bizarren Manipulationsgespinsten, die Unheilspropheten in wahnwitzigen Katastrophenszenarien.

Beide Gruppen bilden in sich eine elitäre Kaste der Wissenden, die je nachdem mitleidig oder polemisch auf das ignorante Gros der Bevölkerung herabblickt, das die drohende Gefahr einfach nicht wahrhaben will. Doch es braucht ein gewisses Maß an Verdrängung, um psychisch gesund zu bleiben: Wer nur noch auf das starrt, was alles passieren kann, lässt sich lähmen, wird am Ende unglücklich und vergisst das Wichtigste: zu leben.

Rigoletto und die Taliban

Ein Vater will die Schande tilgen, die der Liebhaber seiner ledigen Tochter über die Familie gebracht hat, und heuert dazu einen Auftragskiller an. Der schwanzgesteuerte Täter, der seine Machtposition missbraucht, um alles zu ficken, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, soll als Strafe für seine Unmoral ins Jenseits befördert werden, damit die verletzte Ehre (am ehesten des Vaters, nicht der Tochter) wiederhergestellt ist.

Philipp Stölzl inszeniert den Ehrenmord des 19. Jahrhunderts an diesem schwülen Sommerabend auf der Seebühne in Bregenz als akrobatisches Spektakel (Verdi wäre “Bravi! Bravi!” schreiend durch die Ränge gelaufen), das augenzwinkernd Anleihen von “King Kong” bis zum “Planet der Affen” nimmt: die technisch stupend realisierte Verwechslungsposse als grotesker Nachhall einer kaum noch glaubbaren, primitiven Vergangenheit.

Es ist der Abend, an dem die Taliban in Kabul einrücken und die Kontrolle über das Land an sich reißen, dessen Freiheit so viele am Hindukusch verteidigen wollten.

Aus den Boxentürmen auf der Bühne rollt Gewittergrollen heran, während einige Zuschauer ihre Köpfe besorgt zu den Bergen wenden, wo in diesem Augenblick ein echter Blitz über den Himmel zuckt.

Werden Mädchen nun wieder aus den Schulen verbannt und Frauen, die die Ehre ihrer Familien besudeln, indem sie sich dem jahrtausendelang verbrieften Besitzanspruch ihrer Eigentümer entziehen, bis zum Hals in der Erde eingegraben und zu Tode gesteinigt?

Vor dem riesigen Kopf auf der Bühne, der mit fortschreitender Eskalation des Geschehens, Rigolettos grassierende innere Desintegration abbildend, Augäpfel, Nase und schließlich die Zähne eingebüßt hat, schießen auf dem Höhepunkt des Dramas Wasserfontänen zu Blitz und Donner aus den leeren Augenhöhlen, als das Opfer statt des Täters den Stich ins Herz abbekommt. Die Rache fällt auf den zurück, dem die Rachlust die Sinne geraubt hat. Die Wasserbäche, die immer noch die Wangen hinab rinnen – sind es jetzt Tränen?

Um kurz nach sieben am nächsten Morgen bringt gegenüber unseres Hotels eine junge Frau im Business-Dress ihre Tochter in die KiTa, während in der Ferne der letzte Donner grollt – das Gewitter ist vor Tagesanbruch niedergegangen. Es war nicht das letzte.

Kollateralschaden

Ein Posaunist wird Polizist,
taugt nur noch als Kulturstatist,
man sieht hier, was Corona ist,
dass einer in der Not vergisst,
was er gelernt zu seiner Frist,
so hat derselbe, Realist,
was zweifellos ein großer Mist,
nun von der Bühne sich verp…

Nach einer Meldung auf SWR 2

Schwerelosigkeit für Nicht-Milliardäre

Wir erleben Myriaden Sekunden, und doch wird’s immer nur eine, eine einzige, die unsere ganze innere Welt in Wallung bringt, die Sekunde, da … die innere, mit allen Säften schon getränkte Blüte blitzhaft in Kristallisation zusammenschießt – eine magische Sekunde (Stefan Zweig)

Was Branson und Bezos schaffen, kann ich auch. Aber wesentlich kostengünstiger. Umweltverträglicher. Vielleicht sogar: wiederholbar.

