Leben heißt …

Cogito, ergo sum – ich denke, also bin ich, so René Descartes im 17. Jahrhundert. Auch wenn nichts an meinem Denken sicher ist – DASS ich denke, beweist, dass ich existiere.

„Holt mich nicht so ab“, würden meine Kinder sagen. Wie es heute heißen müsste?

Communico, ergo sum – ich kommuniziere, also bin ich. Auch wenn mir zur Zeit vieles wegbricht, was bisher sicher war – DASS ich kommuniziere, beweist, dass ich lebe!

Schüler schaffen es, sich morgens aus den Decken zu schälen, weil sie wissen, dass in wenigen Minuten die Online-Konferenz ihrer Klasse beginnt, wo sie einander zwar nicht sehen dürfen (weil das System sonst abstürzt), aber zumindest ihre Lehrkraft. Wenigstens können sie im Chat schreiben und für einen Augenblick auch mal ihr Mikrophon freischalten und das Wort ergreifen. Viel Aufwand mit möglicherweise überschaubarem pädagogischen Ertrag – aber kommuniziert wird! Gelebt wird!

Die leibliche Anwesenheit ist auf Dauer jedoch durch kein noch so raffiniertes Medium zu ersetzen. Wer jemals allein gelebt hat, „dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe“ (Dietrich Bonhoeffer), weiß, wie köstlich allein die Anwesenheit anderer Menschen um einen herum sein kann. Wie Kolleginnen und Kollegen, die ich zuvor als selbstverständlich erlebte, plötzlich Farbe und Licht ins Leben bringen.

Ich kommuniziere, also bin ich. Leben heißt in Verbindung mit anderen stehen. Nicht nur virtuell.  Ob Politiker, die von einem Meeting (leibhaftig oder virtuell) zum nächsten eilen, ermessen, dass die aktuellen Kontaktbeschränkungen manchen Menschen ‚das Leben nehmen‘?

Lust auf Leben

Es hasste ein Vater Raketen,
“Das ist“, sprach er, „nur für Proleten“.
Doch dann kam Silvester,
wer knallte als erster?
sein Sohn – und er guckte betreten.

Hatte ich vor vielen Jahren diesen polemischen Limerick gereimt, so wurde ich an diesem Silvester Zeuge einer plötzlichen Sinneswandlung – meiner selbst …

Ich liebe seit gestern Raketen
und hätte viel mehr noch erbeten.
Wer knallt, protestiert,
und wo sich was rührt,
ist Leben noch immer vertreten.

Mit dir

So haben wir wieder
ein Jahr miteinander
geschafft

Zum Teil hast du’s mir echt schwer gemacht
hast mich enttäuscht
an manchen Tagen wollte ich dich
nicht mehr sehen

Aber dann konnte ich mich wieder auf dich verlassen
du bist bei mir geblieben
hast mich überrascht
und sogar mal begeistert

Macht das eine das andere wett?
Ich weiß es nicht
aber da sind wir
nun
am Ende dieses Jahres

Also dann
auf ein gutes neues
mit dir
meinem
Ich

Weihnachten in der Kleingartenkolonie

Mary Jane hat sich schon die letzten Tage nicht gut gefühlt. Ihre Mutter liegt ihr immer in den Ohren, dass sie sich ungesund ernährt. Vielleicht hat sie ja Recht. Keine Hose kriegt sie mehr zu. Im neuen Jahr wird sie endlich abnehmen. Nicht so viel Döner, Pommes und Cola, dann kommt alles wieder in Ordnung.

Unter normalen Umständen würde sie heute daheim bleiben. Aber die Vorstellung, Heiligabend mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder verbringen zu müssen, ist dann doch zu heftig. Zu einem gemeinsamen Abendessen lässt sie sich noch überreden. Aber als der Kleine alle Geschenke ausgepackt hat und Science-Fiction-Kampfmaschinen gegeneinander antreten lässt, während ihrer Mutter auf dem Sofa langsam die Augen zufallen, ist sie weg. „Macht‘s mal gut, bis morgen“, und schon hat sie die Tür hinter sich zugezogen.

Auf der Straße wartet Yussuf, ihr Freund. „Hi“, sagt er und versucht eine Umarmung, aber sie hält ihn auf Distanz. Wie schon die ganze letzte Zeit. Er merkt es, aber sagt nichts. Bei Frauen weiß man nie, was gerade mit ihnen los ist. Am besten Klappe halten, irgendwann sind sie wieder normal.

