Zahn der Zeit

Nun lebe wohl, du stolzer Zahn,
der Tag ist heut gekommen,
ich lebte in dem eitlen Wahn,
du würd’st mir nie genommen.

Nun lebe wohl, du steiler Zahn,
die Zahnfee wird dich fassen,
mit Spritze, Zange angetan,
und mir die Rechnung lassen.

Nun lebe wohl, du braver Zahn,
du warst ein tapf’rer Recke,
nur Reißen, Beißen war dein Plan,
du lebtest diesem Zwecke.

Nun lebe wohl, du alter Zahn,
sollst dich nicht länger quälen,
darfst nun in Frieden von mir fahr’n,
doch horch, du wirst mir fehlen.

Nun lebe wohl, verblich’ner Zahn,
jetzt bist du nur noch Stücke,
gebeugt in Trauer steht dein Clan
um eine große Lücke.

Nun lebe wohl, mein lieber Zahn,
du bist von mir gegangen,
doch dahin, wo du bist, ich ahn’ –
auch ich werd’ hingelangen.

Aller guten Dinge …

Ich fahre mit dem Zug zur Arbeit. Mit zwei Zügen, um genau zu sein, denn mittendrin muss ich umsteigen. Den Bus für das letzte Wegstück kann ich seit kurzem nicht mehr nutzen – ich käme zu spät, da sich der Beginn meiner Arbeitszeit nach vorn verschoben hat. Da kommt mir ein Gedanke: Ich stelle das alte E-Bike meiner Frau an den Bahnhof, um von dort rasch und ohne schweißtreibende Anstrengung die letzten 5 km zu fahren.

Am ersten Tag muss ich das Rad im Zug transportieren. Um pünktlich zu sein, buche ich für die zweite Etappe einen ICE – und außerdem einen Platz für mein Rad. Als ich an den Bahnhof komme, wird der Regionalexpress als verspätet gemeldet. Die Verspätung wächst sich auf 20 Minuten aus. Ich nehme die nächste S-Bahn, die noch vorher kommt. Mein ICE ist natürlich weg. Mein Geld für die Fahrkarte auch. Eine halbe Stunde zu spät komme ich auf der Arbeit an.

Zweiter Versuch: Die Züge sind diesmal weitgehend pünktlich. Ich komme zum Fahrradständer am Zielbahnhof und stelle fest, dass ich den Schlüssel fürs Speichenschloss zuhause gelassen habe. Auf den letzten Drücker erwische ich den Bus und bin noch halbwegs pünktlich. Ok, diesmal geht’s auf meine Kappe.

Beim dritten Mal muss es nun endlich klappen: RE pünktlich, ICE ‚nur‘ fünf Minuten zu spät. Noch nicht einmal der angekündigte Regen kann meine gute Laune kippen. Das Rad sehe ich schon von weitem, alles paletti diesmal. Als ich näher komme … der Sattel ist weg. Geklaut. Was für ein A… war das?! Der Bus fährt gerade davon. Ich beschließe, es trotzdem mit dem Rad zu versuchen und setze mich auf den stabilen Fahrradkorb auf dem Gepäckträger. Leider ist mein Po nicht ganz so stabil. Zum Glück kann ich den oberen Teil meines Rucksacks darüber legen. Jetzt geht es einigermaßen. Dafür beginnt es zu regnen. Aber dafür habe ich vorgesorgt. Schnell ist der Regenponcho übergezogen und es geht trocken weiter. Wenigstens verdeckt der Umhang, dass ich aussehe wie ein Affe auf dem Schleifstein.

Abends im Fahrradgeschäft stehe ich vor einer Wand mit Sattelstützen – alle mit unterschiedlichem Querschnitt. Da hilft nur eins: ausmessen. Ich sehe schon, ich muss die Tour noch einmal ohne Sattel machen. Diesmal nehme ich ein Kissen mit. Hoffentlich regnet es wieder.

Gläubige und Ungläubige

Morgens auf der Autobahn
Es schüttet in Strömen
Während ich Ungläubiger dahinschleiche,
rauschen die Gläubigen an mir vorbei
mit 160 Sachen in die Gischt

Ganzheitliches Mittelalter

Im Jahr 1286 wurde das Heiligen-Geist-Spital in Lübeck fertiggestellt. Wer es betrat, fand sich in einem Kirchenraum wieder, der reich gestaltet und ausgeschmückt war. Von dort führte eine Tür in einen langgestreckten Trakt, der Schlafstätten für Alte, Sieche und Kranke bot.

