Ist Sterben so schlimm?

In einem Hamburger Pflegeheim, in dem eine Reihe von Corona-Infektionen festgestellt wurde – sowohl bei Bewohnern als auch bei Pflegekräften –, verstarben innerhalb einer Woche drei Menschen.
Das ist allemal eine Schlagzeile wert und leistet der grassierenden Hysterie Vorschub. Die Zahlen wirken alarmierend, sagen für sich betrachtet aber so gut wie nichts aus.

Fraglich, ob das Statement der Heimleitung angemessen wahrgenommen wird, das erste Interpretationshilfe leisten könnte: „Die drei Bewohner litten teils unter erheblichen Vorerkrankungen, welche Rolle die Viruserkrankung bei der Entwicklung ihres Zustandes gespielt hat, ist also nicht konkret zu beurteilen“, so der entsprechende Kommentar.
Die Schlagzeile dagegen formuliert: „Corona: Weitere Tote im Heim in Wellingsbüttel“.

Tote vermelden zu müssen erscheint als die eigentliche Katastrophe, als kompletter Offenbarungseid einer Gesellschaft, in der jeder Mensch ein verbrieftes Recht darauf zu haben scheint, vor seinem eigenen Tod geschützt zu werden, egal wann und unabhängig von seinem Gesundheitszustand. Als habe man vergessen, dass die Sterblichkeitsrate nach wie vor 100% beträgt und früher oder später der Tod in jedem Leben eintritt, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit übrigens im vorgerückten Lebensalter.

Ist Sterben im Alter so schlimm? Ist es im Alter weniger schlimm als in jungen oder mittleren Jahren?
Täusche ich mich, oder flüstert mir da sofort die Stimme der political correctness ins Ohr, dass das natürlich überhaupt nicht geht? Dass Leben immer gleich viel wert sei, egal wie alt, wie krank, wie hinfällig.
Ist das nicht unser unhinterfragbares Credo, zumal mit unserer deutschen Vergangenheit, jeden Versuch, Leben gegeneinander abzuwägen, sofort als menschenverachtend zu brandmarken und mundtot zu machen? Und wird dies nicht von unserer Verfassung so festgeschrieben?

In der Tat, versichert der Deutsche Ethikrat für den Fall einer triage in der Corona-Krise, sei der rechtliche Rahmen eindeutig: „Die grundrechtlichen Direktiven beschreiben im Wesentlichen negativ den Bereich des nicht mehr Zulässigen. Positive Orientierung für die konkrete Auswahlentscheidung in der Klinik bieten sie dagegen kaum.“ (Ethikrat, 27.03.2020) Um dann etwas kryptisch nachzuschieben: „Das bedeutet nicht, dass keine handlungsleitenden Vorgaben konzipierbar wären.“ Aha. Aber diese sollen die untergeordneten „Fachgesellschaften“ entwickeln.

Immerhin wird zugestanden, dass in einem solchen Fall möglicherweise doch bestimmte Kriterien entwickelt würden, die helfen, die begrenzten Ressourcen (in diesem Fall: Beatmungsgeräte) auf die übergroße Zahl von Hilfsbedürftigen zu verteilen.
Wäre es vorstellbar, dass das Lebensalter dabei keine hervorgehobene Rolle spielt? Wohl kaum.
Und dass der aktuelle Gesundheitszustand unberücksichtigt bleibt? Wohl ebenso wenig.

Damit würde aber de facto eine Wertung vorgenommen. Wohl gemerkt nicht eine Bewertung dieses gelebten Lebens, wohl aber eine Bewertung darüber, ob diesem Menschen angesichts seines Alters und Gesundheitszustands Behandlung zugebilligt wird, solange es andere Hilfsbedürftige gibt, die jünger und gesünder sind. 

Spätestens an dieser Stelle wäre es hilfreich, einen Gedanken einzuspeisen, der in der Debatte keine Rolle zu spielen scheint: dass menschliches Leben per se begrenzt ist und irgendwann sein Ende erreicht. So dass die Rolle von Medizin und Pflege nur unzureichend beschrieben wird, wenn ausschließlich die Verlängerung des Lebens im Blick ist.

Vielleicht ist am schlimmsten für viele, die momentan sterben (egal ob mit oder ohne Covid-19), ja noch nicht einmal ihr eigener Tod, sondern die Tatsache, dass sie unbegleitet darauf zugehen müssen, abgeschottet und isoliert von den Menschen, die sie ihr Leben lang begleitet haben. Dass dies so einfach hingenommen wird, ist die eigentliche Menschenverachtung.