Anspruch auf Unversehrtheit – das neue Narrativ

Was mich an der gegenwärtigen Krise am meisten verstört, ist die Selbstverständlichkeit, wie das Narrativ vom legitimen Anspruch auf Unversehrtheit (und Unsterblichkeit) das gesellschaftliche Handeln steuert. Statt die Brüchigkeit und Endlichkeit einzurechnen, scheint man vom Menschenrecht auf körperliche Gesundheit und (fast) ewiges Leben auszugehen.

Dem muss alles andere untergeordnet werden. Da spielt es keine Rolle, welche ‚Kollateralschäden‘ die Corona-Maßnahmen auslösen, wenn nur dieses Menschenrecht gewahrt bleibt und alles nur Erdenkliche getan wird, um diesen Anspruch durchzusetzen.

Nicht nur dass hier der Eindruck entsteht, es gebe neben Corona keine anderen Erkrankungen oder Gefährdungen menschlichen Lebens.
Nicht nur dass unter den Tisch fällt, wie Epidemien schon immer Opfer gefordert haben und dies mehr oder weniger stillschweigend so akzeptiert wurde, weil es keinen absoluten Schutz gibt.
Nicht nur dass übersehen wird, wie auch die jetzigen Maßnahmen Menschen das Leben kosten – z.T. sogar im ganz wörtlichen Sinn, wenn alte Menschen an ihrer erzwungenen Isolation sterben oder sich sogar das Leben nehmen.

Der Kampf gegen Corona wird überhöht zu einem Kampf um Anspruch auf Unversehrtheit. Als könne und müsse der Staat die Verantwortung dafür übernehmen, diesen Anspruch durchzusetzen. Als könne und dürfe ich als Individuum diesen Anspruch gegenüber irgendeiner Macht auf dieser Erde formulieren. Als sei dieser Anspruch realisierbar, wenn nur genügend Sorgfalt und Verantwortlichkeit eingesetzt werde, wenn nur alle an einem Strick zögen und sich mit allen Kräften bemühten.

Passiert doch etwas, dann nur deshalb, weil irgendjemand zuvor versagt hat, der für diese Fehlleistung dann auch belangt werden kann – am besten juristisch. Denn hätte er seinen Job ordentlich gemacht, wäre es nicht zu dieser ‚Panne‘ gekommen.

Dahinter steckt die Vorstellung, dass Todesfälle und andere Katastrophen prinzipiell vermeidbar wären, falls nur der Sorgfaltspflicht Genüge getan würde.
Es ist dieselbe Auffassung, die in der Vergangenheit schon zu Klagen nach missglückten medizinischen Eingriffen oder der Geburt eines behinderten Kindes geführt hatte – als gäbe es eine Garantie auf Gelingen, wenn sich alle an die Regeln hielten. Nun artikuliert sie sich als genereller Anspruch auf ein Leben ohne Katastrophen.

Demgegenüber sollte an die Weisheit der Alten erinnert werden: media vita in morte sumus – mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Es gibt kein Menschenrecht auf Unversehrtheit und auch keines auf langes Leben (oder gar Unsterblichkeit).
Es gibt keine Instanz, vor der dieser Anspruch geltend gemacht werden könnte, und keine, die imstande wäre, ihn durchzusetzen.
Wir sollten uns deshalb nicht selbst und voreinander belügen, indem wir so tun, als sei die Politik diese Instanz oder als bräuchte es nur genügend guten Willen, um ihn durchsetzen.

Denn diese Auffassung ist nicht nur naiv, sondern gleichzeitig gefährlich. Denn andere berechtigte Ansprüche bleiben auf der Strecke. Mit einer gewissen Gnadenlosigkeit wird alles Handeln der Maxime untergeordnet, die Unversehrtheit zu gewährleisten.
„Leben erhalten“ wird zur obersten Maxime, der sich alles andere unterordnen muss. Leben erhalten statt Leben gestalten.

