Gut gemeint

Die Absperrung der leicht maroden Treppe, die von der Stadt durch ein Wäldchen zum höhergelegenen Parkplatz führt, soll Unfälle verhindern. Vermutlich ist sie eine prophylaktische Maßnahme angesichts der neu-deutschen Unart, gegen alles und jeden zu klagen, wenn im Leben mal etwas schiefgeht. 

Da die Treppe jedoch die kürzeste Verbindung darstellt, ignorieren viele das Verbot. Die Absperrgitter zu umgehen ist bei nasser Witterung wegen Rutschgefahr allerdings deutlich unfallträchtiger, als die Treppe zu benutzen.

In 99% aller Länder käme übrigens niemand auf die Idee, eine Treppe abzusperren, nur weil sich eine einzige Holzstufe gelöst hat…

Glaubensbekenntnis am Ende des Jahres

Ich glaube, dass Wladimir Putin ein menschenverachtender Tyrann ist, der skrupellos seine narzisstisch-nationalistischen Ziele verfolgt.

Ich glaube, dass ein Perspektivwechsel des Westens (auf die andere Seite der ständig vorgerückten NATO-Grenze) den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hätte verhindern können.

Ich glaube, dass wir Europäer eigene Antworten finden müssen, statt uns hinter der Doktrin der USA zu verstecken.

Ich glaube, dass es falsch und zugleich vermessen ist, zu sagen, wir könnten das Klima schützen.

Ich glaube, dass unsere Möglichkeiten, beim Schutz des Ökosystems Erde mitzuwirken, wesentlich größer sind, als wir über Jahrzehnte wahrhaben wollten, aber nicht groß genug, als dass es allein in unserer Hand stünde.

Ich glaube, dass wir diese Erde pfleglich behandeln und deshalb sorgsam mit ihren Ressourcen umgehen sollen, Verschmutzung und Zerstörung vermeiden und lebenswerten Lebensraum für die nach uns hinterlassen – das glaube ich nicht erst seit diesem Jahr.

Ich glaube, dass wir dafür von den Altvorderen einiges lernen können, z.B. was nachhaltigen Konsum angeht.

Ich glaube, dass Fundamentalismus jeder Art toxisch wirkt – ob es um Religion, Politik, Ernährung, Geschlechterfragen, Kultur etc. geht.

Ich glaube, dass eine der schlimmsten deutschen Untugenden darin besteht, alles zu übertreiben – ob Corona-Maßnahmen oder Energiesparen.

Ich glaube, dass unserer Demokratie einen Bärendienst erweist, wer Menschen, die konträre Meinungen formulieren, das Wort verbieten und sie am liebsten abschießen möchte.

Ich glaube, dass junge Menschen mehr Potenzial haben, als ihnen oft zugetraut wird, ich glaube aber auch, dass es entsprechend gefördert und herausgefordert werden muss.

Ich glaube, dass die wenigsten Menschen böse sind.

Ich glaube, dass die meisten zwischenmenschlichen Probleme durch Missverständnisse, unterschiedliche Prägungen, Sichtweisen und Kulturen entstehen und deshalb einer gewissen Tragik unterliegen.

Ich glaube, dass der Mensch flexibel genug ist, um sich an widrige Lebensumstände anzupassen.

Ich glaube, dass sich dieses schreckliche, schöne Leben lohnt, auch wenn es nicht immer schrecklich schön ist.

Ich glaube, dass dieses Glaubensbekenntnis noch wachsen kann und muss 😉

Kryptisch

“Montag geöffnet”. Vom Rad aus sehe ich nur das Schild, nicht das merkwürdige Geschäft, das nur einen Tag in der Woche auf hat. Bei welcher Art Geschäft ein solcher Hinweis durchaus Sinn ergibt, fällt mir ein paar Meter weiter plötzlich wie Schuppen aus den Haaren  …

35 x 35 = 9.990.000.000

Da hat jemand im Verteidigungsministerium offenbar ein Faible für Zahlen. 35 neue F-35-Kampfjets für 9,99 Milliarden Euro sind bestellt, Stückpreis mehr als 285 Millionen. Kein Faible hat die Politik dagegen für die Bildung. Statt immer neue Untersuchungen in Auftrag zu geben, die dem deutschen Bildungssystem notorisch schlechte Noten ausstellen (zuletzt für die Grundschule), müsste endlich investiert werden, z.B. in eine Ganztagsschule, die diesen Namen verdient. Anleitung und Förderung statt Beaufsichtigung – das wäre ein Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit, der sich volkswirtschaftlich bereits mittelfristig mehr als auszahlen würde. Anstatt ständig nach den Eltern zu rufen, die aus verschiedenen Gründen vielfach gar nicht leisten können, was Bildungspolitiker von ihnen verlangen, endlich richtig Geld in die Hand nehmen, damit künftig die Zahl derer steigt, die sich ihr Brot selbst verdienen und dabei sogar noch zufrieden sind. Es ist Zeit für eine Zeitenwende – in der Bildung!