Nein, ich bin gewiss nicht zum ersten Mal im Wasser. Aber dieses Mal ist etwas anders als sonst. Ich habe den kleinen Badesee einmal durchquert, kehrtgemacht und schwimme nun zurück. Vielleicht sind es die von milder Abendbrise erweckten Wellen, die auf mich zulaufen und mir weismachen, ich glitte mit doppelter Geschwindigkeit zügig voran, vielleicht der blaue Himmel, den ich gerade zuvor in Rückenlage geschaut habe, oder auch nur die Stille nach einem Tag voller Worte – plötzlich bin ich ganz leicht und schwebe bar jeden Gewichts voran, anstrengungslos,  fließe im Fließenden, und der See ist auf einmal mein Raumschiff, in dem ich schwerelos unterwegs bin, ungehindert, ungebremst und doch in Verbindung mit allem, und was ich in diesen Minuten ‚sehe‘, ist mehr als ein Blick vom Weltraumbalkon auf den blauen Planeten.

Das starke und das schwache Geschlecht

Eine Studie der Martin-Luther-Universität Halle will gezeigt haben, dass die Geschlechter beim Sport unterschiedliche Leistungen bringen, je nachdem ob andere zusehen oder nicht. Untersuchungen beim Biathlonwettkampf ergaben: Männer laufen ohne Publikum langsamer als sonst, Frauen schneller.

Das eigentlich Interessante an Studien ist ihre Interpretation, so auch hier: Warum verhalten sich die Geschlechter unterschiedlich? Meine These: Männer sind stärker nach außen orientiert, Frauen stärker nach innen. Männer sind grundsätzlich mehr angewiesen auf externe Beziehungen und reagieren entsprechend auf die Anwesenheit oder das Ausbleiben von Zuschauern. Anwesenheit provoziert ihr Bedürfnis, sich darzustellen und eine möglichst günstige Außenwirkung zu erzielen (Evolutionsbiologen würden dazu Imponiergehabe und Paarungsverhalten assoziieren), wodurch im Endeffekt höhere Leistungen erzielt werden. Frauen hingegen können sich durch die Abwesenheit von Publikum noch stärker als sonst auf sich selbst konzentrieren und kommen dadurch zu besseren Leistungen. Kurz gesagt: Männer brauchen Publikum für ihre beste Performance, Frauen brauchen nur sich selbst. Überspitzt?

Dagegenhalten ließe sich, dass dieselbe Studie beim Schießen zum genau umgekehrten Ergebnis kommt: Männer schießen vor Publikum nämlich schlechter als sonst, Frauen besser. Lässt sich auch dieser Befund mit meiner Theorie herleiten?

Möglicherweise spielt beim Schießen der Faktor Nervosität eine stärkere Rolle als beim Skilaufen. Der entsprechend höhere Leistungsdruck vor Publikum würde dem Schützen demnach eine unruhigere Hand bescheren: er verfehlt vor Zuschauern eher das Ziel als allein. Warum Frauen in dieser Situation besser schießen als ohne Zuschauer, bleibt für mich allerdings offen. Erklärungen willkommen!

2021

Man kennt die alten Science-Fiction-Filme, die mit ihrem Titel mehr oder weniger weit ins 21. Jahrhundert vorstoßen. “2001 – Odyssee im Weltraum” (Stanley Kubrick 1968) und unzählige andere. Und wie meist gab es Vorläufer in der Literatur, wie George Orwells “1984” von 1949.

Heute Abend blieb mein Auge im unteren rechten Bildschirmbereich hängen, wo Windows freundlicherweise Datum und Uhrzeit einblendet. Und auf einmal traf mich die Jahreszahl mit aller Wucht: 2021! 2021! Wie ein Reisender auf der Bahnfahrt zwischen München und Hamburg, der nach einem Nickerchen hinter Hannover aufwacht.