Wer an dieses Narrativ rührt, läuft Gefahr, angefeindet zu werden. Denn er rührt an das, was im Hintergrund steht: die Angst vor dem Tod. Wenn irgendetwas in den letzten Jahrzehnten die oft vertretene These von der Verdrängung des Todes belegt, dann die Corona-Krise.

Sternstunde

Aus der Corona-Verordnung Sport des Kultus- und Sozialministeriums Baden-Württemberg vom 25.06.20

§ 3
(2) Während der gesamten Trainings- und Übungseinheiten soll ein Abstand von mindestens 1,5 Metern zwischen sämtlichen anwesenden Personen eingehalten werden; davon ausgenommen sind für das Training oder die Übungseinheit übliche Sport-, Spiel- und Übungssituationen.
[Anm.: Dieser Satz verdient ob seiner Sinnfreiheit einen Preis!]

(3) Sofern der Trainings- und Übungsbetrieb in Gruppen stattfindet, soll eine Durchmischung der Gruppen vermieden werden.

(4) Soweit durchgängig oder über einen längeren Zeitraum ein unmittelbarer Körperkontakt erforderlich ist, sind in jedem Training oder jeder Übungseinheit möglichst feste Trainings- oder Übungspaare zu bilden.

§ 4
(3) Untersagt sind Sportwettkämpfe und Sportwettbewerbe

  1. mit über 100 Sportlerinnen und Sportlern und über 100 Zuschauerinnen und Zuschauern bis einschließlich 31. Juli 2020;
  2. mit insgesamt über 500 Sportlerinnen und Sportlern sowie Zuschaue- rinnen und Zuschauern bis einschließlich 31. Oktober 2020.

Die zulässige Zuschauerzahl erhöht sich bis einschließlich 31. Juli 2020 auf 250 Zuschauerinnen und Zuschauer, wenn zusätzlich

  1. den Zuschauerinnen und Zuschauern für die gesamte Dauer der Veranstaltung feste Sitzplätze zugewiesen werden und
  2. die Veranstaltung einem im Vorhinein festgelegten Programm folgt.
  1. Bei der Bemessung der Zuschauerzahl bleiben die Beschäftigten und sonstigen Mitwirkenden an der Veranstaltung wie Trainerinnen und Trainer, Betreuerinnen und Betreuer, Schieds- und Kampfrichterinnen und -richter sowie weiteres Funktionspersonal außer Betracht. Unter den Zuschauerinnen und Zuschauern ist ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten, sofern nicht § 2 Absatz 2 in Verbindung mit § 9 CoronaVO etwas anderes zulässt.

Unbestreitbar eine Sternstunde deutscher Bürokratie. Hoffentlich werden noch viele Novellierungen nötig.

Nach der Sommerpause soll übrigens das Studienfach „Corona“ eingerichtet werden, das in die Lage versetzt, das Regelwerk in die Praxis umzusetzen.

Kollateralschäden

In der Pharmazie würde man von „Nebenwirkungen“ sprechen, beim Militär heißen sie „Kollateralschäden“: Auswirkungen eines Medikaments bzw. einer militärischen Operation, die nicht erwünscht sind, aber letzten Endes hingenommen werden, weil der dadurch angerichtete Schaden als kleiner angenommen (!) wird als der abgewendete.

Der durch die Anti-Corona-Maßnahmen abgewendete Schaden wurde von Virologen und Medizinern hochgerechnet, bleibt aber letztlich eine hypothetische Größe. Doch wer hat versucht, den tolerierten Schaden hochzurechnen, der entsteht, wenn ein Land über Monate hinweg heruntergefahren wird oder sich nur noch im Teilbetrieb befindet?