Vor ihrer Stammkneipe stehen Danny und Marc, eingehüllt von Zigarettenqualm. Sie gehen rein und bestellen was zu trinken. Immer wieder steht Mary Jane auf und verschwindet Richtung Toilette. Als sie wieder kommt, lässt sie sich stöhnend nieder. „Was ist denn mit dir?“, fragt Marc schließlich. „Hat’s dich irgendwie erwischt?“ „Weiß nicht“, sagt Mary Jane, „mir ist schon den ganzen Tag nicht gut.“ Sie schnauft tief. „Ich kann nicht mehr sitzen. Können wir ne Runde gehen?“

Draußen hat es angefangen zu nieseln. „Pisswetter“, brummt Yussuf, während er versucht, Mary Jane vor dem Regen zu schützen. „Ey, Alter, wo wollen wir eigentlich hin?“ Danny bleibt stehen. Marc zeigt über die Straße. „Wenn wir durch die Kleingartenkolonie gehen, sind wir am schnellsten an der Schule. Da können wir uns unterstellen.“

Mary Jane wimmert. „Nicht so schnell.“ „Mensch, Mary, wir werden total nass.“ Yussuf packt sie fester, zieht sie vorwärts. Auf dem Weg durch die Kleingartenanlage sind überall Pfützen. Als Yussuf seine Freundin daran vorbei bugsiert, entgleitet sie ihm und sinkt zu Boden. „Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr“, wimmert sie. Yussuf sieht sich hilfesuchend um. „Packt mit an“, bedeutet er seinen Kumpels, „wir bringen sie zu der Hütte da.“ Zu dritt schleppen sie Mary Jane auf das nächste Grundstück – das Tor ist zum Glück offen. Schwarz ragt das Dach vor, angebaut ein überdachter Sitzplatz mit einer Biertischgarnitur. Schwer atmend hieven sie Mary Jane auf den Tisch. Sie stöhnt immer heftiger. “Wartet“, sagt Yussuf und rüttelt am Türriegel. „Keine Chance. Wir müssen sie hier draußen lassen. Wenigstens wird sie nicht nass. Haben wir ein Teil zum Zudecken?“ Danny bringt von irgendwoher einen fleckigen Karton, den schieben sie Mary Jane unter den Rücken. Marc zieht eine Plastikfolie aus dem Eck, die legen sie ihr über die Jacke. „Wir müssen Hilfe holfen“, sagt Danny und zieht sein Smartphone heraus. „Hat jemand die Nummer ihrer Mutter?“ “Ey, Alter, was willst du mit ihrer Mutter? Die muss ins Krankenhaus!“, unterbricht ihn Marc. „Marc hat Recht“, sagt Yussuf. „Ruf den Krankenwagen. Das is was Ernstes.“

Der Notarzt musste für eine erkrankte Kollegin einspringen. Zuhause müssen seine Frau und zwei Kinder nun allein Weihnachten feiern. Wie gern hätte er die Augen seiner Tochter gesehen, wenn sie das große Puppenhaus auspackt. Und seinen Sohn, wenn er seinen ersten Laptop bekommt. Zum Glück ist so viel los, dass er nicht oft dazu kommt, an seine Familie zu denken.

Ein Notruf kommt herein: Eine junge Frau mit starken Bauchschmerzen, Ort: Kleingartenkolonie: Seltsam. An diesem Tag und um diese Uhrzeit.
Es dauert eine ganze Weile, bis sie die Hütte gefunden haben. Mehrmals sind sie auf und ab gefahren, aber das ganze Areal ist unbeleuchtet. Dann endlich hören sie jemand rufen und entdecken gleich danach einen Schatten, der in der Dunkelheit gestikuliert.

Der junge Mann trägt nur ein T-Shirt. „Da drin“, stottert er, und taumelt voraus. Der Notarzt hat schon einiges gesehen, aber das hier …
Im Kegel seiner Taschenlampe erkennt er einen Biertisch. Darauf liegt eine Gestalt, mit einer Folie abgedeckt, links und rechts neben ihrem Kopf kauernd zwei junge Männer. Getrocknetes Blut auf dem Tisch und auf dem Boden eine Lache. In einem Eimer am Boden eine gallertartige Substanz. Einer der Männer deutet zur Seite: Eine Schubkarre und darin zusammengeknüllt eine Jacke. Und in der Jacke …

Eine halbe Stunde später werden Mutter und Kind in den Sanka geschoben. Der Junge drückt dem Mädchen die Hand, er ist bleich und sieht erschöpft aus. Eine Sanitäterin schließt die Heckklappe, die drei jungen Männer ziehen ab. Als der Notarzt ins Auto steigt, spielen Bläser von einem Kirchturm „O du fröhliche“. Der Piepser geht an. Der nächste Notruf kommt herein.

