An den Beginn jeder Politprofikarriere würde ich ein Pflichtpraktikum setzen: eine Woche mit dem Deutschlandticket durch die Republik. Die schnellen Verbindungen wie z.B. ICE und EC/IC sind damit von vornherein ausgeschlossen, es bleiben diejenigen Verkehrsmittel, mit denen Menschen in unserem Land tagein, tagaus unterwegs sind: IRE, RE, RB, S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn, Bus. Was die Politiker dort antreffen würden: einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung. Ethnisch, sozial und kulturell höchst divers.
Als Kind der 1960/1970er Jahre machte sich Diversität für mich, aufgewachsen in München, vor allem an der Existenz türkischer „Gastarbeiter“ und ihrer Familien fest. Und wenn ich an meine regelmäßigen Ferienjobs in der Fabrik zurückdenke, kommen noch einige Menschen aus südeuropäischen Ländern dazu. Gefühlt ist das allerdings weit entfernt von der Diversität, die ich heute erlebe.
Und ganz automatisch stellt sich die Frage: Wie kann es gelingen, dass Menschen aus so unterschiedlichen Traditionen in einer Gesellschaft zusammenleben, deren Werte und Maßstäbe im Grundgesetz verpflichtend festgelegt sind? Bassam Tibi (*1944), gebürtiger Syrer, hat schon vor über zwanzig Jahren angemahnt, es brauche in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern eine „Leitkultur“, um die Ausbildung von Fundamentalismus und Multikulturalismus (nicht zu verwechseln mit kultureller Vielfalt!) zu verhindern. Dafür wurde er vom links-alternativen Spektrum zerrissen und von den Rechten für ihre Deutschtümelei vereinnahmt. Fakt ist jedoch, dass eine demokratisch-liberal verfasste Gesellschaft auf Dauer nur dann lebensfähig ist, wenn eine verbindlich-verbindende Leitkultur im Sinne einer „Hausordnung für Menschen aus verschiedenen Kulturen in einem werteorientierten Gemeinwesen“ (Tibi) existiert.
Nun ist es eines, dies zu fordern, ein anderes, es zu fördern. Neben dem Spracherwerb, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann, spielen dafür m.E. Bildung und Arbeit eine wesentliche Rolle. Im gemeinsamen Lernen und Arbeiten werden genau diejenigen Werte eingeübt und umgesetzt, die unser Land ausmachen. Ein Grund mehr, warum Menschen, die mit der Perspektive eines dauerhaften Aufenthalts zu uns kommen, so rasch wie möglich auch in der Arbeitswelt ankommen müssen.