Sage niemand, es gehe nur um den wirtschaftlichen Schaden. Viel zu viel hängt daran: Betriebliche Existenzen brechen weg, Lebensbedingungen werden plötzlich prekär durch Kurzarbeit, Arbeitsplätze gehen verloren, Lebensgemeinschaften und Familien brechen auseinander, Kinder und Jugendliche, v.a. aus bildungsfernen Schichten, geraten durch die momentane Schulsituation noch stärker ins Hintertreffen als bisher, Menschen, die in Einrichtungen leben, sterben aufgrund staatlich verordneter Isolation den sozialen Tod … niemand überblickt derzeit auch nur annähernd diese Kollateralschäden.

Wer rechnet diese „Nebenwirkungen“ hoch und beziffert sie in ihrem gesellschaftlichen Effekt? Waren bei den politischen Corona-Entscheidungen der letzten Monate auch Fachleute vertreten, die diese Bereiche repräsentieren?

M.a.W.: Sind die Maßnahmen der letzten Monate verhältnismäßig im Vergleich zu dem, was auf der Strecke bleibt? Oder sind die tolerierten Schäden am Ende wesentlich höher als die, die vermieden werden?

Ich hätte mir gewünscht, dass meine Zeitung nicht nur die im Zusammenhang mit Corona eingetretenen Todesfälle veröffentlicht (bei denen der tatsächliche Anteil von Corona völlig diffus bleibt), sondern auch, wie viele Menschen täglich in unserem Kreis sterben. Immer. Ohne Corona. Viele haben offensichtlich vergessen, dass es kein Menschenrecht auf ewiges Leben gibt und der Tod zum Leben gehört. Würde unser Staat in anderen Bereichen mit derselben Vehemenz vorgehen, hätte der Individualverkehr schon längst eingestellt werden müssen – damit könnten jährlich über 3.000 Menschen gerettet werden.

Stattdessen hat Hysterie einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft erfasst. So dass Menschen bereitwillig ihre Freiheitsrechte aufgeben und ebenso bereitwillig die Opfer dieser Maßnahmen übersehen. Wohl allen, denen ein Schauer über den Rücken läuft, wenn der Regierungschef eines Nachbarlands öffentlichkeitswirksam zugibt, seine 96-jährige Mutter beim Sterben alleingelassen zu haben. Ein öffentlicher Aufschrei auf dieses Bekenntnis hin blieb bislang offensichtlich aus. Es ist fürwahr ein hoher Preis, der gezahlt wird – längst nicht nur von einsamen oder sterbenden alten Menschen …

Was sich (nicht) verändern lässt

Ich weiß nicht, wieviel Prozent der derzeitigen Nachrichten vom Corona-Virus bestimmt bzw. diktiert werden. Gesundheitliche, wirtschaftliche und psychosoziale Auswirkungen werden jeden Tag auf’s Neue erörtert, oft verbunden mit einer gewissen Ohnmacht. Denn tatsächlich lässt sich das Virus, das nicht vom Menschen gemacht ist, von diesem nicht einfach wieder aus der Welt schaffen.

Daneben gibt es Dinge, die nicht einfach hingenommen werden müssten. Trotzdem werden sie de facto hingenommen. Kaum jemand regt sich darüber auf geschweige denn kümmert sich darum.

Kennt jemand Raif Badawi? Er sitzt seit 2015 in einem saudischen Gefängnis, verurteilt zu zehn Jahren Haft, einem Reiseverbot, einer Geldstrafe von rund 240.000.- EUR sowie zu tausend Stockschlägen. Sein Verbrechen besteht darin, ein Internet-Forum gegründet zu haben, das islamische Werte verletzt und liberales Denken propagiert habe („violates Islamic values and propagates liberal thought“, raifbadawi.org)

Ein Teil der Prügelstrafe wurde bereits öffentlich vollstreckt, der Rest wird ihm vermutlich erlassen, da diese Tortur inzwischen offiziell abgeschafft wurde. Aber wie es aussieht, wird er weitere fünf Jahre im Kerker schmoren müssen. Daran änderte auch ein Hungerstreik nichts, mit dem er im September 2019 gegen seine schlechte Behandlung protestierte.