1980 sollte die Münchner U-Bahn bis Neuperlach fertiggestellt sein – darauf fieberten wir als Schulkinder hin, denn dann mussten wir nicht mehr die olle Trambahn benutzen: die Moderne hielt Einzug. Das war vor mehr als 40 Jahren.
Die nächste Zäsur: das Millennium. Wie oft stellte ich mir mich im Jahr 2000 vor! Was bis dahin mein Beruf sei, ob ich Frau und Kinder habe, wo ich wohnte etc. Und alles war damals noch so weit weg!
Seitdem sind schon wieder mehr als 20 Jahre vergangen, und heute Abend bin ich schockiert darüber, dass wir schon so weit ins 21. Jahrhundert vorgedrungen sind.

Auf welche Zäsur lebe ich inzwischen hin? Auf das Ende der Verbrennungsmotoren? Auf meinen Ruhestand (noch ist das in meinem Kopf keine Jahreszahl, auch wenn ich sie leicht ausrechnen könnte)? Seltsamerweise fallen mir keine ein. Es gibt sie nicht mehr, die großen Zäsuren. Das Leben findet jetzt statt, nicht in der Zukunft – wenn das meine Lehre aus den bisherigen Jahrzehnten ist, wäre es nicht die schlechteste …

Der Raum

Bisher habe ich nur Leute gesehen, die den Raum verließen oder ihn betraten. Wohl habe ich aber Kenntnis von vielen anderen – ohne sie allerdings jemals getroffen zu haben -, dass sie sich früher einmal in diesem Raum aufgehalten haben.

Ich selbst habe immer nur das erlebt, was sich innerhalb dieses Raumes abspielte. Dass es hier drinnen weitergeht – nicht alles, das zu behaupten wäre unzutreffend -, auch wenn jemand den Raum verlässt, habe ich schon oft erfahren. Dass es weitergeht, wenn ich ihn verlasse –  „hier weitergeht“ wäre in diesem Moment nicht mehr korrekt -, vermag ich mir ehrlich gesagt nicht vorzustellen. Als hörte der Raum auf zu existieren, sobald ich ihn verließe – wie lächerlich! Es sei denn, der Raum existierte nur in meinem Kopf. Dann würde er mit meiner Abwesenheit tatsächlich aufhören zu existieren. Manche glauben das tatsächlich. Aber das kann ich mir noch weniger vorstellen.

So werde ich mich wohl oder übel an den Gedanken gewöhnen müssen, dass es hier (jetzt kann ich noch „hier“ sagen, ohne zu wissen, wie ich mich dann räumlich verorte) ohne mich weitergehen wird. Obwohl auch das im Grunde keine Rolle spielt, ob ich mich daran gewöhnt habe oder nicht. Der Raum jedenfalls wird noch da sein, wenn ich ihn verlassen habe, und alle diejenigen, die sich in jenem Augenblick in ihm aufhalten.

Drei Kinder am Bach

Drei Kinder spielen am Bach. Sie sind ungefähr gleichen Alters und unterscheiden sich voneinander sicherlich in vielerlei Hinsicht, ohne dass ich dies auf den ersten Blick sehen könnte. Was ich sehen kann, hätte ich früher so beschrieben: Das erste Kind ist weiß, das zweite schwarz, das dritte asiatisch.
Mein Bauchgefühl sagt mir, dass diese Beschreibung im Filter vieler Sprachpolizisten hängenbleiben würde. Ist sie rassistisch? Eines ist sie auf jeden Fall: ungenau.

„Weiße“ sind nicht weiß, auch wenn sie so genannt werden. In einem (ursprünglich französischen) Bilderbuch zeigt ein schwarzes Kind einem weißen Kind auf erfrischende Weise, wie „weiße“ Kinder  je nach Situation verschiedene Hautfarben annehmen: rot (Wut), grün (Übelkeit) etc. Am Ende des Buches sagt das schwarze zum weißen Kind: „Und du sagst, dass ich farbig bin?“

Die korrekte Bezeichnung für die Nachkommen der schwarzen Sklaven in Amerika lautet  heute „Afro-Amerikaner“ (in meiner Kindheit waren sie so wie die Schwarzafrikaner „Neger“ [von lateinisch niger = schwarz], was nicht im mindesten abwertend war, sowenig wie noch früher „Mohr“). Allerdings weiß ich nicht, ob dieses Kind zu dieser Gruppe gehört oder aus Afrika kommt (im Sinne von: direkt von Menschen abstammt, die in Afrika heimisch sind oder waren).

