Heroisch

Kleinkinder im Zug nerven. Sie quengeln, kreischen oder daddeln mit schrillen elektronischen Geräten. Wenn ich ein Großraumabteil betrete, bin ich konzentriert wie ein Rentner montags um acht bei ALDI: Sind Kinderstimmen zu hören? Kuscheltiere zu sehen? Dudelt aus einer Sitzgruppe die Sandmännchen-Melodie? Oder krabbelt im Flur gar eines dieser kleinen Monster herum?

Ich hatte per App auf meinem Sitzplatz eingecheckt, als über der Rückenlehne drei Reihen vor mir das schokoladenverschmierte Gesicht eines kleinen Blondschopfs auftauchte. Leider war es zu spät, den Platz zu wechseln, und so entschloss ich mich zu einem heroischen Schritt: Ich würde als reifer Erwachsener, der ich bin, die Herausforderung annehmen und das Gejaule über mich ergehen lassen. Sicher werde ich keiner dieser nörgligen Alten, die  sich ihren Ruhestand verderben lassen, nur weil auf dem Bolzplatz vor ihrem Haus 24/7 gekickt wird. Der Blondschopf hat sich inzwischen in meine Richtung vorgearbeitet und quetscht sein Gesicht zwischen Sitz und Zugwand: “Guck mal draußen, wie viele Eisenbahnen!”  Ich nicke und antworte halblaut, auch wenn mir dadurch der wichtige Gedanke entsprungen ist, den ich gerade notieren wollte: “Ja, toll.” Mit Kindern zu reden ist unerlässlich für die Sprachentwicklung in den ersten Lebensjahren. “Was machst du da?” Schön, wenn ein Kind so lebhaftes Interesse zeigt. Ich antworte, ohne von meinem Laptop aufzublicken: “Schreiben.” Man muss sich den begründeten Fragen der nächsten Generation stellen, sie hat ein Recht darauf. Bewusst geräuschvoll tippe ich auf der Tastatur weiter, da taucht im Flur ein zweiter Blondschopf auf, Zopf über der Stirn und Schnulli in der Schnute. Ich gucke schnell weg – Kinder müssen die Welt auch mal ohne die Hilfe von Erwachsenen erkunden dürfen.

Nein, einer von diesen verbiesterten Ü70ern werde ich nicht werden, auch wenn ich es etwas übergriffig finde, dass mein kleiner Freund auf einmal neben mir steht und auf meinen Laptop zeigt: “Liest du mir was vor?” Wurden die Eltern im Kindergarten nicht darauf hingewiesen, dass Pädophile überall ihr Unwesen treiben? Wo stecken die Eltern eigentlich? “Weißt du, das ist nichts für Kinder”, sage ich freundlich, aber bestimmt. “Du bist gemein!” beschimpft mich der Kerl und stampft mit dem Fuß. Ich trage es mit Gleichmut: Kinder müssen Grenzen gewiesen bekommen und eine gewisse Frustrationstoleranz entwickeln. Vielleicht habe ich dem Kind gerade die wichtigste Erfahrung in seinem bisherigen Leben ermöglicht. Der kleine Racker dreht heulend um. Er wird wohl eine Weile brauchen, das zu verarbeiten, denke ich, als mich etwas am Schienbein kitzelt. Der Schwester-Blondschopf sitzt unter dem Tisch und sieht mich erwartungsvoll an. “Das kitzelt”, sage ich und versuche, dabei zu lachen. Offensichtlich habe ich meine Freude nicht überzeugend genug vermittelt, denn im nächsten Moment spüre ich einen stechenden Schmerz: Das Luder hat mich gebissen! Ich ziehe das Balg unter dem Tisch hervor, das aufstößt und sich auf die Tastatur meines Laptops übergibt.

Meine zahlreichen Mails an die Deutsche Bahn, kinderfreie Waggons auszuweisen, wurden bisher nicht beantwortet.

Während es sich bei „Versuchen Sie ihr Glück“ um eine waschechte Realsatire handelt (alles ist tatsächlich passiert), habe ich in diesem Text gegen Ende hin meiner Phantasie das Kommando überlassen …