Eine Tageszeitung berichtete kürzlich über den „vergessenen Blogger“ und entriss ihn damit für einen Augenblick dem Vergessen.

Ist es naiv zu glauben, der Westen hätte durchaus die Macht, jemanden wie Badawi aus dem Gefängnis zu holen? Druck auszuüben auf die Saudis, die nach wie vor militärische Verbündete sind und in dieser Allianz nicht nur geben, sondern auch nehmen? Ist es naiv zu glauben, es könnte sich etwas verändern, wenn nur genügend Interesse da wäre?

Wohl wird von staatlicher Seite protestiert, aber wie geht es danach weiter? Geht man dann einfach wieder zur Tagesordnung über, wenn sich nichts tut?

Muss man notgedrungen akzeptieren, dass wir auch mit denen Allianzen schmieden, die Menschenrechte mit Füßen treten, weil eine selbstgefällige Elite die Macht nicht abgeben will?
Ich will es nicht akzeptieren.

Wohl müssen wir mit dem Virus leben, aber nicht mit Verbündeten, die Kritiker in ihren Verliesen verschwinden oder gleich zerstückeln lassen wie Jamal Kashoggi 2018. Hier nicht alle Mittel ausreizen heißt sich mitschuldig machen.

Corona-Solidarbeitrag jetzt!

Während die einen darüber jubeln, dass sie ihren gebuchten Sommerurlaub im Süden antreten können, muss sich ein Teil der Gesellschaft mit ganz anderen Themen auseinandersetzen: durch Corona über Nacht in die Arbeitslosigkeit abgerutscht, vielleicht sogar in die Grundsicherung.

Es ist extrem unsolidarisch, dass die Lasten der Corona-Krise so ungleich verteilt sind. Bestimmte Berufsgruppen haben keinerlei finanzielle Einschränkungen hinzunehmen, andere müssen aufgrund von Kurzarbeit oder Aussetzung bzw. Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit gewaltigen Einbußen zurechtkommen.

Nach der Wende wurde der „Solidarbeitrag“ eingeführt. Warum nun kein zeitlich befristeter Corona-Solidarbeitrag, der von Besserverdienenden zu entrichten ist? Als jemand, der diese Krise ohne finanzielle Belastungen erlebt, plädiere ich für einen solchen Topf. Befristet auf zwei Jahre könnten damit etliche Milliarden an Sondermitteln für diejenigen bereitgestellt werden, die aufgrund der Corona-Beschränkungen derzeit allein die Zeche bezahlen – für uns alle.

Hinter vorgehaltener Hand

“… das sage ich jetzt hinter vorgehaltener Hand…“ Wir kennen dieses Phänomen aus Ländern, wo es nicht ungefährlich ist, die eigene Meinung kundzutun. Zum Glück ist das bei uns anders, das Recht auf Meinungsfreiheit per Grundgesetz verbrieft. Bei uns darf jede/r sagen, was er/sie denkt. Oder?

Menschen, die mit ihrer Meinung nur hinter vorgehaltener Hand herauskommen, gibt es auch bei uns. Und sie werden mehr – eine subjektive Einschätzung ohne eine Studie im Rücken.

Political correctness heißt das Phänomen, das dazu (ver-)führt, dass Leute nur noch hinter vorgehaltener Hand sagen, was sie denken. „Bitte nicht zitieren!“

Meine Definition: Political correctness ist die Anpassung an eine bestimmte tatsächlich oder scheinbar mehrheitliche gesellschaftliche Auffassung, die sich selbst absolut setzt und keinen inhaltlichen Diskurs (mehr) zulässt.
Political correctness fordert, sich dem Mainstream zu unterwerfen und in den von ihm bezeichneten Bahnen zu bleiben, gesellschaftspolitische Axiome nicht zu hinterfragen und keinesfalls an gesetzten Feind- oder Freundbildern zu rütteln.
Wer sich dem widersetzt, wird diffamiert oder sogar mundtot gemacht. Auch bei uns.

