Men’s Challenge

In meinem Lebensalter fragt Mann nach Herausforderungen, die das Herz höher schlagen lassen und Grenzerfahrungen für Körper und Psyche versprechen. Mit dem Rad in 200km-Tagesetappen ans Mittelmeer. Hallenklettern im 8. Grad. Eine Milchtüte öffnen.

Wie jedes ambitionierte Unterfangen braucht es lange Vorbereitung, sprich: geduldiges Training. Der 8. Grad klettert sich nicht aus dem Stand. Man beginnt ganz locker mit dem 3. und 4. Grad. Klappt das am Seil von oben (Toprope), dann im Vorstieg, was mental ein weiterer Schritt ist. Dann geht es zum 5., später zum 6. Grad. Die Beanspruchung steigt immer mehr. Zwar gibt es noch Griffe in Reichweite, aber sie sind so klein, dass meine Finger nicht genügend Kraft auf die kleine Fläche bringen können: sie rutschen sofort ab. Wenn ich das einmal schaffe, dann klappt es eines Tages vielleicht doch noch mit dem 7. oder 8. Grad. Genauso wie bei den Augentropfen: auf keinen Fall gleich damit anfangen! Stattdessen beginnt man relativ einfach, z.B. mit einer Packung Käseaufschnitt. Meine Bestzeit liegt hier, natürlich abhängig von den äußeren Bedingungen (Ist eine Lasche vorhanden oder nicht? Wie lange braucht es, sie zu finden?), bei 13 Sekunden. Bei den Milchtüten wird es schon anspruchsvoller. Im schlimmsten Fall kann es schon mal einige Anläufe brauchen, um die Herausforderung zu meistern. Will ich noch eine Schippe drauflegen, wage ich mich zusätzlich noch an eine Tüte Orangensaft – aber dazu muss ich körperlich und mental in Topform sein. Wenn der Verschluss dann endlich knackt, sind Schweiß und Tränen vergessen und das Dopamin zündet ein Feuerwerk bei meinen Neuronen. Einen Totaleinbruch erlebte ich allerdings bei einem Fläschchen Augentropfen. Das Problem: sie erfordern maximale Kraftentfaltung auf minimalem Raum. Meine Finger können nicht genügend Kraft auf die kleine Fläche bringen: sie rutschen sofort ab, und die Kappe, gesichert durch einen perforierten Kunststoffring, bleibt standhaft. Als die Schmerzen in meinen Fingergelenken unerträglich werden, gebe ich erschöpft auf. Ende Gelände. Aber manchmal muss man schummeln, wie beim Klettern. Ich prüfe die Kappe, ob sich eine Zange ansetzen lässt, da knackt es plötzlich.

Auch das gehört zum Älterwerden: wissen, wann Schluss ist, Hilfe in Anspruch nehmen. Wenn meine Generation mal alt ist, wird es viele Feuerwehreinsätze geben. Oder die Apotheken verkaufen bis dahin offene Augentropfen. Verpackungsfrei ist sowieso im Trend.

Diesen Text habe ich im Zug geschrieben. Mein Hals kratzt noch von der letzten Erkältung. Ich ziehe ein Röhrchen Lutschtabletten aus der Tasche. Der Verschluss ist mit einem Kunststoffring gesichert …