Über Angst lässt sich nicht streiten (2)

Dass unsere Gesellschaft den Tod verdränge, hielt ich bis vor kurzem für ein Klischee, griesgrämigen Theologenhirnen entsprungen, um mit erhobenem Zeigefinger auf die weit verbreitete Diesseitsorientierung hinzuweisen. Seit der Corona-Pandemie glaube ich mehr und mehr: Die Theologenhirne haben Recht.

Über Angst lässt sich nicht streiten (vgl. Teil 1 zu diesem Thema) – wohl wahr! Aber was steckt hinter dieser Angst, vor der die deutsche Gesellschaft mit ihrem politisch-hygienetechnischen Feuerwerk, das mir in Teilen unlogisch, maßlos und/oder ineffektiv erscheint, in die Knie geht? Wie bringt es dieses Virus fertig, dass manche Menschen, hoch in den Achtzigern, sich in freiwillige Isolation begeben und ihr Haus nicht mehr verlassen, direkten Kontakt sogar zu Verwandten (Enkeln, Kinder) meidend – wieder einmal mit Aussicht auf ein Weihnachten allein? Natürlich: Es gibt auch die alte Witwe, die beim 85. Geburtstag der Busenfreundin aufschlägt und sagt: Wer weiß schon, ob wir in unserem Alter den nächsten noch erleben werden? Aber ich muss zugeben: Der hochbetagte Kollege, der sich in seiner Wohnung verschanzt, irritiert mich …

Ist es einfach die Angst vor dem Tod, die nicht ausgelöst sein kann durch eine massive Übersterblichkeit der letzten beiden Jahre, die es nicht gegeben hat (wer seine Zweifel daran hat, informiere sich bei den offiziellen Zahlensammlern der Nation, auf der Seite des Statistischen Bundesamts), aber seit Beginn der Pandemie medial evoziert wird durch die tägliche Veröffentlichung von Todeszahlen, die seriöse Rückschlüsse nur schwer zulassen? Sind es die gehäuften Schlagzeilen von überfüllten Intensivstationen – u.a. angeheizt vom baden-württembergischen Gesundheitsminister Lucha, der vom “brutalen Sterben” sprach, als vollziehe sich das Sterben auf Intensivstationen außerhalb von Corona hübsch ruhig und unauffällig – kein Wort davon, dass sich der dort herrschende Pflegenotstand einer seit Jahren ‚brutal‘ unfähigen Politik verdankt. Ist es der Eindruck, in diesem Virus einer Macht zu begegnen, die nicht kontrollierbar ist – als seien Krankheiten ansonsten allesamt kontrollierbar? Mir erscheint es manchmal so, als vereine dieses Virus für manche alles Lebensfeindliche und Destruktive im Universum in sich – als gäbe es keine anderen Gefährdungen, ja, als hätten wir vor Corona in einer sicheren Idylle gelebt und seien nun schlagartig einer extremen Gefährdungssituation ausgesetzt. Das eine ist so falsch wie das andere.

In einer neurologischen Klinik stolperte ich auf einem Stationsflur über den Text eines Plakats: “Einen Schlaganfall kriegen nur ganz alte Leute. [Neue Zeile] So ab 29.” Was für ein Schlag, so ein Schlaganfall! Der jede/n jederzeit treffen kann. Was wir völlig zu Recht verdrängen, weil wir sonst nicht leben könnten, da es ja daneben noch tausend andere Gefährdungen gibt, die uns um unser Leben oder zumindest um die Gesundheit bringen können. Aber nun beschwören manche eine Art paradiesischen Ante-Coronam-Zustand, den es noch nie gegeben hat und der allenfalls das Produkt konsequenter Verdrängung war.