Drei Themenbereiche, in den es höchst ungemütlich werden kann, gegen die political correctness zu verstoßen.

„Eigentlich hat er doch Recht, der Palmer“, sagt eine Ärztin hinter vorgehaltener Hand zu den jüngsten Äußerungen des Tübinger OBs, die eine verbale Steinigung auslösten. Die Möglichkeit ins Auge zu ziehen, dass Menschen über achtzig in nächster Zeit sterben könnten, erscheint derart unverfroren und ein Angriff auf die Menschenwürde, dass Bündnis90/Grüne den schwäbischen Rebellen am liebsten mit einem Parteiausschlussverfahren überziehen würde.

Wer die rigiden Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesregierung in Zweifel zieht, wird medial schnell als Verschwörungstheoretiker oder verantwortungsloser Gesell abgestempelt. Und wer daran erinnert, dass auch die jetzigen Maßnahmen einen hohen Preis haben, muss sich vorwerfen lassen, nichts für den älteren Teil der Bevölkerung übrig zu haben – obwohl die Einschränkungen gerade alte Menschen durch die Kontaktsperre verheerend trafen (und treffen!).

Zweites Thema: Es gehört ebenso zur political correctness in Deutschland, sich jedweder Kritik an der Politik der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern zu enthalten. Wer wie meine Generation die Gleichung Palästinenser = Terrorist mit der Muttermilch eingesogen hat (unvergessen der stoppelbärtige Yassir Arafat mit seinem Palästinensertuch), aber heute die Vorgehensweise der Regierung Netanjahu (z.B. die schleichende Usurpation von Palästinenserland durch Errichtung illegaler Siedlungen) anprangert und den Bau der Mauer sowie andere Maßnahmen als Apartheid bezeichnet, muss ein dickes Fell haben, wenn er postwendend als Antisemit diffamiert wird.
In einer evangelischen Landeskirche hagelte es seitens der Kirchenleitung Platzverbote für Veranstaltungen, zu denen israelkritische Referenten eingeladen waren. Und das in einer Kirche, die sich auf die Fahnen schreibt, einen liberalen Diskurs zu pflegen.

Und drittens das vielleicht heikelste Beispiel: Migration.
Eine Polizistin erzählt, wie auf Druck von oben Daten von Straftaten von Flüchtlingen und Tätern mit Migrationshintergrund nicht weitergegeben werden durften, um die Statistik zu schönen. Sie hat das Gefühl, dass hier etwas nicht richtig läuft, deshalb macht sie sich Luft, verärgert und natürlich nur hinter vorgehaltener Hand.

Es geht an dieser Stelle nicht um eine Gesamtanalyse, sondern nur darum, aufzuzeigen, wie „gut gemeint“ mitunter das Gegenteil von „gut“ ist: Das ehrenwerte Motiv, Menschen bestimmter Gruppen zu schützen, führt dazu, der Bevölkerung Fakten vorzuenthalten, die die Akzeptanz von Flüchtlingen oder Menschen mit Migrationshintergrund möglicherweise beeinträchtigen könnte. Im Endeffekt zahlt sich diese Strategie nicht aus: Zum einen kommen die Fakten eines Tages doch ans Licht, zum andern treibt es Menschen, die sich zwangsweise dieser Strategie unterordnen müssen (wie die genannte Polizistin) um so eher in die Fänge extremer Gruppen, deren Sicht noch viel stärker ideologisch bestimmt ist.

Doch manchmal bewegt sich auch etwas: Wer noch vor wenigen Jahren auf die kriminellen und parasitären Machenschaften gewisser arabischer Clans hinwies, die sich durch Vortäuschung von Bedürftigkeit in großem Stil Sozialhilfe erschleichen und im „Hauptberuf“ kriminelle Netzwerke aufbauen, musste damit rechnen, pauschal als Rassist und reaktionärer Feind multikultureller Realität beschimpft zu werden. Inzwischen wurde das Problem von politischer Seite endlich erkannt und grünes Licht gegeben, um gegen die kriminellen Strukturen vorzugehen.

