Unzählige Welten

Welche Vorstellung hat ein blind geborener Mensch von den Dingen, die er nicht sehen kann? Versuche ich als Sehender, mir seine Vorstellung vorzustellen, merke ich sehr schnell: es geht nicht. Ich habe keine Ahnung, zu welcher Gestalt sein Gehirn die Informationen zusammensetzt, die er von seinen Sinnesorganen erhält. Ich kann auch nicht so tun, als sähe ich nicht. Als Sehender kann ich die Situation eines Blinden niemals simulieren. Seine Welt wird mir in dieser Hinsicht immer verschlossen bleiben, und selbst wenn er versuchte, sie mir zu beschreiben, bleibt unsicher, ob seine Worte dieselben Dinge bezeichnen, die ich damit verbinde.

Was für den Gesichtssinn gilt, trifft auch für unsere übrige Wahrnehmung zu. Da jedes Gehirn einzigartig ist und von unterschiedlichen Sinneseindrücken gefüttert wird, kommt notwendigerweise bei jedem Menschen eine andere Wahrnehmung zustande. Mit anderen Worten: Jeder von uns lebt in seiner Wirklichkeit, um nicht zu sagen: in seiner Welt.

Ist es damit ausgeschlossen, dass wir einander verstehen? Zum Glück nicht. Dort, wo unsere eigene Wirklichkeit mit einer anderen überlappt, wo wir uns austauschen und feststellen, dass wir wohl mehr oder weniger das Gleiche denken, glauben oder fühlen. Wo es zu einer Überschneidung der je unterschiedlichen ‚Welten‘ kommt, in denen wir leben, ereignet sich Verstehen. So jedenfalls sieht es die philosophische Richtung des Konstruktivismus.

Fazit: Die ganze Wirklichkeit des/r anderen werde ich niemals erkennen oder verstehen, d.h. wir werden immer ein Stück blind füreinander bleiben. Was für ein Jammer, dass es so viele Welten gibt!
Man kann es aber auch andersherum sehen: Die Mühe lohnt, denn partielles Sich-Verstehen ist möglich und bildet die Basis dafür, auch das nicht Verstehbare auszuhalten. Was für ein Reichtum, dass es so viele Welten gibt!