Jeder ist für seinen Partner verantwortlich

Die Flutwelle kommt schnell und laut. Eine Horde Schüler fällt johlend in den Zug ein, wälzt sich durch den Gang, Ränzen und Rucksäcke umherschleudernd, überschwemmt Sitze und Tische. “Könnt ihr vielleicht ein bisschen aufpassen?”, wirft ein Alter zaghaft ein, der einen Ellbogen abbekommen hat.

Langsam kommt die Flut zum Stillstand. Mäntel werden abgeworfen, Trinkflaschen herausgezogen, Karten finden rasch die nötigen Mitspieler.

Der Zug fährt in den Hauptbahnhof ein. Endstation. Ein junger Lehrer übertönt die Geräuschkulisse: “Jeder ist für seinen Partner verantwortlich.” Die Türen gehen auf. Eine gezähmte Flutwelle schiebt sich hinaus, ohne Rückstände zu hinterlassen.

Energiespar-Extremismus

Es gehört zu den deutschen Untugenden, an und für sich sinnvolle Aufgabenstellungen in einer so extremen Weise anzugehen, dass das Ergebnis nur abstoßend wirken kann.

Energiesparen ist über Nacht zum Volkssport avanciert. Löblich und schon längst fällig (dass dies erst durch Gasverknappung im allgemeinen Bewusstsein angekommen ist, steht auf einem anderen Blatt). Aber dann hebt ein maßloses Wetteifern an, das zu absurden Auswüchsen führt. Und am Ende wird nicht nur die zugegebenermaßen übertriebene Adventsbeleuchtung in den Städten reduziert, nein, sie wird morgens gleich ganz abgestellt. Gerade dann, wenn die Seele, der allzu langen Nacht müde, sich am Glanz der Lichter laben möchte.

Auf dem Platz im Stadtzentrum trotzen drei kleine Fichten vor einer Bäckerei mit ihren lichtergeschmückten Zweigen dem Wahn…

Arbeitszufriedenheit

Im Bahnhofsbistro steuert eine Frau mit Kaffeebecher und Käsekuchen auf den Sitzbereich zu. Die wenigen Tische sind alle belegt. Sie setzt sich einer anderen Frau gegenüber. Ich vertiefe mich wieder in mein Buch. Ein paar Minuten später steht die auf, die schon länger saß: „Machen Sie’s gut!“ Die andere: „Auch Ihnen alles Gute!“ Ich sehe, wie die Angestellte hinter der Theke lächelt, und lächle ihr zu. Sie lächelt zurück.

Bekenntnis zum Kitsch

Zu Weihnachten darf man sich zu Kitsch bekennen, ohne rot zu werden. Meine große Liebe ist der Christbaum meiner Kindheit. Genau genommen gab es bei uns zuhause derer zwei: im Erdgeschoss der Baum, den meine Mutter schmückte, im Stockwerk darüber der meiner Großeltern. Das Design des unteren Baumes folgte einer modernen, kühlen Ästhetik: Strohsterne, helle elektrische Kerzen, sparsam behängt. In meiner Erinnerung an den anderen Baum sehe ich ein dunkles Wohnzimmer, in dessen Ecke etwas glüht: der Baum mit der Lichterkette; blaue, rote, grüne und gelbe Glaskugeln, mit einer körnigen Beschichtung überzogen, die wie Schnee aussah. Sie leuchteten warm und mild. Dazu silbernes Lametta, in langwieriger Arbeit Streifen um Streifen über die Zweige gelegt. Meine Kinderseele war entzückt.

Das vorzeitige Ende der Lichterkette kam, als Oma beim Schmücken, auf einem Stuhl stehend, das Gleichgewicht verlor und auf den Baum fiel. Und irgendwie war es auch der Anfang von ihrem Ende.

Einen kläglichen Ersatz bot mir ein Mini-Weihnachtsbaum aus weichen Kunststoffzweigen. Beim Aufklappen kitzelten sie die Hände. Es muss wohl ein Werbegeschenk aus der Zeit gewesen sein, als die Großeltern noch einen Lebensmittelladen führten. Bunte Lichter hatte auch er. Wenn es ihn noch gäbe, würde ich ihn aufstellen. Dieses Jahr habe ich eine Lichterkette so geschaltet, dass sie rot, blau, gelb und grün leuchtet. In meinem Arbeitszimmer.

Lachend

In der Fußgängerzone
kommt eine Frau auf mich zu
ihr Mund breit vor Lachen bis zur anderen Straßenseite
geht an mir vorüber

ich drehe mich um
so lacht eine Frau
nur einem kleinen Mann zu

Fremdsprache

Am Bahnhof stehn sie morgens still,
weil schläfrig niemand reden will.
Da fällt es auf, wenn jemand spricht,
ich schnappe auf (ich lausche nicht,
vorübergehend hör‘ ich zu),
sagt A zu B: “Wuschaffschndu?”

Übersetzung für alle, die des Kurpfälzischen nicht mächtig sind:
„Wo schaffst (arbeitest) denn du?“