Der Anruf kommt unerwartet. Vor dem Kamin sitzend sei sie gefunden worden. Als ob sie den Flammen zugesehen habe. Ein Sekundentod. Herzinfarkt vermutlich. Dabei habe es in letzter Zeit weder Stress noch Aufregung gegeben.
Sie steht auf der Brücke und schaut auf den Bach. Den Umschlag hält sie zwischen zwei Fingern. Als sie loslässt, sinkt der Brief hinab und wird dann von einem Windstoß unter der Brücke getrieben. Sie atmet tief durch und geht.
Die Schülerin mit der roten Pudelmütze, die mit ihrem Fahrrad an der Ampel wartet, lässt ihre Augen über den Streifen zwischen Radweg und Bach wandern. Alles ist von gefrorenem Tau überzogen. Trotzdem fällt ihr der weiße Zettel auf. Sie hat gelernt, es sei gut, jeden Tag eine gute Tat zu tun. Sie angelt sich den Zettel, um ihn in den nächsten Abfalleimer zu werfen. Es ist ein Briefumschlag, zugeklebt und mit einer handgeschriebenen Adresse versehen. Den hat sicher jemand verloren. Wie ärgerlich! Was, wenn an manchen Tagen eine gute Tat nicht reicht? Sie stopft den Brief in ihren Rucksack. Nach der Schule fährt sie am Postamt vorbei und gibt den Brief auf; die Marke bezahlt sie von ihrem Taschengeld.
Die Therapeutin zieht eine Grimasse, um sich das Gähnen zu verkneifen. In zwanzig Minuten muss sie ihre Tochter in der Kita abholen. „Schreiben Sie Ihrer Schwiegermutter doch mal einen Brief. Alles, was Sie ihr gern sagen würden, all die Kränkungen, die sie Ihnen zugefügt hat.“ Die Klientin schaut überrascht. „Das hilft. Und wenn Sie wollen, schreiben Sie sogar noch die Adresse drauf. Natürlich schicken Sie den Brief nicht ab.“