Möglicherweise würde mir jemand nun entgegnen: Welche Rolle spielen diese Details überhaupt? Seltsamer Gegensatz: Einerseits wird Diversität in einer noch nie dagewesenen Differenziertheit wahrgenommen, auf der anderen Seite soll diese Diversität dann z.B. in einer Beschreibung keinerlei Rolle spielen und stattdessen öde Gleichmacherei herrschen?

Beschreibe ich das dritte Kind als „asiatisch“, so werden die meisten Europäer sich das Kind mit Gesichtszügen vorstellen, wie sie Menschen in China, Japan, Korea, Vietnam usw. haben (Menschen mit Schlitzaugen, so hieß das früher – ist das rassistisch?), also im östlichen Teil Asiens. Sie werden sich kaum ein Mädchen aus Indien vorstellen und schon gar keinen arabischen Jungen. Dabei könnte ein indisches Kind ohne weiteres eine dunklere Hautfarbe haben als ein Kind, das aus dem früher sogenannten „Schwarzafrika“ stammt, welches heute politisch korrekt „Subsahara-Afrika“ heißt und alle Staaten südlich der großen Wüste umfasst.

Die von mir gebrauchten Begriffe (weiß, schwarz, asiatisch) halten einer genauen Überprüfung nicht stand. Aber sie sind zumindest in unseren Breiten konventionalisiert, d.h. mit einer bestimmten Semantik verbunden. So denken wir bei „schwarz“ eben nicht an einen Menschen indischer Herkunft mit dunkler Hautfarbe, sondern an jemanden, dessen Vorfahren (oder er selbst) aus dem Afrika südlich der Sahara stammen. Und der Begriff „asiatisch“ ruft nicht die Vorstellung eines Menschen aus dem Mittleren Osten auf, sondern diejenige von einem Menschen aus dem fernen Osten.
So mögen diese Begriffe zwar sachlich ungenau sein, ermöglichen zumindest für Menschen, die in diesem Kulturkreis sozialisiert wurden, jedoch eine ziemlich exakte Vorstellung.

Zurück zum Anfang: „Das erste Kind ist weiß, das zweite schwarz, das dritte asiatisch.“
Damit ist nichts darüber gesagt, wo diese Kinder geboren wurden und Bürger welchen Landes sie sind. Wohl aber über ihren Phänotyp, über ihre äußere Erscheinungsform als Menschen. Diese mit konventionalisierten Begriffen zu beschreiben erscheint mir (Europäer und vermutlich schon ein „weißer alter Mann“) nicht als rassistisch.

Übrigens: Während man früher relativ unbefangen von „Menschenrassen“ sprach (ohne deshalb notwendigerweise ein Rassist zu sein), wird inzwischen grundsätzlich nicht mehr von Rassen gesprochen. In einem Beitrag erfahre ich z.B., dass weiße Europäer genetisch gar enger mit Ostafrikanern verwandt sind, als Ostafrikaner mit indigenen Südafrikanern.
https://www.swr.de/wissen/1000-antworten/warum-gibt-es-keine-menschenrassen-tierrassen-gibt-es-doch-auch-100.html

Aber wenn ich Kindern beim Spielen im Bach zuschaue, sehe ich von ihrem Genom herzlich wenig.

Zum Schluss: Warum habe ich bei meiner Beschreibung das weiße Kind an die erste Stelle gesetzt? Vermutlich deshalb, weil in unserer Region Menschen mit diesem Phänotyp in der Mehrzahl sind. Auch das hat mit Rassismus nichts zu tun.

Merke: Es ist nicht alles so einfach, aber auch nicht alles so kompliziert, wie uns derzeit von manchen eingeredet wird.