Versuchen Sie Ihr Glück!

„Komme planmäßig vor 18 Uhr nach Hause“, tippe ich auf WhatsApp ein, als ich im Zug sitze. Bis zum ersten Umsteigen geht noch alles halbwegs nach Fahrplan. Nur der Anschluss-ICE hat bereits mehr als zehn Minuten Verspätung. Das wird eng beim zweiten Umstieg.

Als wir in den nächsten Bahnhof einrollen, gibt es eine Durchsage: Sechs Gleise weiter fährt der Anschlusszug ab. Die Zugführerin jovial: “Versuchen Sie Ihr Glück!” Meine Nachbarin gegenüber am Tisch und ich sehen uns an. Bahnfahren ist einfach immer lustig – wäre es mein Anschluss, fände ich das ziemlich dreist.
Hinter mir beginnt es zu husten. Einmal, zweimal, dreimal. Viele Male. Zu viele Male. Ich beschließe, mich mit Arbeit abzulenken, doch das WLAN ist so mies, dass ich ständig herausfliege. Die Huster in meinem Rücken zu zählen wird mein neuer Zeitvertreib. Allmählich entdecke ich ein Muster. Ungefähr alle zehn Sekunden kommt einer. Hätte der Mitreisende eine Chance für einen Eintrag im Guinness Buch der Rekorde? Ich rechne hoch. Er hätte. Meine Nachbarin und ich sehen uns in Abständen fassungslos an. Eine Teilnehmerin der Fortbildung, von der ich komme, war am Morgen Corona-positiv, der Test in der Gruppe bei allen negativ – jetzt hat sich bestimmt schon die vielfache Virenlast in meinem Genick versammelt.

Inzwischen hat das Zugteam gewechselt, deshalb ermutigt mich niemand, mein Glück zu versuchen, als wir in den Bahnhof einfahren, wo ich umsteigen muss: ich könnte es angesichts unserer Verspätung vertragen. Fast tut es mir leid, mich von meiner Nachbarin verabschieden zu müssen, mit der mich mittlerweile eine innige Leidensgemeinschaft verbindet. Ein Blick auf das Gleis, wo ich meinen Anschlusszug zu erblicken hoffe, erspart mir den schweißtreibenden Sprint. Schon weg. Mein Bauchgefühl hatte mich sowieso schon nach den nächsten Verbindungen sehen lassen. Erfreulicherweise wird sich die Verspätung in Grenzen halten, ich kann sogar direkt fahren. Als ich zum Reiseplan weiterscrolle, ist auf einmal doch ein Umstieg vorgesehen. Die angegebenen vier Minuten müssten dafür dicke reichen, überschlage ich und springe in die nächste Bahn. Kurz vor dem Halt bleibt der Zug stehen. Als wir zwei Minuten zu spät ankommen, sehe ich am Nachbargleis meinen Anschluss. Ich sprinte durch die Unterführung. Vor dem Einstieg sicherheitshalber ein eiliger Blick auf die Abfahrtstafel. „Bitte beachten Sie den Aushangplan.“ Ist das jetzt mein verdammter Zug oder nicht? Ich hämmere auf den grünen Knopf, die Türen gehen auf. „Fährt der nach W.?“ schreie ich ins Abteil hinein. „Nee, der ist schon weg.“ Neben mir am Bahnsteig hat jemand inzwischen den Lokführer ans Fenster bekommen. „Am besten fahren Sie nach M. zurück – aber genau weiß ich das auch nicht.“ Die Bahn fährt ein Gleis weiter gerade ein. Wieder sprinte ich los und bedaure einen älteren Mann hinter mir – er muss sein Fahrrad schultern, um es durch die Unterführung zu schleppen. Kopfschüttelnd folgt er mir die Treppe hinunter.

Der Zug am Nachbargleis ist noch da, das Abteil, in das ich hineinsteche, so gut wie leer. Entnervt lasse ich mich in einen Sitz fallen. Als ich merke, dass es an meinem Hinterteil feucht wird, ist es bereits zu spät. Ich springe vom Sitz auf und will gar nicht wissen, in was ich mich hineingesetzt habe. Ein paar Minuten später bin ich wieder in M. Während ich am Bahnsteig auf die nächste, selbstverständlich verspätete Bahn warte, strecke ich meinen Po, an dem die nasse Hose klebt, der Abendsonne entgegen. Stehend verbringe ich die letzte halbe Stunde im Zug und freue mich auf die Dusche zuhause. Sie fällt länger aus als die üblichen energiesparenden drei Minuten.

Wäre ein interessantes Projekt