Anmerkungen zu einem Bericht über junge afrikanische Berufsscammer und alte, einsame, weiße Männer (DIE ZEIT, 07.10.2021)
Am Haken einer attraktiven Schönheit, die immer neue emotionale Botschaften und – auf Anfrage – auch mehr oder weniger erotische Fotos verschickt, opfert ein alter, weißer Mann nach und nach sein gesamtes Vermögen, um die Frau seiner schlaflosen Nächte endlich nach Deutschland zu bekommen. Die Wahrheit, dass hinter den zu Herzen gehenden Mails ein Ghanaer jüngeren Jahrgangs steht, der Teil einer blühenden Betrugsmaschinerie ist, die halbwegs gut situierte, alleinstehende Europäer ausnimmt, blitzt ab und zu auf, wenn seine Bemühungen um Verifizierung z.B. durch Anfragen bei den dortigen Behörden negativ beschieden werden. Dennoch gelingt es ihm nicht, aus diesem fake auszubrechen und der ernüchternden Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Inzwischen hat er mehr als 150.000.- EUR, verloren, um der unbekannten Schönen habhaft zu werden, die auf ihrem Weg nach Deutschland aufgrund selbstverständlich unverschuldeter Zwischenfälle momentan in den USA ‚festgehalten‘ wird und immer noch Geld braucht, um doch noch ans Ziel seiner Träume zu kommen.
Habe ich die Kraft, mich mit der Wahrheit zu konfrontieren?
Ein alter Freund erzählte mir, er habe Anfang der 1970er Jahre als Grundschullehrer einen einbeinigen Kriegsversehrten gehabt, der jeden Tag mit einer Lobeshymne auf die vergangene Glorie von Nazi-Deutschland begann. Seine Schüler wussten in allen Einzelheiten zu berichten, wie ihm eine Granate das Bein abgerissen hatte – geopfert für Volk und Vaterland.
Wieviel Mut braucht es doch, sich einzugestehen: Ich bin einer Lüge aufgesessen! Ich habe dafür meine Gesundheit drangegeben. Ich habe bei der Unterstützung dieser Lüge die wichtigsten Jahre meines Lebens geopfert. Ich habe bei der gnadenlosen Durchsetzung dieser Lüge Verbrechen begangen. Ich habe mein Leben, meine Kraft, meine Ideale, meinen Glauben … an eine Lüge verschwendet. Es war alles nichts.
Menschen klammern sich an (Lebens-)Lügen fest, weil sie den Fraß der Wahrheit an ihrer Seele nicht verkraften.
Der einsame Witwer schreibt seinem geliebten Kontakt, der sich gerade ein drittes Auto zugelegt hat, im opferbereiten Ton des Märtyrers, dass er sich an diesem Abend lediglich von drei sehr kleinen Toastscheiben mit Butter und Marmelade ernährt hat. Er wird niemals ablassen, an die Liebe in der Ferne zu glauben. Wenn er die Wahrheit anschaut, stirbt er. Er will leben, so klammert er sich verzweifelt an den längst geknickten Strohhalm und hofft weiter.
Wie werden die Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan physisch und/oder psychisch traumatisiert wurden, ihre Erfahrungen verarbeiten? Wird ihnen die Bundesregierung (kein Problem, ihre Tage sind ja gezählt) oder unsere Gesellschaft ein geschöntes Narrativ anbieten, damit alle Seiten besser mit ihrem Opfer leben können? Oder wird es eine ehrliche Aufarbeitung geben, die Menschen die bittere Erkenntnis zumutet, sich möglicherweise umsonst geopfert zu haben? Welche Hilfestellungen hält eine Gesellschaft dann für solche Menschen bereit? Und wie geht sie damit um, einer Täuschung aufgesessen zu sein?