Auf der anderen Seite steht das marginale Risiko, bei einer Infektion einen schweren Verlauf zu erleiden oder gar zu sterben, und – natürlich: die Betreffenden sind dann massiv davon betroffen. Trotzdem ist Covid nicht die Pest – das wurde in vielen medialen Äußerungen der letzten beiden Jahre, die sich z.T. in apokalyptischen Schilderungen gefielen, nicht immer hinreichend deutlich.

Ich glaube, es ist die Angst vor dem Tod, die unsere Gesellschaft derzeit fest im Griff hat. Besser gesagt: die Angst, dieses Leben früher loslassen zu müssen, als einem lieb ist, vielmehr: es überhaupt loslassen zu müssen. Die Berichterstattung über Corona hat Sterben und Tod aus ihrer Randexistenz herausgeholt, die sie im allgemeinen Bewusstsein innehatten, und unversehens zu einem gesellschaftlichen Thema erhoben – das hat die kurz zuvor geführte Debatte über assistierten Suizid nicht annähernd geschafft: Sie blieb, wiewohl sogar öffentlich im Bundestag geführt, abseits der Berufspolitiker und der wenigen akut Betroffenen auf ‚Berufsethiker‘ beschränkt.

Doch plötzlich erscheint der eigene Tod als reale Möglichkeit. Menschen können in unserer Zeit alt werden, ohne auch nur ein einziges Mal in ihrem Leben einen toten Menschen gesehen zu haben – und nun liefern ihnen Medien täglich Todeszahlen! Und die bislang geübte Verdrängung, durch die das eigene Ende de facto geleugnet oder – selbst bei Hochbetagten – auf einen Sankt Nimmerleinstag verschoben wird, funktioniert auf einmal nicht mehr und mutiert darüber zum Abwehrmechanismus: Alles, aber auch wirklich alles muss diese Gesellschaft unternehmen, um mir dieses Schicksal zu ersparen, um mir zu ersparen, dass ich sterben muss.

Dieser bis zum Exzess betriebene Schutz des Lebens ohne Rücksicht auf diejenigen, die den Preis dafür zahlen, entsteht aus der Unfreiheit dessen, der in Angst vor der eigenen Endlichkeit lebt. Unser Leben ist ein wunderbares, herrliches, einzigartiges Leben. Unser Leben ist ein gefährdetes, vergängliches, winziges Leben. Göttlich und elend. Und wie viele andere wichtige Dinge erfassen wir es angemessen nur, indem wir uns nicht daran klammern. Der paradoxe Satz des Nazareners „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren“, hat hier seine Berechtigung. Was ich unter allen Umständen in meiner geballten Faust festhalten muss, macht mich zu einem unfreien, ängstlichen Menschen. Aber weil ich nicht darüber verfüge, brauche ich mich nicht darum zu sorgen. Denn tatsächlich führe ich mein Leben, ob mir dies bewusst ist oder nicht, täglich im Angesicht des Todes. Sich das klarzumachen ängstigt nicht, sondern befreit. Und in diesem Bewusstsein LEBE ich! Das heißt Freiheit leben.

Rabbi Bunam sprach zu seinen Schülern: „Jeder von euch muss zwei Taschen haben, um nach Bedarf in die eine oder andere greifen zu können: In der rechten liegt das Wort: ‘Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden’, und in der linken: ‘Ich bin Erde und Asche.’“ (Aus den Chassidischen Erzählungen von Martin Buber)

Anders gesagt:
Ich will das Leben umfassen, als ob es kein größeres und schöneres gäbe.
Und ich will mich ebenso hin und wieder darin einüben, das Leben loszulassen, als ob es das kleinste und geringste wäre.

Nur: Über all das lässt sich tatsächlich nicht streiten. Das geht weiter, tiefer. Mehr Gespräch als Diskussion, eher über Transzendenz statt Inzidenz. Braucht es am Ende den Glauben an ein Leben nach dem Tod, um zu dieser Freiheit zu gelangen? Es ist gewiss leichter, wenn ich mich mit meiner Existenz in einem größeren Zusammenhang aufgehoben fühlen kann – aber zwingend nötig ist dieser Glaube nicht, um frei leben zu können.