Eines bleibt

Sie sagen uns, in diesem Jahr
wird alles anders sein,
ich spür die Kälte auf der Haut,
das Leben schließt sich ein.

Es geht wie eine Seuche um,
ein Nebel deckt das Land.
Wer hat die Sonne ausgeknipst?
Die Welt fährt an die Wand.

Doch eines bleibt trotz allem gleich,
du bist noch da und stehst bei mir,
was immer auch geschehen mag,
du bist noch da und stehst bei mir.

Die Masken unsrer Angst sind dicht,
wir proben Disziplin,
das Lachen hat sich rar gemacht,
Kritik wird nicht verziehn.

Noch niemand weiß, was kommen wird,
doch jeder ist im Recht,
die Panik drängt ans Regiment,
im Dunkeln sieht man schlecht.

Doch eines bleibt trotz allem gleich,
ich bin noch da und steh bei dir,
was immer auch geschehen mag,
ich bin noch da und steh bei dir.

Wir dürsten nach Umarmungen
und halten Abstand ein,
wir feiern gern im großen Kreis
und lassen niemand rein.

Was darf ich tun, was bringt Gefahr?
Das Leben wird geschützt.
Ob Leben, das du nicht mehr lebst,
am Ende dir was nützt?

Doch eines bleibt trotz allem gleich,
wir sind noch füreinander da,
das wird für immer auch so sein,
wir Menschen sind uns Menschen nah.

Drängende Fragen

Hat Dougal früher hier gesessen?
Zusammen mit Herrchen/Frauchen?
Ist sein Herrchen/Frauchen gestorben?

Ist die Bank aus einem Vermächtnis hervorgegangen?
Können Hunde erben?
Womit hat sich Dougal den Platz im Testament verdient?
Hat Dougal immer versucht, auf die Bank zu springen?
Was hat Dougal sonst noch geerbt?

Soll Dougal hier allein sitzen?
Hat Dougal ein neues Herrchen/Frauchen?
Sitzen Hunde gerne auf Bänken?
Warum braucht Dougal eine ganze Bank für sich?

Saß Dougal hier schon jemals?
Zeigte er sichtbare Zeichen der Freude (Schwanzwedeln)?
Wer hat ihn dabei gesehen?

Ist diese Bank für alle tabu, die nicht Hund sind und Dougal heißen?
Würde Dougal knurren oder beißen, falls jemand anderes auf seiner Bank säße?

Ist Dougal ein Dackel?

Ist Dougal ein Hund?

Wunschzettel

Lehrkräfte können sich künftig mit Sensoren ausrüsten lassen, die den CO2-Gehalt im Klassenzimmer messen. Abgesehen davon, dass zur obligatorischen Grundausstattung von Pädagogen früher Nasen gehörten, die verbrauchte Luft von unverbrauchter zu unterscheiden wussten: ich würde den weihnachtlichen Wunschzettel gern noch etwas verlängern:

Zuallererst wünschte ich mir einen PH-Sensor, der den Panik- und Hysteriegehalt in der Atmosphäre bestimmt und eine Grenzwertverletzung anzeigt, z.B. sobald Zahlen von Corona-positiven Sterbefällen in den Raum gestellt werden, ohne dass im gleichen Atemzug darüber aufgeklärt wird, wie viele Menschen täglich in unserem Land sterben (2019 etwa 2.500) und wie sich die aktuelle Übersterblichkeit prozentual im Vergleich zu üblichen temporären Ausschlägen (grippe- oder hitzebedingt) darstellt.

Und wenn wir schon dabei sind, würde ich gern noch einige UV-Filter ordern, in denen Unmenschlichkeits-Verordnungen hängenbleiben, so wie diese, dass manche Kliniken seit Wochen wieder grundsätzlich Besucher ausschließen und damit das Los von Menschen noch verschlimmern, die sich ohnehin schon in einer Ausnahmesituation befinden. Durchlassen würden die Filter hingegen klare Gedanken, die nicht dem Irrglauben entspringen, man könne Leben schützen, indem man es verhindert oder indem sich alle an die Regeln hielten.

Doch steht zu befürchten, dass meinen Wünschen dasselbe Schicksal beschieden sein wird wie dem Wunschzettel am Weihnachtsbaum im Foyer einer Schule, auf dem stand: „Weihnachten nicht eingeschrenkt“.

