Die Mehrheit hat Recht – richtig?

Angesichts der Verbrechen in Nazi-Deutschland reagiert meine Generation oft fassungslos: Warum gab es damals so gut wie keinen Widerstand in der Bevölkerung? Entweder lebten damals fast ausschließlich Feiglinge, oder unsere Vorfahren gingen mehrheitlich der übermächtigen staatlichen Demagogie auf den Leim. Wenn man davon ausgeht, dass diese Menschen grundsätzlich nicht besser oder schlechter waren als wir, und wir weiter zu unseren Gunsten annehmen, dass die heutige Menschheit nicht überwiegend aus Feiglingen besteht, dann wird ein wichtiger Grund für den fehlenden Widerstand damals in genau dieser redundanten Propaganda zu suchen sein, der die Menschen ausgesetzt waren und deren Klaviatur das Regime wie keines zuvor zu spielen verstand.

So wirkt es einigermaßen banal, sich darüber zu mokieren, dass Menschen z.B. vor der antisemitischen Propaganda einknickten, ohne sich bewusst zu machen, was es bedeutet, tagein, tagaus mit den entsprechenden ‚Informationen‘ gefüttert zu werden. Wenn ich eine Meinung tausend Mal höre – woher nehme ich die Kraft, ihr nicht zu glauben? Muss am Ende nicht doch wahr sein, was anscheinend alle für wahr halten? Selbst einem kritischen Geist wird es auf Dauer nicht leicht fallen, Abstand zu wahren und sich in ein inneres Exil zurückzuziehen, wo andere Plausibilitäten herrschen, wenn alles um ihn herum gegen ihn steht.

US-amerikanische Psychologen fanden in einer Studie aus dem Jahr 2007 heraus, dass innerhalb einer Gruppe diejenige Stimme am ehesten Gehör findet, die sich am häufigsten artikuliert. D.h. die Anzahl der Wiederholungen hat entscheidenden Einfluss darauf, ob sich eine Meinung am Ende durchsetzt oder nicht – losgelöst von ihrer inhaltlichen Plausibilität.
https://www.semanticscholar.org/paper/Inferring-the-popularity-of-an-opinion-from-its-a-a-Weaver-Garcia/a0d3b62437e251c9cd4a3f8739b2d5b813f432e1

Wie sieht es dann erst aus, wenn ein Chor von Stimmen mehr oder weniger unisono und über einen langen Zeitraum seine Botschaft verbreiten kann, immer und immer wieder – ohne Gegenrede?
Wird die schiere quantitative Übermacht nicht dazu führen, dass mehr und mehr Menschen vor dieser Übermacht kapitulieren in dem Bewusstsein, DASS DOCH NICHT FALSCH SEIN KANN, WAS OFFENSICHTLICH ALLE GLAUBEN?

Fazit: Die Tatsache, dass etwas überall, ständig und von (fast) allen gesagt wird, verrät noch nichts, aber auch rein gar nichts über den Wahrheitsgehalt des Gesagten. Doch die Chancen stehen hervorragend, dass sich genau diese Meinung am Ende durchsetzen wird. Es genügt offenbar, etwas immer und immer wieder zu sagen, dann wird es am Ende auch nach-gesagt und … geglaubt. Die schiere Redundanz des Gesagten und das (weitgehende) Fehlen abweichender Meinungen erweist schon seine Wahrheit.

Wenn heute die Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung die offizielle Position zu Corona gutheißt und mitträgt, sagt dies noch nichts über die ‚Wahrheit‘ dieser Position aus, wobei ‚Wahrheit‘ in diesem Fall Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit bedeutet.

Vielmehr würde eine Untersuchung der publizistischen Landschaft in den ersten Corona-Wochen m.E. zum Ergebnis kommen, dass die Medien sehr zügig auf die Regierungsposition eingeschwenkt sind und so maßgeblich mit dazu beigetragen haben, ein neues Narrativ zu schaffen: das von der einzigartigen globalen Bedrohung. In ‚meiner‘ Tageszeitung wurden abweichende Meinungen jedenfalls sehr schnell abgetan, indem sie als unseriös gebrandmarkt oder als verantwortungslos diffamiert wurden, mitunter wurde ein ausgesprochen polemischer Ton angeschlagen, der jeglichen sachlichen Journalismus vermissen ließ. Ein öffentlicher, ausführlicher Diskurs hat im Wesentlichen nicht stattgefunden, vielmehr waren die Medien eifrig bemüht, den Boden für die Exekutierung historisch einzigartiger, einschneidender Maßnahmen zu bereiten. NACHDEM DIE POLITIK DIE RICHTUNG VORGEGEBEN HATTE, WURDE DIESE NICHT MEHR GRUNDSÄTZLICH IN FRAGE GESTELLT. Diskussion wurde mehr oder weniger abgeblockt. Wer nicht auf Linie war, wurde zum Verschwörungstheoretiker erklärt oder in die politisch extreme Ecke gestellt.

