Geschwister im Irrationalen

Längst befassen sich Philosophen und Psychoanalytiker mit den Mechanismen von Verschwörungstheoretikern. Dabei könnte der Eindruck entstehen, als seien sie in der Corona-Pandemie die einzigen Fehlgeleiteten. Mir scheint hingegen, die Protagonisten des anderen Extrems glichen ihnen mehr, als dass sie sich von ihnen unterschieden. Sozusagen zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Die Antagonisten der Verschwörungstheoretiker, welche jene scheuen wie der Teufel das Weihwasser, sind diejenigen, die uns seit Beginn der Pandemie mit immer neuen Horrorszenarien überziehen. Für sie ist Corona das Schlimmste, was dieser Welt je passiert ist – alle anderen Übel fallen dagegen nicht ins Gewicht. Oder wie es in der bisweilen eher verkniffenen als satirischen Ecke meiner Tageszeitung hieß: Wenn erst einmal alle geimpft seien, würde das Leben wieder sicher. Als hätten sich sämtliche Risikofaktoren des Universums im Corona-Virus konzentriert und man müsse da (und nur da) stets mit dem Allerschlimmsten rechnen. Ich habe beruflich und privat schon zu viel gesehen, um diesen Unsinn zu glauben.

Mit dem Schlimmsten rechnen auch die Verschwörungstheoretiker – nur dass sie es nicht vom Virus, sondern von Menschen, v.a. von Politikern, erwarten. Denn in Wirklichkeit haben einige wenige global player die ganze Pandemie eingefädelt, um uns zu täuschen und zu beherrschen, das Eigentliche läuft zu 100% hinter den Kulissen ab, wo Seilschaften und Lobbyisten die Strippen ziehen.

Beides ist zugegebenermaßen nicht völlig falsch: Das Corona-Virus führt mitunter zu schweren Krankheitsverläufen, die mit bleibenden Schädigungen oder sogar dem Tod enden können. Und Politiker führen uns manchmal an der Nase herum und lassen uns darüber im Unklaren, wem sie alles verpflichtet sind oder sich verpflichtet gemacht haben.
Nur: Wenn das Schlimmste zum Normalfall und das Negativste des Negativen zum Dreh- und Angelpunkt der Weltsicht wird, beginnt es neurotisch zu werden. Denn beide Gruppen machen aus dem „Restrisiko“, das Leben immer darstellt, eine Faktizität, der alle zwangsläufig unterliegen werden. Und die Angst vor dieser Gefahr dominiert Wahrnehmung und Handeln so stark, dass alles schief werden muss: Die Verschwörungstheoretiker verheddern sich in bizarren Manipulationsgespinsten, die Unheilspropheten in wahnwitzigen Katastrophenszenarien.

Beide Gruppen bilden in sich eine elitäre Kaste der Wissenden, die je nachdem mitleidig oder polemisch auf das ignorante Gros der Bevölkerung herabblickt, das die drohende Gefahr einfach nicht wahrhaben will. Doch es braucht ein gewisses Maß an Verdrängung, um psychisch gesund zu bleiben: Wer nur noch auf das starrt, was alles passieren kann, lässt sich lähmen, wird am Ende unglücklich und vergisst das Wichtigste: zu leben.

1 Kommentar

  1. Verschörungstheoretiker – solche und solche, die einen die Antagonisten der anderen, ja genauso ist es, finde ich auch.

Kommentare sind geschlossen.