Was steckt psychologisch dahinter?
Menschen haben Angst, dass ihr überkommenes Weltbild destruiert werden könnte, das oft auf einer naiven schwarz-weiß-Sicht fußt: Hier die bösen Palästinenser, dort die guten Israelis (von denen 21% immerhin nichtjüdische Araber sind!). Hier die guten Migranten, dort die bösen Deutschen (zumindest diejenigen, die Multikulti nicht nur als Bereicherung sehen). Hier die gute Corona-Politik der Regierung, dort die bösen (verrückten/verantwortungslosen) Maßnahmengegner. Weltbilder nach dem Strickmuster eines James-Bond-Films.

Realistische Wahrnehmung, die sich nicht von Angst leiten lässt, vermeidet ideologische Kurzschlüsse und stellt tradierte Freund-Feind-Schemata in Frage. Die Wirklichkeit ist allemal komplexer als unser Wunsch nach Einfachheit und Sicherheit. Wir müssen den Diskurs suchen, statt ihn durch Diskreditierung zu vermeiden sowie wache Zeitgenossen zu verprellen. Uns der Zumutung stellen, dass einfache Wahrheiten in der Regel falsch sind und dass es mehr Kraft braucht, Widersprüche auszuhalten statt sie ideologisch wegzubügeln.

Keinesfalls würden damit die tradierten schwarz-weiß-Schemata auf den Kopf gestellt – das tun Extremisten, denen political correctness allerdings unnötigerweise Schützenhilfe leistet. Aber wir müssen immer wieder sorgfältig prüfen, ob die eigene Einschätzung möglicherweise aufgrund bestimmter interessegeleiteter Vorentscheidungen zustande gekommen ist.

Political correctness ist schlecht für die Demokratie. Sie trägt sogar – das sage ich jetzt hinter vorgehaltener Hand – faschistoide Züge.

Explosiv

Die Krise, sie trifft uns ganz mies,
die Maßnahmen sind ziemlich fies.
Doch wächst Kreatives
wie Hochexplosives,
wenn Ostern zum Leben sagt: Sprieß!

Ist Sterben so schlimm?

In einem Hamburger Pflegeheim, in dem eine Reihe von Corona-Infektionen festgestellt wurde – sowohl bei Bewohnern als auch bei Pflegekräften –, verstarben innerhalb einer Woche drei Menschen.
Das ist allemal eine Schlagzeile wert und leistet der grassierenden Hysterie Vorschub. Die Zahlen wirken alarmierend, sagen für sich betrachtet aber so gut wie nichts aus.

Fraglich, ob das Statement der Heimleitung angemessen wahrgenommen wird, das erste Interpretationshilfe leisten könnte: „Die drei Bewohner litten teils unter erheblichen Vorerkrankungen, welche Rolle die Viruserkrankung bei der Entwicklung ihres Zustandes gespielt hat, ist also nicht konkret zu beurteilen“, so der entsprechende Kommentar.
Die Schlagzeile dagegen formuliert: „Corona: Weitere Tote im Heim in Wellingsbüttel“.

Tote vermelden zu müssen erscheint als die eigentliche Katastrophe, als kompletter Offenbarungseid einer Gesellschaft, in der jeder Mensch ein verbrieftes Recht darauf zu haben scheint, vor seinem eigenen Tod geschützt zu werden, egal wann und unabhängig von seinem Gesundheitszustand. Als habe man vergessen, dass die Sterblichkeitsrate nach wie vor 100% beträgt und früher oder später der Tod in jedem Leben eintritt, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit übrigens im vorgerückten Lebensalter.

