Sie gehorchen schon wieder zu viel

Ein Saal in einem altehrwürdigen Kloster, zwei üppige Deckengemälde aus der Barockzeit, zwanzig Frauen und Männer stehen in hygienekonzeptgemäßen Abständen im Kreis. Der Dozent hat Karteikarten mit Sprüchen ausgegeben – Stimmbildung für Lehrkräfte in akustisch anspruchsvollem Gelände –, die jede und jeder nun quasi als Meisterstück dem Plenum darbieten soll. Sinn und Unsinn sind dabei, und die Runde ist fast zu Ende, da gehen die Köpfe plötzlich hoch. Ein Spruch lässt aufhorchen und lenkt die Aufmerksamkeit von der perfekten Performerin im Nu auf den Inhalt (das tut gute Performance – sie stellt die Botschaft in den Mittelpunkt, nicht die Botin): „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen. – Hannah Arendt.“ Verhört? Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen?! Stirnrunzeln, fragende Gesichter. Bei einer indischen Gruppe, mit dem statischen Kastenwesen im Hinterkopf, habe dieser Satz die Übung glatt gesprengt, erzählt der Dozent.

Hannah Arendt stellt unsere Erwartungen formal und inhaltlich komplett auf den Kopf – nicht nur die von Indern, sondern auch die meiner Schüler, als ich den Satz in der nächsten Stunde an die Tafel schreibe. „Jeder Mensch hat die Pflicht zu gehorchen“ – das erwarten die Jugendlichen und assoziieren „Mensch“ mit „Schüler“. Sie lassen sich dann darauf ein, dass man in bestimmten Situationen auch das Recht haben könne, den Gehorsam zu verweigern … aber dass kein Mensch das Recht habe, zu gehorchen?!

Neugierig geworden habe ich nach der Fortbildung begonnen zu recherchieren …
1960 war Adolf Eichmann, ideologisch gestähltes Organisationsgenie, der von seinem Berliner Schreibtisch aus Millionen europäischer Juden in die Züge zu den Vernichtungslagern dirigiert hatte (von der Effizienz seiner Tätigkeit überzeugte er sich bisweilen vor Ort), in Argentinien von einem Mossad-Kommando entführt und nach Israel ausgeflogen worden – der entscheidende Hinweis auf eine Quelle hatte die Israelis über den Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer erreicht (packend und im Kern historisch zutreffend verfilmt in: „Der Staat gegen Fritz Bauer“), obwohl deutsche Behörden und vermutlich sogar die Bundesregierung spätestens schon zwei Jahre vorher seinen Aufenthaltsort kannten, ihn Tel-Aviv aber nicht verrieten, um etwaige belastende Aussagen gegen deutsche Politikprominenz zu verhindern. Als Eichmann dann vor einem israelischen Gericht stand, verteidigte er sich damit, lediglich Befehlen gehorcht zu haben, ja, er führte entschuldigend an, er habe doch nur im Sinne der Kantischen Pflichtenethik gehandelt.
Mehr als zwei Jahre sind seit der Hinrichtung Eichmanns vergangen, als Hannah Arendt in einem Interview darauf reagiert. Dabei fällt der Satz: „Kein Mensch hat bei Kant das Recht zu gehorchen.“ Will meinen: Es gibt kein Recht auf unbedingten Gehorsam, d.h. ohne die Grundlage im Kantischen Sinn zu prüfen, ob sich also die zugrundeliegende Norm (das Gesetz, die Verwaltungsvorschrift etc.) auch zur Maxime allgemeinen Handelns machen lasse. Eichmanns Versuch, Kant für sich in Anspruch zu nehmen, sei eine Unverschämtheit.
(Eine ausführlichere Darstellung gibt z.B. das Südtiroler Nachrichtenportal anlässlich der Aufstellung eines antifaschistischen Mahnmals mit dem verkürzten Arendt-Zitat 2017)

Ist das Zitat in dieser Fassung nicht gleich viel besser zu verstehen? Atmet es doch nicht mehr ganz so heftig den anarchistischen Geist, den viele mit den 1960er-Jahren verbinden. Nicht mehr so leicht misszuverstehen. Aber der Stachel schmerzt auch nicht mehr so. Vielleicht sollte er das aber. Und das katapultiert mich ins Jahr 2021.

Ich finde, es wird in deutschen Landen inzwischen schon wieder zu viel gehorcht. Damit rede ich nicht einem dubiosen und abstrusen Anarchismus das Wort. Aber ich frage mich, warum erwachsene, oft auch gebildete Menschen sich Vorschriften und Gesetzen anscheinend grundsätzlich fügen – gemäß der erlernten Devise meiner Schüler. Die Tatsache, dass angeordnet wird, ist ihnen Legitimation genug.
Ja, ich gebe zu, die Corona-Zeit hat meine Wahrnehmung geschärft, und es befremdet, ja entsetzt mich beinahe täglich, wie willfährig viele Zeitgenossen sich in alle möglichen und unmöglichen Anordnungen (incl. Beschneidung ihrer Grundrechte) nicht nur klaglos schicken, sondern sich mitunter beinahe noch damit angefreundet zu haben scheinen. Was mir richtig wehtut: Grundschulkinder, die im Morgenradio treuherzig bekennen, wie sie sich doch inzwischen an die Masken gewöhnt haben (Konjunktiv) und bisweilen sogar vergäßen, sie nach der Schule abzuziehen. Ist das nicht rührend, wie die Kleinen den Altruismus bereits verinnerlicht haben? Ich gehe dabei an die Decke! Warum wird eigentlich so selten gesendet, dass mancherorts die Kinderarztpraxen schon überquellen, weil der junge Organismus, durch’s Maskentragen dem notwendigen Immunisierungsprozess gegen das tägliche Allerlei anstürmender Viren etc. entzogen, v.a. bei Atemwegserkrankungen plötzlich mit schweren Verläufen reagiert?! Dass die Erwachsenenwelt also Kinder, für die Corona praktisch nie eine ernsthafte Gefahr darstellt,  als Schutzschilde missbraucht, um sich selbst zu schützen, und einmal mehr jede Menge „Kollateralschäden“ billigend in Kauf nimmt?!

„Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“ Danke, verehrte Hannah Arendt, für diesen subversiven, im Wortsinn „umstürzenden“ Spruch, der wider den Stachel von Mainstream-Geplapper und allzu seligem Vertrauen gegenüber denen „da oben“ löckt!

Die Deutschen – ich meine mit dieser unzulässigen Verallgemeinerung die schweigende Mehrheit – gehorchen schon wieder zu viel und überlassen das Denken anderen. Um Corona geht es mir dabei gar nicht primär, sondern um künftige Herausforderungen, die für unsere Gesellschaft womöglich weitaus schwerwiegender sein werden als das, was uns dieses Virus abverlangt. Dann in einem Land leben zu müssen, wo gehorcht wird, statt dass selbstständig gedacht wird, wünsche ich weder mir noch meinen Kindern.