Novembermorgen in der Bahnhofsunterführung

Luftzug
neben meinem Ohr
eine Taube rauscht haarscharf an meinem Kopf vorbei

Vier Knirpse rollen im XL-Bollerwagen heran
zwischen sich ein Tisch
hocken sie zwei und zwei
wie die Großen auf dem Bierwagen

Der Fahrradschieber neben mir und ich
grinsen uns an

Barriere

Im dem Moment
wo die Barriere silbern vor mir aufblitzt
bin ich schon durch

Der Haltefaden im
Spinnennetz
nichts davon merke ich
zerrissen

Plädoyer für eine neue Jahreszeit

Nach dem Kalender ist es klar:
Vier Zeiten teilen unser Jahr.
Nach Frühling, Sommer, Herbst und Winter,
weiß jedes Kind schon, da beginnt er
von neuem, dieser Jahreslauf,
und meistens freut man sich ja drauf.
Ach, diese Kälte in den Knochen –
kommt, Krokusse, hervorgekrochen!
Nach wochenlanger Sommerhitze:
Wann ist’s vorbei mit dem Geschwitze?
Und jeder freut sich und frohlockt,
je näher rückt das Äquinokt.
Doch geht vorüber Herbstbeginn
und draußen ist’s so warm wie drin.
Was fällt, sind lediglich die Blätter,
es dauert an das laue Wetter.
Verrückte Welt, verdrehtes Klima,
die Eisverkäufer finden’s prima.
Nicht Herbst, nicht Sommer kann man’s nennen,
denn beides ist hier nicht zu trennen.
Die Jahreszeit – wie nennt sie sich?
Das ist der Sommerbst, sage ich.

Nur ein Detail

Die uns jahrzehntelang eingeredet haben
der Friede sei nur mit Atomwaffen zu haben
es ist nur ein winziges Detail
das sie übersehen haben

Man kann die Dinger einsetzen

Anschlag vereitelt

Vor mir macht es plötzlich „plopp“,
knapp vorbei an meinem Kopp.
O, da rollt ein Stachelball,
und ich bin in diesem Fall
einem Anschlag knapp entgangen
der Geschosse, die da hangen.

Spieße steckt man in Kastanien,
(nicht in Stiere wie in Spanien),
wird ein schöner Igel draus,
ungefähr so säh‘ ich aus,
wär‘ geschwinder ich geloffen
und das Ding hätt‘ mich getroffen.

Rilkes Herbstgedicht 2022

Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß,
leg deinen Schatten auf die Zähleruhren
und in den Fluren lass die Kälte los.

Befiehl den Gastarifen hoch zu sein,
gib ihnen noch mehr Spitzentage,
dränge sie zu neuem Höchststand hin und jage
beim Tanken einen Schrecken ein.

Wer jetzt kein Holz hat, der kriegt keines mehr,
wer jetzt schon kalt ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, rechnen, in den Wind den Urlaub schreiben,
und wird in den Alleen hin und her
unruhig joggen, um den Puls zu treiben.

Das Original ist hier zu finden.

Tierischer Sound

Darf man beim Musizieren essen?
Allein die Frage ist vermessen!
Darf man beim Essen musizieren?
Soll umgekehrt es weiterführen?
Getrennt nur ist es angemessen:
die einen spiel’n, die andern essen.

Doch denk nur, ich kenn ein Orchester,
ich hört‘ es, glaub mir, nicht als erster,
das musiziert fidel bei Tische,
die Tafel prangt von grüner Frische,
am Hals erklingt das Instrument,
errätst du schon, wie man es nennt?

Willst du die Lösung mir entlocken:
Was die Musik macht, das sind Glocken.
Sie baumeln – jetzt geht’s ohne Mühe –
mit hellem Ton am Hals der Kühe.
Das Stück – es ist ein Unikat,
weil’s immer Uraufführung hat.

Zugänge

Keuchend steht er vor der grünen Hand. Tippt sie mit ausgestreckten Fingern an. Drückt den Knopf mit dem Daumen. Schlägt mit der flachen Hand darauf.

Er ist die Treppen emporgeflogen und hat sich durch einen Strom von Menschen durchgekämpft, die gegen ihn heranfluten und dem Ausgang zustreben.

Quietschend setzt sich der Zug in Bewegung. Mit einem leisen Knall hat sich ein paar Meter weiter die nächste Tür geschlossen.

Gut gemeint

Der Anruf kommt unerwartet. Vor dem Kamin sitzend sei sie gefunden worden. Als ob sie den Flammen zugesehen habe. Ein Sekundentod. Herzinfarkt vermutlich. Dabei habe es in letzter Zeit weder Stress noch Aufregung gegeben.

Sie steht auf der Brücke und schaut auf den Bach. Den Umschlag hält sie zwischen zwei Fingern. Als sie loslässt, sinkt der Brief hinab und wird dann von einem Windstoß unter der Brücke getrieben. Sie atmet tief durch und geht.

Die Schülerin mit der roten Pudelmütze, die mit ihrem Fahrrad an der Ampel wartet, lässt ihre Augen über den Streifen zwischen Radweg und Bach wandern. Alles ist von gefrorenem Tau überzogen. Trotzdem fällt ihr der weiße Zettel auf. Sie hat gelernt, es sei gut, jeden Tag eine gute Tat zu tun. Sie angelt sich den Zettel, um ihn in den nächsten Abfalleimer zu werfen. Es ist ein Briefumschlag, zugeklebt und mit einer handgeschriebenen Adresse versehen. Den hat sicher jemand verloren. Wie ärgerlich! Was, wenn an manchen Tagen eine gute Tat nicht reicht? Sie stopft den Brief in ihren Rucksack. Nach der Schule fährt sie am Postamt vorbei und gibt den Brief auf; die Marke bezahlt sie von ihrem Taschengeld.

Die Therapeutin zieht eine Grimasse, um sich das Gähnen zu verkneifen. In zwanzig Minuten muss sie ihre Tochter in der Kita abholen. „Schreiben Sie Ihrer Schwiegermutter doch mal einen Brief. Alles, was Sie ihr gern sagen würden, all die Kränkungen, die sie Ihnen zugefügt hat.“ Die Klientin schaut überrascht. „Das hilft. Und wenn Sie wollen, schreiben Sie sogar noch die Adresse drauf. Natürlich schicken Sie den Brief nicht ab.“

Regen

Vom Sonnenschirm hängt ein Faden aus Tropfen herab
Miniwellen gleiten auf Flügeln über den Asphalt
Hinter Maske und Gläsern lagert sich beständiger Dunst