Ist Sterben im Alter so schlimm? Ist es im Alter weniger schlimm als in jungen oder mittleren Jahren?
Täusche ich mich, oder flüstert mir da sofort die Stimme der political correctness ins Ohr, dass das natürlich überhaupt nicht geht? Dass Leben immer gleich viel wert sei, egal wie alt, wie krank, wie hinfällig.
Ist das nicht unser unhinterfragbares Credo, zumal mit unserer deutschen Vergangenheit, jeden Versuch, Leben gegeneinander abzuwägen, sofort als menschenverachtend zu brandmarken und mundtot zu machen? Und wird dies nicht von unserer Verfassung so festgeschrieben?

In der Tat, versichert der Deutsche Ethikrat für den Fall einer triage in der Corona-Krise, sei der rechtliche Rahmen eindeutig: „Die grundrechtlichen Direktiven beschreiben im Wesentlichen negativ den Bereich des nicht mehr Zulässigen. Positive Orientierung für die konkrete Auswahlentscheidung in der Klinik bieten sie dagegen kaum.“ (Ethikrat, 27.03.2020) Um dann etwas kryptisch nachzuschieben: „Das bedeutet nicht, dass keine handlungsleitenden Vorgaben konzipierbar wären.“ Aha. Aber diese sollen die untergeordneten „Fachgesellschaften“ entwickeln.

Immerhin wird zugestanden, dass in einem solchen Fall möglicherweise doch bestimmte Kriterien entwickelt würden, die helfen, die begrenzten Ressourcen (in diesem Fall: Beatmungsgeräte) auf die übergroße Zahl von Hilfsbedürftigen zu verteilen.
Wäre es vorstellbar, dass das Lebensalter dabei keine hervorgehobene Rolle spielt? Wohl kaum.
Und dass der aktuelle Gesundheitszustand unberücksichtigt bleibt? Wohl ebenso wenig.

Damit würde aber de facto eine Wertung vorgenommen. Wohl gemerkt nicht eine Bewertung dieses gelebten Lebens, wohl aber eine Bewertung darüber, ob diesem Menschen angesichts seines Alters und Gesundheitszustands Behandlung zugebilligt wird, solange es andere Hilfsbedürftige gibt, die jünger und gesünder sind. 

Spätestens an dieser Stelle wäre es hilfreich, einen Gedanken einzuspeisen, der in der Debatte keine Rolle zu spielen scheint: dass menschliches Leben per se begrenzt ist und irgendwann sein Ende erreicht. So dass die Rolle von Medizin und Pflege nur unzureichend beschrieben wird, wenn ausschließlich die Verlängerung des Lebens im Blick ist.

Vielleicht ist am schlimmsten für viele, die momentan sterben (egal ob mit oder ohne Covid-19), ja noch nicht einmal ihr eigener Tod, sondern die Tatsache, dass sie unbegleitet darauf zugehen müssen, abgeschottet und isoliert von den Menschen, die sie ihr Leben lang begleitet haben. Dass dies so einfach hingenommen wird, ist die eigentliche Menschenverachtung.

Kriegsgewinnler

Übernehmen wir einmal unbesehen die martialische Rhetorik der Herren Trump, Macron und Conte und sprechen von „Krieg“ statt von „Krise“, dann sind eine ganze Reihe von Kriegsgewinnlern zu konstatieren.

Mir fällt neben Klopapierherstellern, Puzzleverkäufern und Serienanbietern ein Wesen in meiner unmittelbaren Umgebung auf, das erkennbar davon profitiert: davon, dass sich das Meiste momentan zuhause abspielt, dass die Familienmitglieder weitgehend verfügbar sind und das Haus mit ihrer Präsenz erfüllen. Nicht dass dieses Wesen deshalb ständig in Kontakt mit uns treten würde, doch unsere durchgehende Anwesenheit wirkt wie eine beruhigende kosmische Hintergrundstrahlung. Die Welt ist in Ordnung, wenn alle an Bord sind. Dieses Wesen ist unsere Katze.