Kinderglaube

„Papa, warum gibt’s eigentlich weiße und braune Eier?“ Eines Samstagmorgens am Kaffeetisch stand die Frage plötzlich im Raum. Wie so oft kam sie aus dem Mund meines Sohnes, der mich halb interessiert, halb aufmüpfig ansah, als traue er mir die Antwort nicht so recht zu. Da es sich um eine gänzlich simple Angelegenheit handelte, nahm ich mir die Zeit, etwas zu bluffen. Ich legte die Stirn in Falten, verharrte so  ein paar Sekunden, kniff die Augen zusammen und antwortete dann mit einer Gegenfrage: „Hast du dir schon mal einen Hühnerpopo aus der Nähe angesehen?“ Natürlich hatte er nicht. „Jedes Huhn hat am Popo einen kleinen Schalter.“ Der Satz kam sachlich, lapidar. Die Kinder hingen an meinen Lippen. „Wenn man den Schalter nach oben stellt, werden die Eier weiß. Stellt man ihn nach unten, werden sie braun.“ Stille. Drei Kinder sahen sich an. Sahen mich an. Mein ausdrucksloses Gesicht.

An diesem Tag wuchs meine Autorität als Vater beträchtlich. Zwar hatten mich nach meiner Antwort durchaus gewisse Zweifel beschlichen, ob ich das Missverständnis nicht hätte aufklären müssen. Aber was hätte ich damit bei diesen zarten Kinderseelen angerichtet? Ihr aufrichtiges und bislang nie enttäuschtes Vertrauen zu mir wäre für immer zerstört worden. Früher oder später würden sie es selbst herausfinden. So wie bei der Geschichte vom Klapperstorch.

Eine Weile später kam das Gespräch in der Familie auf Litfaßsäulen – obwohl es in unserem Ort keine einzige dieser Säulen gab, anders als in der Großstadt, wo ich die ersten Jahre meiner Kindheit verbracht und schon früh eine Litfaßsäule ‚erfahren‘ hatte. Die Firma Bärenmarke hatte damals Werbegeschenke für Kinder in Umlauf gebracht: eine Maske aus Karton in der Form eines Bärenkopfes, die man mittels eines Gummis über das Gesicht zog. Und nun fuhr ein kleiner Bär mit seinem Kinderfahrrad auf dem Gehweg dahin, bis ihm die Maske über die Augen rutschte und sein Blindflug abrupt von einer – genau! – Litfaßsäule gestoppt wurde.

Beiläufig streute ich ein, die Litfaßsäule verdanke ihren Namen einem gewissen Theodor Litfaß, der sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfunden habe. „Ja klar, genau wie die Hühner mit den Schaltern“, war die prompte Reaktion meiner Großen. Offensichtlich neigte sich die unschuldige Zeit ihrer Kindheit dem Ende zu. Ich seufzte: „Ok, ich geb’s zu, das war damals fake. Unter uns gesagt: Ich hätte doch im Leben nicht daran gedacht, dass ihr mir das abkauft.“ Sie schwiegen beschämt und beleidigt.

„Die Litfaßsäule hat ihren Namen sicher nicht von einem Litfaß“, sagte mein Sohn bestimmt. Woraufhin Tante Google befragt wurde, die uns darüber belehrte, ein gewisser Litfaß habe im 19. Jahrhundert die erste dieser Säulen aufgestellt; dass sein Vorname Ernst war und nicht Theodor, fiel angesichts meiner genialen Leistung nicht ins Gewicht. Die Nachkommenschaft schwieg tief beeindruckt und andächtig ob des stupenden Wissens des Vaters, obwohl dieser lediglich 1 und 1 zusammengezählt hatte.

Von diesem Tag an glaubten sie mir alles – bis auf die Sache mit den Socken. Es war im Winterurlaub: Wir kamen von der Piste und stiegen mit dampfenden Strümpfen aus den Skistiefeln. Infernalischer Gestank erfüllte den Skikeller. „Mit israelischen Armeesocken würde das nicht passieren“, bemerkte ich mit verschnupft klingender Stimme, denn ich hielt mir die Nase zu, „die stinken nämlich nicht.“ „Voll gelogen“, erboste sich mein Sohn, „sowas gibt’s nicht!“ Aus taktischen Gründen konfrontierte ich sie noch nicht mit der Lösung – eingewebte Silberfäden absorbieren den Geruch -, sondern arbeitete auf eine Zuspitzung hin, um ihren Zweifel zu erschüttern: „Wer wettet mit mir?“ Meine Große schlug ein. Ein vergnügter Vater hatte nach der Aufklärung alle Hände voll zu tun, die im Stimmungssturzflug befindliche Jugend wieder aufzubauen.

Seitdem schwankten meine Kinder in strittigen Wissensfragen ob meiner Antworten immer zwischen Skepsis und Ehrfurcht. Aber wetten, dass sie ihren eigenen Kindern mal vom Schalter am Hühnerpopo erzählen werden?