Hier muss es sein – der morsche Pfosten ist gebrochen und hat den Zaun mit hinuntergezogen, so dass die Kuh ausbüxen konnte. Iryna zieht den Draht so weit nach oben, wie es geht. Da muss möglichst schnell ein neuer Pfosten gesetzt werden. Heute Abend gleich wird sie es Daniil sagen. Er wird nicht begeistert sein, wo es diese Woche so viel zu tun gibt. Wenn man mit vierzig heiratet, fällt das Fest zwar nicht mehr so groß aus, aber es bleibt noch genug Arbeit.
Der Boden unter ihr schmatzt bei jedem Schritt ihrer Gummistiefel. Es hat viel geregnet in den letzten Tagen, das Gras steht prächtig. Die Kühe sind gesund, die Preise für Getreide stabil. Es geht langsam wieder aufwärts mit dem Hof.
Das rote Kleid mit den weißen Punkten. „Du bist verrückt“, sagte ihre Mutter, „noch nie hatte jemand in unserem Dorf so ein Kleid zur Hochzeit an!“ Sie wäre die erste gewesen. Dann, drei Wochen vor der Hochzeit, kam Mykyta eines Abends. „Ich kann jetzt nicht heiraten!“ sagte er und küsste ihren Nacken, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. „Ich hab mich gestern freiwillig gemeldet. Wir treten den Russen in den Arsch. Glaub mir, der Krieg wird schnell vorbei sein. Und dann wird richtig gefeiert!“
Die Nachricht kam zehn Monate später: Er hatte sich einen Bauchschuss eingefangen und es nicht mehr bis ins Krankenhaus geschafft.
An seinem zehnten Todestag holte sie das Kleid zum ersten Mal wieder aus dem Schrank und strich ungläubig über den Stoff. Wahrscheinlich müsste es jetzt enger gemacht werden – die Jahre des Krieges hatten an ihr gezehrt.
Jetzt schmatzt es auch im rechten Schuh. Irgendwo muss der Stiefel einen Riss haben. Wenn sie das nächste Mal in der Stadt ist, wird sie ein Paar neue Gummistiefel kaufen. Das meiste gibt es inzwischen wieder, ohne dass man horrende Preise dafür bezahlen muss. Jahre dauerte es nach dem Krieg, bis sich die Regale wieder gefüllt hatten. Inzwischen war der Vorkriegszustand in etwa wieder erreicht. Auch bei ihr: Heiratete mit vierzig statt mit zwanzig. Als ob es die zwanzig Jahre dazwischen nicht gegeben hätte.
Daniil war ein Lieber, nicht der Mann ihrer Träume, aber er würde zu ihr halten. Keiner der Männer, bei denen die Frau nur ein Fortsatz ihrer selbst war. Es würde gut werden mit ihm.
Iryna streicht mit der Hand über den Bauch, der die Schürze nach außen wölbt. „Kind, wie kannst du uns das antun!“ Sie hat die Stimme ihrer Mutter im Kopf, auch wenn die Mutter diese Worte gar nicht mehr hat sagen können: im vergangenen Winter ist sie an einer Lungenentzündung gestorben. Aber sie hat Daniil noch kennengelernt und ihren Segen dazu gegeben – zumindest hat das Irina daraus geschlossen, dass kein kritischer Kommentar kam.
Sie muss endlich sehen, ob das rote Kleid noch passt. Wahrscheinlich ist es in ihrem jetzigen Zustand sogar zu eng. Und vielleicht kann sie sich sowieso nicht mehr darin sehen.
Der Knall reißt Iryna von den Füßen. Einen Augenblick weiß sie nicht, wo sie ist. Die Kälte in ihrem Nacken spürt sie zuerst. Nasses Gras. Sie schlägt die Augen auf. Stützt sich auf ihre Ellbogen. Ein Stück vor ihr liegt etwas, was zuvor nicht da war. Sie kneift die Augen zusammen, um schärfer zu sehen. Es ist ein Gummistiefel. Etwas Langes steckt darin.
Iryna fällt zurück. Der Himmel über ihr ist wolkenlos. Dann kommt der Nebel.
Landminen gehören zu den nachhaltigsten Produkten, die es gibt. Schon jetzt richten sie Furchtbares in der Ukraine an. Auch in anderen Ländern.