Anspruch auf Unversehrtheit – das neue Narrativ

Was mich an der gegenwärtigen Krise am meisten verstört, ist die Selbstverständlichkeit, wie das Narrativ vom legitimen Anspruch auf Unversehrtheit (und Unsterblichkeit) das gesellschaftliche Handeln steuert. Statt die Brüchigkeit und Endlichkeit einzurechnen, scheint man vom Menschenrecht auf körperliche Gesundheit und (fast) ewiges Leben auszugehen.

Dem muss alles andere untergeordnet werden. Da spielt es keine Rolle, welche ‚Kollateralschäden‘ die Corona-Maßnahmen auslösen, wenn nur dieses Menschenrecht gewahrt bleibt und alles nur Erdenkliche getan wird, um diesen Anspruch durchzusetzen.

Nicht nur dass hier der Eindruck entsteht, es gebe neben Corona keine anderen Erkrankungen oder Gefährdungen menschlichen Lebens.
Nicht nur dass unter den Tisch fällt, wie Epidemien schon immer Opfer gefordert haben und dies mehr oder weniger stillschweigend so akzeptiert wurde, weil es keinen absoluten Schutz gibt.
Nicht nur dass übersehen wird, wie auch die jetzigen Maßnahmen Menschen das Leben kosten – z.T. sogar im ganz wörtlichen Sinn, wenn alte Menschen an ihrer erzwungenen Isolation sterben oder sich sogar das Leben nehmen.

Der Kampf gegen Corona wird überhöht zu einem Kampf um Anspruch auf Unversehrtheit. Als könne und müsse der Staat die Verantwortung dafür übernehmen, diesen Anspruch durchzusetzen. Als könne und dürfe ich als Individuum diesen Anspruch gegenüber irgendeiner Macht auf dieser Erde formulieren. Als sei dieser Anspruch realisierbar, wenn nur genügend Sorgfalt und Verantwortlichkeit eingesetzt werde, wenn nur alle an einem Strick zögen und sich mit allen Kräften bemühten.

Passiert doch etwas, dann nur deshalb, weil irgendjemand zuvor versagt hat, der für diese Fehlleistung dann auch belangt werden kann – am besten juristisch. Denn hätte er seinen Job ordentlich gemacht, wäre es nicht zu dieser ‚Panne‘ gekommen.

Dahinter steckt die Vorstellung, dass Todesfälle und andere Katastrophen prinzipiell vermeidbar wären, falls nur der Sorgfaltspflicht Genüge getan würde.
Es ist dieselbe Auffassung, die in der Vergangenheit schon zu Klagen nach missglückten medizinischen Eingriffen oder der Geburt eines behinderten Kindes geführt hatte – als gäbe es eine Garantie auf Gelingen, wenn sich alle an die Regeln hielten. Nun artikuliert sie sich als genereller Anspruch auf ein Leben ohne Katastrophen.

Demgegenüber sollte an die Weisheit der Alten erinnert werden: media vita in morte sumus – mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Es gibt kein Menschenrecht auf Unversehrtheit und auch keines auf langes Leben (oder gar Unsterblichkeit).
Es gibt keine Instanz, vor der dieser Anspruch geltend gemacht werden könnte, und keine, die imstande wäre, ihn durchzusetzen.
Wir sollten uns deshalb nicht selbst und voreinander belügen, indem wir so tun, als sei die Politik diese Instanz oder als bräuchte es nur genügend guten Willen, um ihn durchsetzen.

Denn diese Auffassung ist nicht nur naiv, sondern gleichzeitig gefährlich. Denn andere berechtigte Ansprüche bleiben auf der Strecke. Mit einer gewissen Gnadenlosigkeit wird alles Handeln der Maxime untergeordnet, die Unversehrtheit zu gewährleisten.
„Leben erhalten“ wird zur obersten Maxime, der sich alles andere unterordnen muss. Leben erhalten statt Leben gestalten.

Wer an dieses Narrativ rührt, läuft Gefahr, angefeindet zu werden. Denn er rührt an das, was im Hintergrund steht: die Angst vor dem Tod. Wenn irgendetwas in den letzten Jahrzehnten die oft vertretene These von der Verdrängung des Todes belegt, dann die Corona-Krise.