Über Angst lässt sich nicht streiten (1)

Über Angst lässt sich bekanntlich nicht streiten. Oder ging der Satz anders? Und wenn schon, bezogen auf die Angst ist er in jedem Fall aktueller, als wenn es um Geschmack geht. Schon merkwürdig, dass auch der aufgeklärte, informierte Mensch immer noch noch so viel Angst hat. Oder hat er sie gerade deshalb, weil er so aufgeklärt und informiert ist?

Dabei hat er eigentlich nur vor einer einzigen Sache Angst: vor Corona. Ist es nicht merkwürdig, dass Menschen, die sich mit ihrem Fahrzeug tollkühn in den immer dichter werdenden Verkehr werfen, freiwillig Reisen in Flugzeugen auf sich nehmen und durch ungesunde Ernährung sowie Bewegungsmangel ihre Lebenszeit verkürzen, gleichzeitig jede noch so absurde Corona-Regel peinlichst genau befolgen, um sich nur ja nicht anzustecken?

Im Gartencenter beschwerte sich eine Frau vor mir an der Kasse, sie könne nicht bezahlen, da ich zu wenig Abstand einhielte. Meinen Hinweis, wir trügen doch beide Masken und seien sicher auch geimpft, konterte sie hinter ihrem FFP2-Schutzschild mit dem unschlagbaren Argument, meine OP-Maske schütze sie nicht. Auf dem Parkplatz einige Minuten später wurde ich Zeuge, wie sie beinahe von einem rangierenden Auto überfahren wurde. In Wirklichkeit konnte ihr natürlich nichts passieren. Denn Menschen sterben zur Zeit tatsächlich nur an Corona.

Das Problem ist: Über Angst lässt sich nicht streiten. Es ist wirklich so. Und wer die Angst anderer mit rationalen Argumenten zu überwinden sucht, wird schnell auf abweisende Mienen und verhärtete Herzen treffen. Einem anderen Menschen die Angst abzusprechen, indem man verschiedene, einem selbst einleuchtende Gründe vorbringt, warum Angst in dieser Situation unangebracht oder übertriebene Angst zumindest fehl am Platze sei, ist, als würde man einem Menschen seine Würde absprechen. Die Angst des Menschen ist unantastbar, so steht es schon im Grundgesetz. Halt, ich werde schon wieder zynisch. Nein, es ist nach meiner Erfahrung tatsächlich das Kernproblem: Über Angst lässt sich nicht streiten.

Was hinter dieser Angst stehen könnte, folgt in Teil 2.

Sehr geehrter Bischof!

Sehr geehrter Bischof!

Die ersten Kliniken machen dicht und untersagen Besuche grundsätzlich (außer in absoluten Ausnahmefällen). In kürze ziehen dann die Pflegeeinrichtungen nach? Werden die Kirchen wieder schweigen und die geringsten Schwestern und Brüder Jesu im Stich lassen? Wie lange noch gehen wir widerspruchslos vor der anscheinend kollektiven Angst vor dem Tod in die Knie, die keine Grenze zu kennen scheint und daraus immer neuen, maßlosen Aktionismus gebiert, „Kollateralschäden“ jedweder Art in Kauf nehmend im verzweifelten Wahn, damit das eigene Leben zu retten? Eine Kirche, die aus der Kraft der Auferstehung lebt, kennt noch andere Werte und Güter und erinnert die Gesellschaft daran, auch wenn sie damit quer zum Mainstream liegt – frei nach Schiller: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht – der Übel größtes aber ist die Angst“.

Wie schal wirken alle Versuche, vergangene, im Raum der Kirche begangene Sünden aufzuarbeiten, wenn die Augen blind bleiben für aktuelles Unrecht! Wer wird uns eines Tages dafür mit Recht anklagen?!

