Nette Menschen

Ich höre oft Russisch. In der Stadt von 50.000 Einwohnern, in der ich arbeite, leben zweitausend Russen. In der Fußgängerzone und den Parks gehört das Russische zum normalen Klangbild.

Ich stelle mir vor, wir würden Krieg miteinander führen, also natürlich nicht der freundliche Russe im Café am Nachbartisch und ich, sondern unsere Länder. Denn warum sollten wir beide uns bekriegen? Juri, ein Familienmensch, der sein quengelndes Kind aus dem Wagen nimmt und es sich auf den Schoß setzt. Beide sind wir sicher ziemlich nette Kerle und könnten bei gegebener Gelegenheit vielleicht sogar ziemlich beste Freunde werden.

Sein Geld hat Juri in der IT-Branche gemacht. Die von seiner Firma entwickelte Software steckt maßgeblich in den neuen Überschallwaffen, die von der russischen Armee auf Ziele in der Ukraine gelenkt wurden.

Meine Frau arbeitet für ein Logistikunternehmen, das die Fliegerhorste der deutschen Luftwaffe versorgt, u.a. jenen, wo die letzten Atomwaffen in der BRD stationiert sind, die im „V-Fall“ (Verteidigungsfall) von deutschen Tornados im Auftrag der NATO abgeworfen werden.

Im Fall der Fälle würden der nette Juri vom Nachbartisch und ich dann indirekt doch aufeinander schießen – auch wenn wir uns noch vor ein paar Tagen angeregt und ziemlich einvernehmlich über Lust und Last der Kindererziehung unterhalten haben.

Juri, der nicht Juri heißt, verdient sein Geld wie meine Frau anderswo. Aber das Gedankenspiel führt doch überdeutlich die Absurdität des Krieges vor Augen. Und, dass es leider nicht reicht, ein netter Mensch zu sein.