Ganzheitliches Mittelalter

Im Jahr 1286 wurde das Heiligen-Geist-Spital in Lübeck fertiggestellt. Wer es betrat, fand sich in einem Kirchenraum wieder, der reich gestaltet und ausgeschmückt war. Von dort führte eine Tür in einen langgestreckten Trakt, der Schlafstätten für Alte, Sieche und Kranke bot.

Eine Stiftung hatte das Projekt nach italienischen Vorbildern realisiert. Sie war 1227 vom Kaufmann Bertram Morneweg und anderen wohlhabenden Lübeckern gegründet worden. Morneweg kam aus einfachsten Verhältnissen und war manchen Quellen zufolge als Waisenkind adoptiert worden. Durch den Ostseehandel hatte er es zu beträchtlichem Wohlstand gebracht. Ob sich sein diakonisches Engagement seinen Kindheitserfahrungen verdankte?

Zu den Gottesdiensten war die Tür zum Langhaus weit geöffnet. Gebete und Gesänge fanden so ihren Weg zu denen, die selbst nicht mehr den Weg in die Kirche schafften. Der Mensch, so die Idee dahinter, braucht nicht nur ein Dach über den Kopf, zu essen und Kleider anzuziehen – er braucht auch Nahrung für die Seele: für seinen Weg in dieser Welt und vor allem in die nächste. In vielen Städten entstanden damals Heilig-Geist-Spitäler mit demselben ganzheitlichen Konzept: Sorge für Leib und Seele.

Dass der Mensch mehr ist als die Summe seiner physiologischen Funktionen, geriet durch die Euphorie naturwissenschaftlicher Entdeckungen in der Moderne beinahe in Vergessenheit – zumindest im Gesundheitswesen. Inzwischen fragen mehr und mehr Menschen: Was braucht die Seele, dass sie heil werden kann? Es geht nicht nur um den Leib, um die Wiederherstellung oder Regeneration körperlicher Funktionen. Es geht immer auch um die Seele. Oft ist sie sogar der Schlüssel zur körperlichen Heilung.

In den heutigen Kliniken und Pflegeheimen liegen die ‚Kirchen‘ als Kapellen oder kleine Gebetsräume oft in der Peripherie. Aber sie halten die Erinnerung lebendig, dass es dem Menschen gut tut, sich in seiner religiösen Tradition zu bergen und für seine Seele zu sorgen.