Meine adventliche Vision für 2021 (in Anlehnung an Jesaja 40): Die Kirchen setzen sich an die Spitze eines Protestzugs durch die Wüste der Unmenschlichkeit  …

Der General

Sehenswert: „Kevin Kühnert und die SPD“ – sechsteilige NDR-Doku, die den damaligen Juso-Chef  von 2018 bis 2021 mit Kamera und Mikrophon begleitet hat (ARD-Mediathek).

Er ist klein, wie einer seiner Vorgänger im Geiste, aber er ist das Zentrum der Galaxie, und er weiß es, ohne es sich heraushängen zu lassen. Er weiß auch, dass er gut ist – momentan der Beste, den seine Partei zu bieten hat, wenn es darum geht, zu motivieren und anzuführen.

Mich faszinieren Politiker, die charismatisch sind und ihr Ding durchziehen – als hinge ihr Leben davon ab. Gleichzeitig machen sie mich argwöhnisch – weil ihr Leben davon abhängt. Kevin Kühnert gehört mit gerade 32 Jahren zur ersten Garde der SPD, und manche meinen, der Königsmacher werde in Kürze bald selbst den Thron erklimmen.

Doch dieser Mann, der genau weiß, was er will, kann warten – eine wichtige Tugend auf dem Weg zur Macht. Als ihm 2019 aus allen Richtungen angetragen wird, auf die Avancen der ewig ambitionierten Gesine Schwan einzugehen und mit ihr als Duo für die Parteiführung anzutreten, scheint dies bei aller Hinhaltetaktik von Anfang an ausgeschlossen für ihn zu sein. Stattdessen coacht er (!) später Borjans & Esken vor ihrer entscheidenden Vorstellungsrede für den Parteivorsitz in der Stichwahl gegen Scholz & … wie hieß nochmal dessen Partnerin?

Die hängenden Mundwinkel aus Schwaben vermag indes auch der Zauberer KK nicht zu liften – seine vergeblichen Versuche wirken beinahe rührend. Doch dann ist es geschafft, die zwei sind knapp durch. Im Team von Kühnert fallen sie sich jubelnd in die Arme, brechen in Tränen aus, während KK gefasst und ruhig das tut, was er ständig tut: auf Twitter tippt er gerade den programmatischen Post zum Tag – er hat schon längst die nächsten Schritte im Visier. Was an diesem Abend stattfindet, ist ein Etappensieg auf dem Weg zum Ziel, nicht weniger, aber auch nicht mehr …

Die mürrischen Mundwinkel von Esken gehen nach glücklich erfolgter Wahl vor laufenden Kameras immerhin für einen Augenblick nach oben. Wann sie sich ihres Sieges sicher geglaubt habe? „Als ich das Ergebnis erfahren habe.“ Gelächter im Hintergrund. Kühnert, lässig im Bürostuhl vor dem Bildschirm rotierend, Arme hinterm Kopf verschränkt, Augen an der Decke: „Ach, es wird alles sehr schwierig, aber wir werden auch viel Spaß mit ihr haben.“ Selbstironischer Kommentar eines Regisseurs, der genau weiß, dass er sein Stück nicht mit den besten Leuten auf die Bühne bringen kann, aber momentan leider keine anderen hat.

Und reden kann er: ein rhetorisches Kabinettstückchen ist seine Rote-Socken-Performance bei der Bewerbung um einen von fünf Vize-Vorsitzen in der Partei. Dieser Mann versteht es, seine Visionen in Worte umzusetzen: Worte, die begeistern und mitreißen, auch wenn er dabei mitunter wirkt wie ein ehrgeiziger Feldherr, der seine kampfesmüde Armee in eine neue Schlacht treibt. Halb belustigt, halb gönnerhaft sehen die obersten Genossen dem impulsiven Jungspund sein Ungestüm nach. Sie werden bald das Nachsehen haben.