Applaus!

Das Kind entzündet in der Kirche die erste Kerze am Adventskranz, da beginnt der Mann in der Reihe vor mir – er ist psychisch krank und immer für Überraschungen gut – zu klatschen, es ist wahr, manchmal haben diese Menschen einen unmittelbareren Zugang zu den Dingen, spüren instinktiv schneller und besser, was los ist, was der Grund sein muss für seinen unvermittelten Applaus, dem ich mich spontan am liebsten anschließen möchte, was ich dann doch nicht tue, weil ich die Etikette respektiere, andererseits wird in der Kirche inzwischen bei allen möglichen Gelegenheiten geklatscht, warum also nicht hier, und so hätte ich mitklatschen sollen, statt mit den Händen im Schoß auf meinem Platz zu verharren, denn ehrlich gesagt, was lässt sich begründeter beklatschen als das Licht und dass das Licht kommt und die Dunkelheit endlich ein Ende hat, tautologisch gesprochen – endlich ein Ende – ist das fürwahr, was möglicherweise ein unbewusst verbalisierter Seufzer darüber ist, dass es nun wirklich genug sei mit der Zeit der Finsternis und sich alle, alle sehnen nach dem Licht, mag dies noch so apokalyptisch oder dualistisch oder einfach nur naiv klingen, ich stehe dazu, und deshalb applaudiere ich im Nachhinein mit jenem Weisen, der mir in diesem Moment mehr als eine Nasenlänge voraus war, dem kommenden Licht.

Was du suchst

Was du suchst, ist nicht auf den Gipfeln der Berge, nicht in den Tiefen der Meere, es ist in deinem Herzen.

Gegen diesen Satz spricht eine ganze Industrie – die des Tourismus. Sie macht uns erfolgreich klar, wir fänden das, was wir suchen, eben doch auf den Gipfeln der Berge und in den Tiefen der Meere, in den Pools der Ferienanlagen und auf den üppigen Buffets der Hotels. Finden wir es dort?

Vielleicht stimmt beides. Vielleicht finden wir das, was wir im Tiefsten suchen, nicht im Urlaub. Aber damit sich unsere Seele wieder daran erinnern kann, müssen wir fortgehen und für eine bestimmte Zeit das Vertraute hinter uns lassen. Damit unsere Seele wieder ins Schwingen kommt, braucht es Abstand von dem, was uns normalerweise Struktur gibt, aber uns in einer Mischung aus Vertrautheit und Zwang auch die Luft nimmt. Wir müssen fort ans Meer, wir müssen fort auf die Berge. Reinhold Messner hat gesagt: Ich gehe fort, um heimzukommen.

Wir müssen uns offenbar erst einmal verlieren, um uns wiederzufinden. Ich lasse all das hinter mir, was mich stützt und gleichzeitig einsperrt, und mache neue Erfahrungen mit mir selbst. Vermittelt werden diese Erfahrungen durch das, was außen ist: das Meer, die Berge etc. – aber in Wirklichkeit mache ich eine Erfahrung mit mir selbst, spüre ich darin doch eine neue Dimension meiner eigenen Existenz, die über die Zeit vielleicht zu kurz gekommen ist: Die Weite des Meeres lässt mich wieder die Weite erahnen, die in mir sein kann, die stille und majestätische Selbstverständlichkeit der Berge korrespondiert der ruhigen Gelassenheit, die ich tief in meinem Inneren spüren kann etc.

Das Äußere ist ein Abbild von dem, was meiner Seele guttut – selbst wenn es typisch neuzeitlicher Naturromantik geschuldet sein sollte. Doch vielleicht steckt in unseren romantischen Gefühlen für die Natur noch ein Rest von der Verbundenheit mit unserer Umwelt, die wir vor 400 Generationen vor dem Übergang in die Sesshaftwerdung noch in uns trugen.

Meine Seele kommt ins Schwingen – durch Impulse von außen. Mit nach Hause nehmen kann ich weder den Berg noch das Meer. Ich kann ein Bergfoto als Desktop-Hintergrund einrichten und ein Glas Sand auf den Schreibtisch stellen, aber ich kann nicht am Strand sitzen und den Wellen zuhören, wie sie am Ufer auflaufen. Das macht nichts, denn es geht ja nicht um den Strand und nicht um den Berg, sondern darum, auf meine Seele zu achten – unabhängig von Urlaub und besonderen Erlebnissen – und ihr Raum zu geben, so dass sie schließlich auch ohne Berg und Meer ins Schwingen kommt.