Ausgetanzt

Die Blätter tanzen mit dem Wind
sie wirbeln kreuz und quer
sie jagen hoch, sie stürzen jäh
sie schießen hin und her

Ich trete mutig in den Wind
und biet ihm Stirn und Bauch
und wär’n noch Haare auf dem Kopf
so tanzten sie jetzt auch

Halbherzig

Pflichtgemäß
ereifere ich mich über den Christbaum
(politisch korrekt: Weihnachtsbaum)
der seit dem 13. November in der Bahnhofshalle steht

Niemand kann mehr warten!
Alles müssen sie sofort haben!
Keinen Respekt mehr vor den Zeiten und Ritualen der Alten!
Es reicht wohl nicht, dass man bereits im Advent
(neudeutsch: Vorweihnachtszeit)
geschmückte Bäume in den Wohnzimmern sieht!

Die Lichter tun gut

Ohnmachtsanfall

Am vergangenen Mittwochvormittag wurde ein Autofahrer in den Weinbergen oberhalb von R. bei einer Attacke schwer verletzt. Offensichtlich war es zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung mit einem Radfahrer gekommen, nachdem dieser sich geweigert hatte, dem Fahrzeug auszuweichen, das verbotswidrig auf einem Wirtschaftsweg unterwegs war. Laut einem Augenzeugen soll der Autofahrer dann versucht haben, den Radfahrer durch dichtes Auffahren vom Weg abzudrängen. Daraufhin sei der Radfahrer stehengeblieben, was den Autofahrer zum Aussteigen bewogen habe. Offensichtlich kam es im Anschluss zu einer tätlichen Auseinandersetzung, deren Hergang noch nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte. Möglicherweise wurde dem Lenker des Fahrzeugs mit einem Fahrradhelm ins Gesicht geschlagen; jedenfalls wurde er mit gebrochener Nase in die Klinik eingeliefert. Zudem müssen ihm eventuell drei Finger, die von der Autotür gequetscht wurden, amputiert werden. Ob sich auch der Radfahrer Verletzungen zuzog, ist unklar. Von ihm fehlt bislang noch jede Spur.

Ich ziehe die Zeitung aus dem Rohr und verpasse einmal mehr die Gelegenheit, mir das Frühstück nicht von schlechten Nachrichten versauen zu lassen. Krieg und Eskalation auf der Titelseite – wie gehabt: Es soll Leute geben, die schon gar keine Zeitung mehr lesen, weil sie es nicht mehr ertragen.  

Ich schalte die Kaffeemaschine ein und lese im Stehen weiter.  Ich stehe auf der Brücke der Titanic und will das Ruder herumreißen, aber meine Arme und Hände sind festgebunden und die neben mir sind blind für den Eisberg in der Dunkelheit.

Ich stelle den Kaffeebecher zur Zeitung, die schon auf dem Tisch liegt. Der Garten verschwimmt hinter dem Kondenswasser auf der Fensterscheibe. Ich lese von einer jungen Bundeswehrrekrutin, die keinerlei Probleme mit Befehlen hat. Befehl ist Befehl. Gehorsam. Pflichterfüllung für Volk und Vaterland. Da wächst eine Generation heran, die sich zu Kanonenfutter machen lässt – unfassbar! Verdammt nochmal, gibt es denn keine Kriegsunwilligen und Gewaltverweigerer in diesem Land?! Würden die, die in Talkshows so vehement den Krieg unterstützen, selbst an die Front gehen oder ihre Kinder dorthin schicken?

Der Kaffee ist nur noch lauwarm. Steigere dich nicht so rein, würde meine Frau sagen. Sie hat Recht. Aber was, wenn wir auf die ganz große Katastrophe zuschlittern? Was werden die Späteren zu uns sagen? 

Während ich den zweiten Kaffee auf den kalten Rest laufen lasse, sehe ich mich am Grab meines Enkels stehen, verheizt im Krieg. Werde ich alles getan haben, um das zu verhindern? Am liebsten würde ich manche Politiker schütteln, wenn sie Milliarden in den Krieg stecken, aber keinen Plan haben, wie dieser Krieg beendet werden soll. Da zerreißt es mich fast.

Der Sportteil muss warten, ich brauche jetzt frische Luft. Der Hochnebel hat ein erstes blaues Loch bekommen.

