Dass unsere Gesellschaft den Tod verdränge, hielt ich bis vor kurzem für ein Klischee, griesgrämigen Theologenhirnen entsprungen, um mit erhobenem Zeigefinger auf die weit verbreitete Diesseitsorientierung hinzuweisen. Seit der Corona-Pandemie glaube ich mehr und mehr: Die Theologenhirne haben Recht.
Über Angst lässt sich nicht streiten (vgl. Teil 1 zu diesem Thema) – wohl wahr! Aber was steckt hinter dieser Angst, vor der die deutsche Gesellschaft mit ihrem politisch-hygienetechnischen Feuerwerk, das mir in Teilen unlogisch, maßlos und/oder ineffektiv erscheint, in die Knie geht? Wie bringt es dieses Virus fertig, dass manche Menschen, hoch in den Achtzigern, sich in freiwillige Isolation begeben und ihr Haus nicht mehr verlassen, direkten Kontakt sogar zu Verwandten (Enkeln, Kinder) meidend – wieder einmal mit Aussicht auf ein Weihnachten allein? Natürlich: Es gibt auch die alte Witwe, die beim 85. Geburtstag der Busenfreundin aufschlägt und sagt: Wer weiß schon, ob wir in unserem Alter den nächsten noch erleben werden? Aber ich muss zugeben: Der hochbetagte Kollege, der sich in seiner Wohnung verschanzt, irritiert mich …
Ist es einfach die Angst vor dem Tod, die nicht ausgelöst sein kann durch eine massive Übersterblichkeit der letzten beiden Jahre, die es nicht gegeben hat (wer seine Zweifel daran hat, informiere sich bei den offiziellen Zahlensammlern der Nation, auf der Seite des Statistischen Bundesamts), aber seit Beginn der Pandemie medial evoziert wird durch die tägliche Veröffentlichung von Todeszahlen, die seriöse Rückschlüsse nur schwer zulassen? Sind es die gehäuften Schlagzeilen von überfüllten Intensivstationen – u.a. angeheizt vom baden-württembergischen Gesundheitsminister Lucha, der vom “brutalen Sterben” sprach, als vollziehe sich das Sterben auf Intensivstationen außerhalb von Corona hübsch ruhig und unauffällig – kein Wort davon, dass sich der dort herrschende Pflegenotstand einer seit Jahren ‚brutal‘ unfähigen Politik verdankt. Ist es der Eindruck, in diesem Virus einer Macht zu begegnen, die nicht kontrollierbar ist – als seien Krankheiten ansonsten allesamt kontrollierbar? Mir erscheint es manchmal so, als vereine dieses Virus für manche alles Lebensfeindliche und Destruktive im Universum in sich – als gäbe es keine anderen Gefährdungen, ja, als hätten wir vor Corona in einer sicheren Idylle gelebt und seien nun schlagartig einer extremen Gefährdungssituation ausgesetzt. Das eine ist so falsch wie das andere.
In einer neurologischen Klinik stolperte ich auf einem Stationsflur über den Text eines Plakats: “Einen Schlaganfall kriegen nur ganz alte Leute. [Neue Zeile] So ab 29.” Was für ein Schlag, so ein Schlaganfall! Der jede/n jederzeit treffen kann. Was wir völlig zu Recht verdrängen, weil wir sonst nicht leben könnten, da es ja daneben noch tausend andere Gefährdungen gibt, die uns um unser Leben oder zumindest um die Gesundheit bringen können. Aber nun beschwören manche eine Art paradiesischen Ante-Coronam-Zustand, den es noch nie gegeben hat und der allenfalls das Produkt konsequenter Verdrängung war.
Auf der anderen Seite steht das marginale Risiko, bei einer Infektion einen schweren Verlauf zu erleiden oder gar zu sterben, und – natürlich: die Betreffenden sind dann massiv davon betroffen. Trotzdem ist Covid nicht die Pest – das wurde in vielen medialen Äußerungen der letzten beiden Jahre, die sich z.T. in apokalyptischen Schilderungen gefielen, nicht immer hinreichend deutlich.