Eine Stiftung hatte das Projekt nach italienischen Vorbildern realisiert. Sie war 1227 vom Kaufmann Bertram Morneweg und anderen wohlhabenden Lübeckern gegründet worden. Morneweg kam aus einfachsten Verhältnissen und war manchen Quellen zufolge als Waisenkind adoptiert worden. Durch den Ostseehandel hatte er es zu beträchtlichem Wohlstand gebracht. Ob sich sein diakonisches Engagement seinen Kindheitserfahrungen verdankte?

Zu den Gottesdiensten war die Tür zum Langhaus weit geöffnet. Gebete und Gesänge fanden so ihren Weg zu denen, die selbst nicht mehr den Weg in die Kirche schafften. Der Mensch, so die Idee dahinter, braucht nicht nur ein Dach über den Kopf, zu essen und Kleider anzuziehen – er braucht auch Nahrung für die Seele: für seinen Weg in dieser Welt und vor allem in die nächste. In vielen Städten entstanden damals Heilig-Geist-Spitäler mit demselben ganzheitlichen Konzept: Sorge für Leib und Seele.

Dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner physiologischen Funktionen, geriet durch die Euphorie naturwissenschaftlicher Entdeckungen in der Moderne beinahe in Vergessenheit – zumindest im Gesundheitswesen. Inzwischen fragen mehr und mehr Menschen: Was braucht die Seele, dass sie heil werden kann? Es geht nicht nur um den Leib, um die Wiederherstellung oder Regeneration körperlicher Funktionen. Es geht immer auch um die Seele. Oft ist sie sogar der Schlüssel zur körperlichen Heilung.

In den heutigen Kliniken und Pflegeheimen liegen die ‚Kirchen‘ als Kapellen oder kleine Gebetsräume oft in der Peripherie. Aber sie halten die Erinnerung lebendig, dass es dem Menschen gut tut, sich in seiner religiösen Tradition zu bergen und für seine Seele zu sorgen.

Telefonieren im Zug

Es nervt mich, wenn Leute im Zug telefonieren – am besten noch in der Ruhezone. Viele reden da noch lauter als sonst. Nur neulich habe ich es bedauert, dass ich nicht zuhören konnte. Eine Frau ein paar Reihen vor mir fing an, auf Italienisch zu telefonieren. Ich liebe Italienisch. Leider war sie so höflich, sich in den Raum zwischen den Waggons zu begeben, und ich hörte nur noch ihre Stimme Achterbahn fahren.

Gestern im Zug blieb es lange ruhig. Dann klingelt direkt in der Reihe vor mir ein Handy. Gesprächsfetzen vom anderen Ende der Leitung. Ich ärgere mich, dass ich von meinem Buch weggeholt werde. Eine jüngere Stimme erzählt aufgeregt. Ich verstehe „Arzt“ und „Gespräch“. Jetzt werde ich neugierig, drehe den Kopf, um besser zu hören: „wollen jetzt auf palliativ umstellen“. Ich bin plötzlich hellwach. Ist das die Tochter, die da mit der Mutter telefoniert? Auf einmal bricht die Stimme am anderen Ende … schluchzt … Vor dem Fenster fliegen Felder mit grüner Wintergerste vorbei. Dann die Stimme vor mir, gedämpft, fast sachlich, klar: „Wir müssen Papa jetzt gehen lassen.“

Lebenstrieb

Ü 60, die Kinder aus dem Haus, der Ruhestand rückt näher, manches erreicht und gestaltet, vieles genossen – wäre das nicht ein guter Moment für den Abschied? Alt werden – der Wunsch von vielen -, ist das wirklich erstrebenswert? Nichts mehr behalten können, weder im Kopf noch in der Blase, nicht mehr laufen können ohne Rollator, nicht mehr sehen und/oder hören können, jeden Tag ein bisschen mehr Energie und Autonomie verlieren … jetzt, wo die Kräfte noch da sind, abtreten, dankbar für die Jahrzehnte und Menschen – wäre das nicht viel besser?

Und dann bin ich in den Bergen unterwegs auf alpinem Pfad, und “alpin” heißt, dass dort, wo normalerweise Sicherungen angebracht sind, keine sind, und plötzlich schnellt der Puls in die Höhe, meinen Durst spüre ich ebensowenig noch wie die Blase am Fuß, und ich muss da hinunter, wo jeder Fehltritt, jedes Abrutschen meinen sicheren Tod bedeuten würde, und auf einmal ist nichts mehr da von der Abgeklärtheit dessen, der zuvor noch in aller Seelenruhe dahinscheiden konnte – Angst, nackte Angst sitzt mir im Genick, und ich habe nur noch das eine im Sinn: diese Rinne heil hinunterzukommen.

