Kurzgeschichten

Später Frühling

Immer wenn er in seine Geburtsstadt kam, suchte er das Grab seiner Eltern auf. Doch an jenem Tag fand er es nicht mehr. Der schlichte Grabstein, entworfen nach dem von Sparsamkeit getriebenen Wunsch der Mutter, der statt eines exakten Datums lediglich Geburts- und Sterbejahr preisgab, war nicht mehr da. Stattdessen protzte ihm ein breites Monument entgegen, dessen goldene Lettern auf schwarzem, poliertem Marmor, angereichert durch einen banalen Sinnspruch und eine Farbfotografie, eine Mischung aus Wohlstand und Geschmacklosigkeit verrieten.

Erst jetzt fiel ihm der Brief ein, den er vor Monaten gedankenlos auf den Stapel mit unerledigter Post verschoben hatte. Die Ruhezeit für das Grab seiner Eltern, so hatte ihm das städtische Friedhofsamt mitgeteilt, war abgelaufen. Innerhalb einer bestimmten Übergangsfrist hatte er Gelegenheit, das Grab abzuräumen, bevor es erneut belegt werden konnte. Was inzwischen offensichtlich geschehen war.

Die bisherigen Bewohner hatten keine Chance gehabt zu protestieren. Sie waren einfach ausquartiert worden. Falls man sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, ihre Überreste aufzusammeln. So oder so kam die Vergangenheit immer wieder nach oben, früher oder später. Aber Knochen waren wenigstens stumm.

Er wandte sich um und ging. Es war sein letzter Besuch hier.

Zu seinem Ritual gehörte es, das andere Grab zu besuchen, bevor er den Friedhof verließ. Dass er wegen des Elterngrabes nun nicht mehr kommen würde, schien ihm ein guter Anlass, auch dort seinen Abschiedsbesuch zu machen. Seltsam genug, dass es immer noch nicht aufgelöst war – nach fast siebzig Jahren. Jedes Mal, wenn er in den Kiesweg an der Friedhofsmauer einbog, hatte er damit gerechnet, es nicht mehr vorzufinden, und ein Teil von ihm wünschte es sich auch. Der andere Teil hoffte, die Dämonen würden, solange das Grab bestand, sich eher hier aufhalten als in seinen Träumen.

Das Grab war immer noch da. Unverändert standen die drei Namen auf dem Stein. Ihrer in der Mitte, darunter die Namen der Eltern. Der Vater war der Tochter ein paar Jahre später gefolgt, die Todesnachricht drang bis zu ihm an seinen Studienort durch. Die Mutter hatte den Ehemann um mehr als zwanzig Jahre überlebt. Aber auch ihr Tod lag schon mehr als vierzig Jahre zurück. Die Erde war glatt gerecht, die Bepflanzung frisch. Wer hielt das Grab immer noch in Schuss? Geschwister hatte sie keine gehabt, und dass jemand aus der weiteren Verwandtschaft sich solche Mühe damit machte, war höchst unwahrscheinlich.

Ihren blauen Wollmantel sah er als erstes. Weit offen in der lauen Frühlingsluft und im Fahrtwind flatternd. Sie kam mit ihrem Fahrrad direkt auf ihn zu. Elsa Schwerdtfeger aus der Sexta, ein aufgewecktes Mädchen mit dunkelblonden Locken. Aber in diesem Augenblick sah er nur ihren Vater, mit dem dünnen Oberlippenbärtchen und der muffigen Strickjacke, der sich vor ihm aufbaute und ihm seine Arbeit unter die Nase hielt:
„Assmann, wenn das nicht bald besser wird, weiß ich nicht, was ich deinem Vater sagen soll.“
Andere fuhren auch schlechte Zensuren ein, ohne dass sie vorgeführt wurden. Lag es daran, dass sein Vater, der es immer gut mit den Nazis konnte, seine Firma nach dem Krieg in Rekordzeit wieder aufgebaut hatte, während der Lehrer als Sozi mehrere Jahre im KZ verbracht hatte?
„Was kann ich für meinen Vater?!“ hätte er ihn am liebsten angeschrien, aber er blieb mit heißen Ohren in der Bank sitzen.

Sie klingelte fröhlich, doch statt aus dem Weg zu gehen, sprang er auf sie zu, streckte die Arme aus und ließ einen Brüller los. Ihr Gesicht erstarrte, sie riss den Lenker herum und schoss an der Fahrbahnseite an ihm vorbei. Zum ersten Mal an diesem Tag grinste er, schob die Hände zurück in die Taschen und schlenderte zufrieden mit sich selbst weiter.