Das Dreierfoto danach, aufgenommen mit den Vorsitzenden Borjahns und Esken, zeigt einen etwas ältlichen Einserabiturienten – zusammen mit seinen stolzen Eltern aus dem mittleren Bildungsniveau.

Und immer wieder taktieren. Er hält Burgfrieden mit dem ungeliebten Olaf Scholz, als der mangels Alternative zum Kanzlerkandidaten gekürt wird und dann, über alle Lager hinweg überraschend, die SPD bei der Bundestagswahl durch Nichtstun aus dem Tal der Tränen führt, während sein emsiger Kontrahent, unterstützt durch Medien und Öffentlichkeit, die keine Sekunde Unachtsamkeit verzeihen, sich selbst zerlegt.

Sympathisch ist er mir, als er, immer noch im digitalen Format, ankündigt, nicht mehr für den Juso-Vorsitz zu kandidieren – der nächste wohlüberlegte Schritt ist ein Bundestagsmandat. Da bekommt der sonst immer kontrolliert und souverän Wirkende plötzlich feuchte Augen.

Bislang hatte ich den Mann mit der ewigen Pausenzigarette (gab es da nicht schon mal einen in seiner Partei?) immer wieder mit dem Generalsekretär der Partei verwechselt, der auch mit „K“ beginnt. Inzwischen hat sich mir sein Name fest eingeprägt: Kevin Napoleon Kühnert. Die spannende Frage ist: Wann wird der Thronfolger das Zepter ergreifen und die k.u.k.-Epoche in der SPD einläuten? Dann sollte er endlich seinen noch pubertär klingenden Twitter-Account @KuehniKev umbenennen: am besten in @Kuehner_t-Chef.

Sind Afrikaner Ästheten?

Haben Sie schon einmal Schwarzafrikaner gesehen , die sich nachlässig kleiden? Mir fällt auf: Afrikaner (ich verwende den bei uns eingebürgerten Begriff, mag er manchen heutzutage auch nicht mehr politisch korrekt erscheinen; zu Alternativen vgl. Drei Kinder am Bach) legen in der Regel viel Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild. Im Bus, im Zug, auf einer alten Klapperkiste von Fahrrad vor der Asyl-Unterkunft – wo immer ich Afrikaner treffe, stelle ich fest: Sie kleiden sich modisch und vorteilhaft, selbst wenn sie offensichtlich nur über geringe finanzielle Mittel verfügen. Vielleicht ist es dann nur eine einzige Garnitur, die im Schrank hängt, und vielleicht gibt es manchmal gar keinen Schrank – aber das Wenige, das sie tragen, ist mit Geschmack und Sinn für aktuelle Trends gewählt. Auch Männer schmücken sich mit Ringen und Ketten, und in der Farbkomposition ist man eher mutig-frisch als zurückhaltend-gedeckt.

Mir nötigt das Respekt ab. Für mich sind sie Lebens-, Überlebenskünstler, die auf vieles verzichten, aber nicht auf ihren Geschmack für das Schöne.

Ist das klischeehaft? Gar rassistisch? Gibt es auch einen positiven, paternalistischen Rassismus? Kommentare sind willkommen …

Herbstwind

Warmer Herbstwind
hebt die Maske vom Boden
trägt sie fort

Morgen
soll es
Sturm geben

Angst (vor Wahrheit) essen Seele auf

Anmerkungen zu einem Bericht über junge afrikanische Berufsscammer und alte, einsame, weiße Männer (DIE ZEIT, 07.10.2021)