Es geht hier überhaupt nicht darum, den politisch Verantwortlichen Bösartigkeit zu unterstellen. Es geht aber sehr wohl darum, auch bei ihnen mit dem zu rechnen, was zum Menschsein generell gehört: Fehlbarkeit.

Genau das darf es offensichtlich aber nicht mehr geben. Die vorherrschende Strategie in der Corona-Krise grundsätzlich zu hinterfragen geht nicht. Genau diese Haltung bezeichne ich als totalitär und anti-demokratisch. Sie passt weder zu unserer Geschichte noch zu unserer Gesellschaft. Und doch wird sie, wohl meistens unbewusst, von vielen vertreten, die sich in der Öffentlichkeit zu diesem Thema äußern.

Dass dies kein neues Phänomen ist, sei nur am Rande erwähnt. Auch in anderen Themenbereichen gibt es längst die Tendenz, abweichende Meinungen auszugrenzen und zu diffamieren (z.B. beim Thema Klimawandel).

Ich bin beileibe kein ängstlicher Mensch, aber diese Entwicklung macht mir tatsächlich Angst, weil sie subkutan erfolgt und so plausibel wirkt, geht es doch – selbstverständlich immer gut gemeint (das ist keine Ironie!) – darum, unsere Werte zu schützen, während sie dabei gleichzeitig verraten werden.

De facto ist es aber doch so: Das, was z. Zt. (noch) die Mehrheit glaubt und für angemessen hält, ist von einer sehr kleinen Gruppe von spezialisierten Wissenschaftlern und Politikern als die ihrer Meinung nach angemessene Reaktion auf das Corona-Virus beschlossen worden. Möglich, dass die hinter ihnen versammelte Mehrheit Recht hat, möglich, dass sie irregeht. Darüber muss gerungen werden – immer wieder. Aber die Mehrheit hat nicht deshalb Recht, weil sie die Mehrheit ist, und sie setzt sich ins Unrecht, wenn sie Bürgern, die zu anderen Einschätzungen kommen, Verantwortungslosigkeit unterstellt oder sie der Dummheit bezichtigt.

Gerade weil es für diese Situation keine Blaupause gab, sondern von allen (!) Neuland beschritten wird, kann sich niemand an die Brust heften, die Musterlösung zu haben. An dieser Stelle das Denken vorschnell Virologen und Politikern zu überlassen, die in Elfenbeintürmen ganz eigener Art sitzen, offenbart schon ein erstaunliches Maß an Naivität. Woher sollen die es denn wissen?!

Eine Herausforderung, welche die Gesellschaft quasi an allen Stellen betrifft und trifft, kann auch nur von allen gelöst werden, und das bedeutet im demokratischen Staat, dass Vertreter der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche am Meinungsbildungsprozess beteiligt werden müssen. Stattdessen steht eine einzige (ehrenwerte!) Disziplin seit Monaten im Brennpunkt des nationalen Interesses – die der Virologen – und soll es zusammen mit den regierenden Politikern richten. Mochte das zu Beginn der Krise noch nachvollziehbar, weil der allgemeinen Verwirrung geschuldet sein, so zementiert eine solch eindimensionale Sichtweise langfristig eine partielle Wahrnehmung und begünstigt Maßnahmen, die das Ganze der Gesellschaft nicht im Blick haben.

Wo ist der breit aufgestellte Krisenstab, in dem Mitglieder aus relevanten Bereichen der Gesellschaft mitwirken, sodass sich ein annähernd realistisches Bild davon ergibt, welche ‚Nebenwirkungen‘ die bisherigen Maßnahmen haben? Wo dann nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit abgewogen wird zwischen Kosten und Nutzen, statt wie das Kaninchen vor der Schlange auf Infektionszahlen zu starren, mit denen wir auf unabsehbare Zeit werden leben müssen – wie mit vielen anderen Erkrankungen auch. Mir fehlen hier viel zu viele Stimmen – diejenigen derer, die von sich aus nichts sagen, und die Stimmen derer, die abgewürgt wurden.