Ein Gedicht aus der Schulzeit kam mir dieser Tage in den Sinn. Wodurch diese Erinnerung veranlasst wurde, vermag ich nicht zu sagen. Mit Corona dürfte es kaum zusammenhängen: Zwar geht es im fraglichen Gedicht um Krankheit und Tod, aber bei einem Kind. Kinder sind praktisch immun gegen das Virus.
Den Verfasser wusste ich nicht mehr zu nennen, auch nichts mehr vom Inhalt außer das Thema, das durch den Titel bezeichnet war.
Es war wohl in der siebten oder achten Klasse, als unser Deutschlehrer ein Gedicht mitbrachte, dem die Überschrift fehlte. „Welchen Titel hat wohl dieses Gedicht?“ Wir mochten den Lehrer, wir mochten Gedichte. Wir legten uns ins Zeug. Doch ein Vorschlag nach dem andern prallte an seiner abweisenden Miene ab. Ungläubig berannten wir das Bollwerk und gierten danach, endlich die Zeile oberhalb des Textes zu füllen.
„Es liegt doch auf der Hand.“ Unser Lehrer konnte es nicht fassen. Das stachelte uns um so mehr an. Mag sein, dass er sogar das erste Wort des Titels anschrieb. Es war umsonst. Schließlich gaben wir auf. Enttäuscht – und erleichtert. Enttäuscht, weil wir alles gegeben hatten und trotzdem das Ziel nicht erreicht hatten. Erleichtert, weil wir in dem Moment, als die Lösung an der Tafel stand, begriffen: Wir hätten das Ziel niemals erreichen können – es lag außerhalb unseres Radius‘.
An diese Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung erinnerte ich mich, als mir das Gedicht wieder einfiel. Es ist schlimm, etwas nicht zu schaffen, obwohl man alles gegeben hat. Aber die Einsicht in die eigenen Grenzen kann heilsam sein und vor Frustration und zwanghaftem Ehrgeiz bewahren. Ja, das ist nochmal eine ganz andere Welt! … Ok, wenn das so ist … Gut, das war ja auch nicht zu schaffen …
Der Fuchs schleicht nicht davon wie ein geprügelter Hund, sondern übt den aufrechten Gang ein: Er ist ein Fuchs, kein Hochspringer, und es gibt manche Dinge, die werden immer unerreichbar für ihn bleiben, ohne dass er darüber sauer sein müsste wie die sprichwörtlichen Trauben.
Und auf einmal ist da etwas Leichtes, die angespannten Kiefer lösen sich und ermöglichen den Ansatz eines Lächelns. Die Episode kann zu den Akten gelegt werden – nicht als depressionsförderndes Minitrauma, sondern als hilfreiche Erfahrung der eigenen Grenzen.
Abgehakt. Auch wenn sie 40 Jahre später wieder aufblitzt …
Das Gedicht stammt von Eichendorff. Der Titel: „Auf meines Kindes Tod“.