Am Haken einer attraktiven Schönheit, die immer neue emotionale Botschaften und – auf Anfrage – auch mehr oder weniger erotische Fotos verschickt, opfert ein alter, weißer Mann nach und nach sein gesamtes Vermögen, um die Frau seiner schlaflosen Nächte endlich nach Deutschland zu bekommen. Die Wahrheit, dass hinter den zu Herzen gehenden Mails ein Ghanaer jüngeren Jahrgangs steht, der Teil einer blühenden Betrugsmaschinerie ist, die halbwegs gut situierte, alleinstehende Europäer ausnimmt, blitzt ab und zu auf, wenn seine Bemühungen um Verifizierung z.B. durch Anfragen bei den dortigen Behörden negativ beschieden werden. Dennoch gelingt es ihm nicht, aus diesem fake auszubrechen und der ernüchternden Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Inzwischen hat er mehr als 150.000.- EUR, verloren, um der unbekannten Schönen habhaft zu werden, die auf ihrem Weg nach Deutschland aufgrund selbstverständlich unverschuldeter Zwischenfälle momentan in den USA ‚festgehalten‘ wird und immer noch Geld braucht, um doch noch ans Ziel seiner Träume zu kommen.

Habe ich die Kraft, mich mit der Wahrheit zu konfrontieren?

Ein alter Freund erzählte mir, er habe Anfang der 1970er Jahre als Grundschullehrer einen einbeinigen Kriegsversehrten gehabt, der jeden Tag mit einer Lobeshymne auf die vergangene Glorie von Nazi-Deutschland begann. Seine Schüler wussten in allen Einzelheiten zu berichten, wie ihm eine Granate das Bein abgerissen hatte – geopfert für Volk und Vaterland.

Wieviel Mut braucht es doch, sich einzugestehen: Ich bin einer Lüge aufgesessen! Ich habe dafür meine Gesundheit drangegeben. Ich habe bei der Unterstützung dieser Lüge die wichtigsten Jahre meines Lebens geopfert. Ich habe bei der gnadenlosen Durchsetzung dieser Lüge Verbrechen begangen. Ich habe mein Leben, meine Kraft, meine Ideale, meinen Glauben … an eine Lüge verschwendet. Es war alles nichts.

Menschen klammern sich an (Lebens-)Lügen fest, weil sie den Fraß der Wahrheit an ihrer Seele nicht verkraften.
Der einsame Witwer schreibt seinem geliebten Kontakt, der sich gerade ein drittes Auto zugelegt hat, im opferbereiten Ton des Märtyrers, dass er sich an diesem Abend lediglich von drei sehr kleinen Toastscheiben mit Butter und Marmelade ernährt hat. Er wird niemals ablassen, an die Liebe in der Ferne zu glauben. Wenn er die Wahrheit anschaut, stirbt er. Er will leben, so klammert er sich verzweifelt an den längst geknickten Strohhalm und hofft weiter.

Wie werden die Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan physisch und/oder psychisch traumatisiert wurden, ihre Erfahrungen verarbeiten? Wird ihnen die Bundesregierung (kein Problem, ihre Tage sind ja gezählt) oder unsere Gesellschaft ein geschöntes Narrativ anbieten, damit alle Seiten besser mit ihrem Opfer leben können? Oder wird es eine ehrliche Aufarbeitung geben, die Menschen die bittere Erkenntnis zumutet, sich möglicherweise umsonst geopfert zu haben? Welche Hilfestellungen hält eine Gesellschaft dann für solche Menschen bereit? Und wie geht sie damit um, einer Täuschung aufgesessen zu sein?

Aufgeregt

Ein Musiker mit halbwegs Promicharakter teilt der Öffentlichkeit auf einem Insta-Video erregt mit, er sei in einem Leipziger Hotel Opfer einer antisemitisch motivierten Verbalattacke geworden, und stellt Strafanzeige. Zahlreiche Solidaritätsadressen und Protestnoten gehen bundesweit ein und werden medial geteilt, vor dem Hotel wird eine spontane Demonstration abgehalten. In einer Kirche (sicher nicht nur in einer) wird für ein neues Bewusstsein in unserem Land gebetet. Immerhin ist auch zu lesen, der beschuldigte Hotelmitarbeiter habe bei seiner Vernehmung eine völlig andere Version zu Protokoll gegeben und seinerseits Strafanzeige wegen Verleumdung gestellt. Inzwischen sind Zweifel an den ursprünglichen Aussagen des Hotelgasts laut geworden: Ob er an jenem Tag tatsächlich eine Halskette mit Davidsstern getragen habe, die abzulegen er dann vom Mann an der Rezeption aufgefordert worden sei – daran will er sich nun nicht mehr erinnern können.

