Ü 60, die Kinder aus dem Haus, der Ruhestand rückt näher, manches erreicht und gestaltet, vieles genossen – wäre das nicht ein guter Moment für den Abschied? Alt werden – der Wunsch von vielen -, ist das wirklich erstrebenswert? Nichts mehr behalten können, weder im Kopf noch in der Blase, nicht mehr laufen können ohne Rollator, nicht mehr sehen und/oder hören können, jeden Tag ein bisschen mehr Energie und Autonomie verlieren … jetzt, wo die Kräfte noch da sind, abtreten, dankbar für die Jahrzehnte und Menschen – wäre das nicht viel besser?
Und dann bin ich in den Bergen unterwegs auf alpinem Pfad, und “alpin” heißt, dass dort, wo normalerweise Sicherungen angebracht sind, keine sind, und plötzlich schnellt der Puls in die Höhe, meinen Durst spüre ich ebensowenig noch wie die Blase am Fuß, und ich muss da hinunter, wo jeder Fehltritt, jedes Abrutschen meinen sicheren Tod bedeuten würde, und auf einmal ist nichts mehr da von der Abgeklärtheit dessen, der zuvor noch in aller Seelenruhe dahinscheiden konnte – Angst, nackte Angst sitzt mir im Genick, und ich habe nur noch das eine im Sinn: diese Rinne heil hinunterzukommen.
Wenn ich manchmal nicht begreifen kann, wie hochbetagte Menschen trotz ihrer kolossalen Einschränkungen sich dennoch mit aller Kraft an dieses bisschen Leben klammern – möglicherweise deshalb, weil in ihnen immer noch derselbe unbändige Lebenstrieb aktiv ist, den auch ich am Berg so überdeutlich verspürt habe. Und vielleicht braucht es diesen übermächtigen Lebenswillen auch deshalb, weil wir sonst schon vorher manches Mal die Segel gestrichen hätten …