Ich glaube, es ist die Angst vor dem Tod, die unsere Gesellschaft derzeit fest im Griff hat. Besser gesagt: die Angst, dieses Leben früher loslassen zu müssen, als einem lieb ist, vielmehr: es überhaupt loslassen zu müssen. Die Berichterstattung über Corona hat Sterben und Tod aus ihrer Randexistenz herausgeholt, die sie im allgemeinen Bewusstsein innehatten, und unversehens zu einem gesellschaftlichen Thema erhoben – das hat die kurz zuvor geführte Debatte über assistierten Suizid nicht annähernd geschafft: Sie blieb, wiewohl sogar öffentlich im Bundestag geführt, abseits der Berufspolitiker und der wenigen akut Betroffenen auf ‚Berufsethiker‘ beschränkt.
Doch plötzlich erscheint der eigene Tod als reale Möglichkeit. Menschen können in unserer Zeit alt werden, ohne auch nur ein einziges Mal in ihrem Leben einen toten Menschen gesehen zu haben – und nun liefern ihnen Medien täglich Todeszahlen! Und die bislang geübte Verdrängung, durch die das eigene Ende de facto geleugnet oder – selbst bei Hochbetagten – auf einen Sankt Nimmerleinstag verschoben wird, funktioniert auf einmal nicht mehr und mutiert darüber zum Abwehrmechanismus: Alles, aber auch wirklich alles muss diese Gesellschaft unternehmen, um mir dieses Schicksal zu ersparen, um mir zu ersparen, dass ich sterben muss.
Dieser bis zum Exzess betriebene Schutz des Lebens ohne Rücksicht auf diejenigen, die den Preis dafür zahlen, entsteht aus der Unfreiheit dessen, der in Angst vor der eigenen Endlichkeit lebt. Unser Leben ist ein wunderbares, herrliches, einzigartiges Leben. Unser Leben ist ein gefährdetes, vergängliches, winziges Leben. Göttlich und elend. Und wie viele andere wichtige Dinge erfassen wir es angemessen nur, indem wir uns nicht daran klammern. Der paradoxe Satz des Nazareners „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren“, hat hier seine Berechtigung. Was ich unter allen Umständen in meiner geballten Faust festhalten muss, macht mich zu einem unfreien, ängstlichen Menschen. Aber weil ich nicht darüber verfüge, brauche ich mich nicht darum zu sorgen. Denn tatsächlich führe ich mein Leben, ob mir dies bewusst ist oder nicht, täglich im Angesicht des Todes. Sich das klarzumachen ängstigt nicht, sondern befreit. Und in diesem Bewusstsein LEBE ich! Das heißt Freiheit leben.
Rabbi Bunam sprach zu seinen Schülern: „Jeder von euch muss zwei Taschen haben, um nach Bedarf in die eine oder andere greifen zu können: In der rechten liegt das Wort: ‘Um meinetwillen ist die Welt erschaffen worden’, und in der linken: ‘Ich bin Erde und Asche.’“ (Aus den Chassidischen Erzählungen von Martin Buber)
Anders gesagt:
Ich will das Leben umfassen, als ob es kein größeres und schöneres gäbe.
Und ich will mich ebenso hin und wieder darin einüben, das Leben loszulassen, als ob es das kleinste und geringste wäre.
Nur: Über all das lässt sich tatsächlich nicht streiten. Das geht weiter, tiefer. Mehr Gespräch als Diskussion, eher über Transzendenz statt Inzidenz. Braucht es am Ende den Glauben an ein Leben nach dem Tod, um zu dieser Freiheit zu gelangen? Es ist gewiss leichter, wenn ich mich mit meiner Existenz in einem größeren Zusammenhang aufgehoben fühlen kann – aber zwingend nötig ist dieser Glaube nicht, um frei leben zu können.