Die Theodizee als ewiger Stachel im Fleisch des Glaubens: Wenn Gott gütig und gerecht ist, wie kann er all das Schlimme und Böse auf dieser Welt zulassen?
Die Frage ist bestechend simpel, aber alles andere als einfach. Und wenn man von der Annahme ausgeht, Gott sei nicht nur gütig und gerecht, sondern auch allmächtig, lässt sich die Frage nicht beantworten, ohne in üblen Aporien zu enden. Entweder bleiben seine Güte und Gerechtigkeit oder seine Allmacht auf der Strecke.
Mir erscheint es am plausibelsten, wenn wir annehmen, die Welt sei ein freies Spiel der Kräfte – ohne direkte Einwirkung Gottes. Das bedeutet, die Akteure dieses Geschehens – dazu zählen nicht nur Menschen, sondern auch die übrige belebte und unbelebte Welt – sind frei zu handeln bzw. agieren in Übereinstimmung mit den gesetzten Rahmenbedingungen (Naturgesetze). Gott hat die Welt sich selbst überlassen. Wer Gutes tut, wird darin ebensowenig unterstützt wie der, der Schlechtes tut, daran gehindert wird. Erst vor kurzem haben wir uns an das Kriegsende vor 80 Jahren erinnert und mir fallen nicht nur Dietrich Bonhoeffer ein, der vier Wochen vorher noch exekutiert wurde, sondern auch die vielen anderen, die in den letzten Tagen noch an den Landstraßen an Bäumen aufgehängt wurden. In seinen letzten Zuckungen riss das Monster noch so viele mit sich in den Tod. So viele junge Menschen, die ihr Leben noch vor sich hatten! So viele Mutige! Einer von vielen Gründen, an Gott zu (ver)zweifeln. Denn das freie Spiel der Kräfte ist oft nicht Spiel, sondern Drama und Tragödie.
Eine Grundannahme müsste aber noch hinterfragt werden: Ist Gott nur anwesend, wenn es uns gut geht? Lässt sich Gott nur dann erfahren, wenn ich auf der Sonnenseite des Lebens stehe? Oder hat die Möglichkeit, Gott zu erfahren, gar nichts mit der jeweiligen Lebenssituation zu tun? Dann wäre Gott unabhängig von äußeren Umständen präsent und ließe sich in Glück und Unglück gleichermaßen erfahren. Was theoretisch durchaus schlüssig klingt, kann in der Praxis schnell zur Bagatellisierung des Bösen geraten: Es ist egal, unter welchen Umständen du lebst, da du Gott in jeder Lage erfahren kannst und er dir nahe ist. Warum also etwas ändern an den Umständen?
Zumindest wird man festhalten müssen: Viele Menschen haben auch in schlimmsten Situationen Gott erfahren: nicht beschützend und bewahrend vor äußeren Übeln, sondern auf einer spirituellen Ebene beschützend und bewahrend. Sie haben sich in ein- und demselben Augenblick als ausgeliefert erfahren und trotzdem als aufgehoben und getragen – eine paradoxe Erfahrung, die von außen zuweilen sogar als absurd wahrgenommen wird. Auf der anderen Seite gibt es aber auch diejenigen, deren Glaube unter der Belastung zerbrach.
Ob und wie es Glauben geben kann jenseits der Erfahrung von Gut und Böse, abseits von Glück und Unglück, ist möglicherweise wichtiger als die Frage nach der Theodizee.