Unerheblich, wie die Sache ausgeht. Mag sein, dass sich die erste Version bestätigt, mag sein, dass der Täter kein Täter war, und vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte.

Nur: Ich bin einmal mehr fassungslos, wie blitzschnell in unserer Gesellschaft inzwischen geurteilt, verurteilt wird. Die verbalen Fallbeile sausen herunter, ehe ein Fall von allen Seiten durchleuchtet ist, bevor der Sachverhalt in Ruhe und möglichst vorurteilsfrei untersucht wurde.

Hans-Georg Gadamer, der Altmeister der Hermeneutik, hat eingeschärft, dass es zum sachgemäßen Verstehen gehört, sich über seine Voraussetzungen klar zu werden, u.a. über das Vorverständnis, das immer da ist (in diesem Fall z.B.: welche Glaubwürdigkeit hat ein unbekannter Hotelmitarbeiter im deutschen Osten, wo die AfD gerade ihren Triumpf gefeiert hat?). Die Konsequenz daraus heißt: Das Denkbare und Befürchtete darf nicht zur Faktizität werden, ehe nicht seine Evidenz erwiesen ist. Sonst werden aus Vorurteilen Urteile. Die Köpfe, die in den späteren Jahren der Französischen Revolution in steigenden Zahlen und schwindender Scheu semiindustriell mit der Guillotine abgetrennt wurden, konnten nicht mehr auf die dazugehörigen Schultern gesetzt werden. Und wer heute auf einem virtuellen Scheiterhaufen verbrannt wird, steht aus der Asche nicht mehr auf.

Fluch und Segen

„Sehr geehrte Damen und Herren, tragen Sie aktuell schon ein Hörgerät und wollen Sie gerne ein neues Modell ausprobieren? Oder sind Sie sich nicht sicher, ob Sie an einer Hörschwäche leiden und würden dies gerne einmal überprüfen?“

Die Mail hat sich erfolgreich an meinem Spamfilter vorbeigeschmuggelt. Jetzt rächt sich, dass ich bei manchen Bestellungen verpflichtend mein Alter angeben muss. Offenbar bin ich den Informationskraken im Netz aber noch nicht bis zum allerletzten Grund transparent, sonst müssten sie aus meinen im digitalen Orbit kreisenden Daten wissen, dass mir mein HNO-Arzt beim letzten Mal das Gehör eines 25-Jährigen bescheinigt hat und ich diese Mail deshalb (fast) ungelesen in den Papierkorb verschieben werde. Allerdings erinnere ich mich momentan nicht mehr daran, warum ich zum Test antrat – das weist vielleicht doch auf fortgeschrittenes Alter hin …

Fluch oder Segen der Algorithmen? Ganz klar, auf welcher Seite ich mein Kreuz machen würde!
Da fällt mir ein, dass ich diesen Sommer im Internet auf einen Text gestoßen bin, der mich persönlich ein ganzes Stück weitergebracht hat. Unsere Wege hätten sich vermutlich niemals gekreuzt, wäre auf meinem Handy nicht dieses Fenster aufgeploppt, das wodurch erzeugt worden war? – natürlich: durch einen Algorithmus. Also doch auch ein Kreuzchen auf die „Segen“-Seite?
Ehrlich gesagt bin ich ganz froh, dass ich in dieser Frage keine grundsätzliche Entscheidung treffen muss und auch gar nicht kann. Für die eine Perle bin ich vielleicht doch bereit, etwas Mist zu bewegen …