Manche unterwegs
sehen mich an
als wüssten sie
oder
als wüsste ich
oder
als wüssten wir beide
dass wir
nichts wissen
Der Boykott
Eine neblige Januarnacht auf einem Abstellgleis des Berliner Hauptbahnhofs. Ein Mann erklimmt den Führerstand einer Lok, öffnet die Tür zur Kabine. Im Halbdunkel ein Schatten. Gedämpfte Unterhaltung, dann: ein Handschlag. Weselsky zieht einen Flachmann aus der Manteltasche und reicht ihn Bahnchef Lutz.
Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich die Quelle meiner Informationen nicht nennen kann. Doch wer zwei und zwei zusammenzählt, kommt auch von allein darauf, dass die gegenseitigen Schuldzuweisungen von Bahn und GDL im letzten Streik nur Theater waren. Denn was nach jener Januarnacht der Bevölkerung als grimmiger Arbeitskampf verkauft wurde, ist in Wahrheit eine von beiden Seiten höchst geschickt eingefädelte Aktion, deren Sinn keineswegs darin bestand, Gehaltserhöhungen durchzusetzen oder zu verhindern. Was dann, fragen Sie? Ein Ablenkungsmanöver. Die Idee dahinter: Man muss die Situation für die Bahnreisenden nur noch weiter verschärfen, dann sind sie eher bereit, sich mit der Normalsituation abzufinden. Denn wer damit klarkommen muss, dass überhaupt kein Zug mehr fährt (und selbst Notfahrpläne nicht eingehalten werden!), wird eher bereit sein, den normalen Bahnschlamassel zu tolerieren.
(Wer die Logik einer solchen Ablenkungsstrategie begriffen hat, entdeckt sie übrigens auch in anderen Zusammenhängen: Ist es nicht bemerkenswert, wie die Altparteien, ob mit aktueller oder vergangener Regierungsverantwortung, es schaffen, mit ihrem gesammelten Frontalangriff auf die geistigen Tiefflieger von rechts von den Defiziten ihrer eigenen Politik abzulenken?)
Ich träume derweil von einem Bahnboykott. Wie damals, 1955 in Montgomery, Alabama, als die schwarze Bevölkerung die öffentlichen Busbetriebe boykottierte. Ein ganzes Jahr lang, bis die Stadtverwaltung die Rassentrennung in Bussen aufhob.
Der Bahnboykott 2024 in Deutschland. Eigentlich ist alles ganz normal: Die Züge schaukeln wie immer mehr oder weniger verspätet oder gar nicht durch’s Land, und doch ist etwas anders: Alles ist leer. Tag für Tag fahren Geisterzüge hin und her. Bis schließlich der Moment kommt, wo Bahnvorstände, Gewerkschafter und Politiker zum Krisengipfel zusammenströmen. Es ist eine Bahnhofshalle, in der sich alle Beteiligten treffen. Die elektrischen Türen sind leider defekt, so dass niemand mehr den Raum verlassen kann. Außer Betrieb ist derzeit dummerweise auch die einzige Toilette. Was dazu führt, dass der deutsche Bahnboykott kein ganzes Jahr dauert. Wider Erwarten werden die längst überfälligen Reformen zügig (!) auf’s Gleis gesetzt. Und den Politikern wird auferlegt, für ihre Dienstfahrten fürderhin die Bahn zu nutzen – damit Entgleisungen des Managements künftig der Vergangenheit angehören.
Und wieder mal: Bahn(streik)
Ich fuhr mal mit der Bahn,
die fing zu fahr’n nicht ahn.
Jetzt hab ich’s auch, o weh,
mein Mund bleibt steh’n – bei B.
Rilke meets DB
September 1899
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Dezember 2023
Ich lebe mein Leben in stockenden Bahnen,
die sich über die Gleise ziehn.
Ich werde den Weg bis zum Ziel nur erahnen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich krieche im Zug, in dem uralten Wurm,
und ich krieche jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: ist es der Streik oder Sturm
oder alltäglicher Gang?
Genug Zug
Es reiste ein Mensch gern im Zug,
doch ist dieser oft im Verzug.
Am Gleis wird es zügig
recht zugig. “Jetzt krieg’ ich
vom Bahnfahr’n doch langsam genug!”
Kein Tier
Der Mensch ist kein Tier
und schon gar kein Affe
sagen die Kreationisten
und verweisen auf das Buch der Bibel
Der Mensch ist kein Tier
Tiere sind nicht annähernd so brutal
sage ich
und verweise auf das Land der Bibel
Im Osten
Im Osten brennt es
Gott sei Dank
nur der Himmel
Bahnanenrepublik
Es interessiert mich einen Scheiß, warum eure Züge verspätet sind! Also spart euch gefälligst diese überflüssigen Durchsagen am Bahnsteig, warum der Zug, auf den ich gerade warte, unpünktlich ist. Es interessiert mich nicht! Ich habe in den letzten Monaten eine ellenlange Liste eurer Rechtfertigungen gesammelt – sie kommen mir vor wie die Ausflüchte eines Schülers für seine verpatzte Arbeit: “Ich musste meiner Mutter helfen.” “Der Termin beim Kieferorthopäden ging so lang.” “Niemand hat mir die Aufgaben gebracht, als ich krank war.” Am Ende des Tages spielt es keine Rolle, warum die Arbeit danebenging oder warum ich zu spät gekommen bin.
Wäre der Zustand unserer Demokratie am Zustand der Deutschen Bahn abzulesen, wären wir längst in einer Bananenrepublik angekommen. Zum Glück ist das nicht so, und doch haben Bahn und Politik etwas miteinander zu tun: Denn es ist sicherlich nicht einfach Missmanagement oder übertriebenes Krankfeiern des Personals, das an den Nerven der Fahrgäste zerrt, sondern eklatantes Versagen der Politik: Statt das Schienennetz zu modernisieren und den gestiegenen Bedürfnissen anzupassen, hat man jahrzehntelang vor allem in die Straße investiert. Die Bahn und ihre Fahr-, besser Stehgäste, sind im wahrsten Wortsinn auf der Strecke geblieben.
Nicht beabsichtigt
Es ist schon lange überflüssig,
dass die deutsche Autoindustrie Geld in Werbung steckt.
Jemand anderes macht viel effizienter Werbung für die Straße:
die Deutsche Bahn
Wenn ich ein Vöglein wär
Wenn ich ein Vöglein wär*
wüsste ich nichts vom Krieg
und einäugigen Menschen
Wenn ich ein Vöglein wär
zwitscherte ich drauflos
an jedem Morden neu
* nach dem gleichnamigen Volkslied