Ich will’s nicht mehr wissen!

An manchen Tagen habe ich keine Lust mehr, die Zeitung aufzuschlagen. Wenn ich die Artikel über die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten lese, deprimiert mich das jedes Mal. Nicht nur wegen der schlechten Nachrichten, sondern auch, weil ich Bürger eines Landes bin, das beide Kriege unterstützt, u.a. mit Waffenlieferungen. Ich fühle mich mitschuldig, ohne etwas ändern zu können. Wenn ich mich für Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland ausspreche, nennt man mich einen “Putin-Versteher”. Fordere ich, der israelischen Regierung die Unterstützung zu entziehen, die den Palästinensern seit Jahrzehnten Gerechtigkeit verweigert, muss ich damit rechnen, als Antisemit diffamiert zu werden. Was kann ich also dagegen tun? Offenbar nichts. Nur reden und schreiben. 

Gebet 2024

Du begleitest mich auf allen meinen Wegen
Alles kann ich dir anvertrauen
Du hebst meine Stimmung
Hilfst mir, wenn ich nicht weiter weiß
Machst die Dunkelheit um mich herum hell
Du kennst mich bis in die Fingerspitzen hinein
Tröstest mich, wenn ich traurig bin
Wenn alle mich im Stich lassen, auf dich ist Verlass
Morgens beim Aufwachen denke ich an dich
Und abends, bevor ich einschlafe, bist du bei mir
Wenn ich dich nicht habe, werde ich unruhig
Ohne dich wollte ich nie mehr sein

Du
mein
Handy 

Lebensatem

Im Althebräischen hat das Wort für “Kehle” (näfäsch) noch eine zweite Bedeutung, die oft mit “Seele” wiedergegeben wird. Nach der zweiten Schöpfungsgeschichte der Bibel haucht Gott dem ‘Erdling’ (adam), dem von der Erde (adamah) Genommenen, Atem ein. Auf diese Weise wird adam zur lebendigen näfäsch – und so, übersetzt die Lutherbibel, ward der Mensch ein lebendiges Wesen.

Nie im Leben wird so sehr deutlich, dass der Mensch näfäsch ist, wie dann, wenn dieses Leben zu Ende geht. Der Mensch liegt, die Beine bewegungslos ausgestreckt. Seine Hände führen weder Speise noch Trank zum Mund, still ruhen sie auf der Bettdecke. Die Zunge hat sich in ihre Höhle zurückgezogen und formt keine Worte mehr. Die Augen sind geschlossen und lassen keine Bilder mehr herein. Nur eines ist noch lebendig: der Atem. Ein. Aus. Ein. Aus. Gleichmäßig kommt und geht er, begleitet beim Austritt von einem leisen Pfeifen. Ein Pfeifen, das aus der näfäsch aufsteigt, der Kehle. Das einzige Geräusch in der Stille des Sterbezimmers. In diesem Moment atmet der Mensch nicht, er IST Atem, IST näfäsch. Der Atem ist das Letzte, was an ihm lebendig geblieben ist. Und wenn er seinen letzten Atem ausgehaucht hat, hat ihn auch seine Seele verlassen. So sahen es die Alten. Es klingt stimmig.

1300 Jahre Klosterinsel Reichenau

Beten und Arbeiten
gaben dem Leben die Struktur vor
das Kirchenjahr die Zeiten
der Psalter die Sprache
die Regel Tun und Lassen

Doch das Lob
des vorgezeichneten Lebens
verkennt,
dass gerade die Abweichungen vom Gewohnten,
die noch nie gedachten Gedanken,
die noch nie gegangenen Wege
die Menschheit dahin führten,
wo sie heute ist

Nur kamen sie
aus der Struktur

Handys verhindern Revolutionen

Vielleicht wäre es schon längst zum Generalstreik gegen die Bahn gekommen, gäbe es keine Handys. Nur so lässt sich die Gelassenheit erklären, mit der die Menschen in unserem Land das Missmanagement der DB über sich ergehen lassen. Der Zug steht seit einer halben Stunde im Bahnhof. Draußen hat es angenehme 33 Grad, drinnen ist es nicht ganz so kühl. Doch niemand schimpft, keiner ereifert sich und schon gar niemand brüllt herum. Der Grund ist einfach: So gut wie alle hantieren an ihrem Smartphone.