Wenn ich manchmal nicht begreifen kann, wie hochbetagte Menschen trotz ihrer kolossalen Einschränkungen sich dennoch mit aller Kraft an dieses bisschen Leben klammern – möglicherweise deshalb, weil in ihnen immer noch derselbe unbändige Lebenstrieb aktiv ist, den auch ich am Berg so überdeutlich verspürt habe. Und vielleicht braucht es diesen übermächtigen Lebenswillen auch deshalb, weil wir sonst schon vorher manches Mal die Segel gestrichen hätten …

Wrack-Kack-Kreuzfahrt

„Trainwreck Poop Cruise“, so heißt eine Doku, die seit einigen Wochen von Netflix gehostet wird. In einer knappen Stunde wird v.a. durch Augenzeugenberichte die Havarie eines Kreuzfahrtschiffs nacherzählt, dessen dreitägige Karibik-Kurztour zum Desaster geriet. Ich verrate nicht, warum und was die Auswirkungen für die Urlauber waren. Jedenfalls treiben sie mehrere Tage auf See, bis sie in den sicheren Hafen zurückgeschleppt werden. Während dieser Zeit fährt einmal ein anderes Kreuzfahrtschiff ganz dicht an ihnen vorbei. Ungläubig und entrüstet berichten drei US-Amerikanerinnen von den Reaktionen der Menschen auf dem anderen Schiff: “They were just taking pictures of us like we’re the freak show [Kuriositätenkabinett] in the middle of the ocean.” “And they are partying. They don’t stop dancing. They’re doing the YMCA [Lied] and I’m over here popping Imodium [und ich werfe Imodium – ein Durchfall-Präparat – ein].” “We’re like a scenic detour [malerischer Abstecher] on their cruise.”

Bläst man das Ganze ein wenig auf, könnte man sich auch vorstellen, wir Bewohner der westlichen, reichen Länder seien die Leute auf dem vorüberfahrenden Kreuzfahrtschiff, die Menschen der armen Länder die Havaristen. Wir sehen sogar täglich – durch das Fenster der Medien -, wie es dort zugeht. Malerisch oder idyllisch kommt es uns gewiss nicht vor, aber wir fahren daran vorbei, ohne dass dem Sehen ein Handeln folgte. Wir können ja sowieso nichts tun.

Nur ein kleiner Schritt

Ein vergessener Schulterblick
Eine abschüssige Stelle
Ein verschleppter Infekt
Und du bist auf der anderen Seite 

Verwundert
wie schnell es ging
Verwundert,
dass es noch eine andere Welt gibt,
und am meisten verwundert,
dass du gar nicht zurück willst

In deine alte
und bis eben einzige Welt

Was der einzelne bewirken kann

Wer meinen Blog kennt, weiß, dass ich zwar kein ausgesprochener Bahnhasser bin, aber in unregelmäßigen Abständen doch mittlere bis starke Aggressionsschübe erleide, weil schon zu viele meiner Nerven in den letzten Jahren im doppelten Sinn auf der Strecke geblieben sind. Umso erfreuter bin ich an diesem Morgen, als mir beim Umsteigen auffällt: Die Ansage über meinen Anschlusszug stimmt endlich! Vor einigen Wochen hatte ich einen Triebwagenführer der S-Bahn auf den Fehler hingewiesen. Er hatte versprochen, es weiterzugeben. Nun stimmen Zeit und Gleis plötzlich! Offensichtlich kann der einzelne in dieser Welt doch mehr bewirken, als ich in meinem Pessimismus oft befürchte. Freudig beschwingt nehme ich den Weg zum Nachbargleis unter die Füße, von wo der Anschlusszug abfährt – verspätet wie meist, was mich heute seltsamerweise gar nicht nervt. Dann fällt mir plötzlich auf: Die falsche Aussage, über die ich mich geärgert hatte, war immer die im Zug. Die korrekte Ansage, die ich gerade gehört hatte, kam vom Bahnhof …

Schwellenlos

Drei Schwellen in Signalfarbe
genagelt in den Asphalt
zwingen zum Spurwechsel
ehe man in das Baustellenfahrzeug rast

Wo sind die Schwellen
die jene zum Spurwechsel zwingen
die auf den nächsten Krieg zurasen
vernagelt?