Der dumpfe Schlag ein paar Augenblicke später raubt ihm die Unbekümmertheit seiner Jugend und legt ihm eine Last auf die Schulter, die für den Rest seines Lebens mit seinem Fleisch verwächst. Unzählige Male hat er ihn seitdem gehört, am allermeisten in seinen Träumen. Und jedes Mal springt ihn das entsetzliche Geräusch von hinten an wie damals, als er vor Schreck vornüberfällt. Er will sich nicht umsehen, kaum dass er sich aufgerappelt hat, beginnt er zu rennen, nur weg von hier, und im Rennen hält er sich die Ohren zu, er will nichts hören von der gespenstischen Stille hinter ihm, und hetzt davon, bis er das Elternhaus erreicht hat. Wild keuchend lehnt er für Minuten, die ihm zu Stunden werden, an der steinernen Türlaibung, und das einzige, was er hört, ist das Blut, das in seinen Schläfen pocht.

In all den Jahrzehnten seitdem hatte er mit keinem Menschen darüber gesprochen. Zuerst konnte er nicht, und später schien es ihm zu spät, als dass das Reden darüber noch etwas hätte nützen können. Die Dämonen würde er in diesem Leben nicht mehr loswerden – die verstreichende Zeit konnte ihnen nichts anhaben. Aber es reichte, wenn sie ihm nachts ins Genick sprangen, es mussten nicht noch Unbeteiligte mit hineingezogen werden.

Er hat die Frau nicht bemerkt, die ans Grab gekommen ist und mit einer Gießkanne die frische Anpflanzung wässert. In all den Jahren ist er hier noch nie jemandem begegnet. Er schätzt sie über siebzig.
„Sind Sie verwandt?“
Als hätte nicht er selbst das gesagt.
„Nein, nicht verwandt.“
Sie sieht, dass er nicht zufrieden ist.
„Mein Bruder hatte eine … Verbindung zu ihr.“
Sie stellt die Gießkanne auf den Rasen neben dem Grab.
„Zu ihr“ wiederholt er.
„Elsa“, sagt sie.
„Ja, Elsa“, sagt er.
„Haben Sie sie gekannt?“
Jetzt fragt sie.
„Flüchtig. Sie war ein paar Klassen unter mir.“
Er sieht sie jetzt zum ersten Mal an.
„Und Ihr Bruder? Hat der sie gekannt?“
„Eigentlich nicht. Er war dreizehn Jahre älter.“
Er schweigt.
Ihr Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse.
„Mein Bruder hat sie totgefahren.“
„Ich weiß“, sagt er.
Sie schaut ihn fragend an.
„Das wussten damals alle.“
Er fügt es fast entschuldigend hinzu.
„Ja“, sagt sie.

Es gab keine Augenzeugen, die zum Hergang befragt werden konnten. Außer dem Autofahrer. Sie war plötzlich und unvorhersehbar mit ihrem Fahrrad auf die Straße gefahren, sagte er aus. Vielleicht hatte sie etwas erschreckt, vielleicht war es kindliche Unachtsamkeit, jedenfalls hatte er nicht mehr ausweichen können. Ein tragischer Unfall. Das Verfahren wurde rasch eingestellt.

„Aber er war unschuldig. Warum sind Sie dann …?“
Sie nickt.
Aus einer Plastiktüte neben dem Grabstein holt sie einen Kehrbesen und beginnt mit energischem Strich ein paar Erdbrösel von der Einfassung zu fegen.
„Mein Bruder hat mir das Versprechen abgenommen, sich nach seinem Tod um das Grab zu kümmern.“
„Obwohl er nicht schuld war?“
Das Blut pocht in seinen Schläfen.
„Mein Bruder hat schwer daran getragen.“
Er tritt einen Schritt zurück, als sie auf seine Seite herüberkommt.
„Aber er konnte doch nichts dafür, dass sie in diesem Augenblick plötzlich auf die Straße gefahren ist.“
Sie antwortet so leise, dass er es kaum hören kann:
„Wenn es so gewesen wäre, ja …“
Er muss sich zusammenreißen, um sie nicht am Arm zu packen.
„Was soll das heißen?“
Seine Pupillen zittern.
„Kurz vor seinem Tod“, sie fixiert den Namen auf dem Grabstein, „hat er es mir erzählt.“
Tonlos fährt sie fort:
„Er war auf dem Weg zu einem Rendezvous, hat im Innenspiegel nach seiner Frisur gesehen und ist dabei von der Fahrbahn abgekommen. Als er es merkte, hat er das Steuer sofort wieder herumgerissen und den Wagen wieder auf die Straße gelenkt.“
Es pocht in seinen Schläfen.
„Aber da war es schon passiert.“
Sie klopft den Besen seitlich an ihrem Schuh ab.
„Sie fuhr auf dem Gehweg.“
Unter ihm gibt der Boden nach.

Er weiß nicht, was die Frau noch zu ihm gesagt hat. Erst als das Friedhofstor hinter ihm quietscht, ist er wieder bei sich. Er knöpft den Mantel auf, fühlt das schweißnasse Hemd darunter. Die Luft ist mild.

Weitere Kurzgeschichten

Sieben oder: Globalisierung viral

Begegnung am Pass

Katzen

Unverhofftes Wiedersehen

Weihnachten in der Kleingartenkolonie

Urlaubsstorno

Date