Die Divinisierung des Humanum – wider die Vergötzung des Menschen

Die Urkränkung des Menschen besteht darin, dass sich die Welt nach seinem Tode weiterdreht. Meine Welt vergeht, die Welt bleibt. Mit dieser Kränkung konnte solange verhältnismäßig gut umgegangen werden, wie es einen Konsens darüber gab, dass uns nach dieser Welt eine andere erwartete. Fällt der Glaube an eine Transzendenz weg, wird es ungleich schwerer, mit dieser Begrenztheit zu leben.

Die jüdisch-christliche Tradition setzt diese Erkenntnis an den Anfang ihrer Gedanken über die Welt, wenn sie davon spricht, dass der Mensch wieder zur Erde zurückkehrt, von der er genommen ist. Auf der anderen Seite erfährt der Mensch mit dem Prädikat “Ebenbild” Gottes eine Aufwertung, die ihn von allen anderen Geschöpfen abhebt und beinahe blasphemisch dünkt.
Zwischen diesen beiden Polen, himmlisch und irden – der Mensch wird aus einem Erdkloß geformt wie ein Gefäß unter der Hand des Töpfers –, bewegt sich menschliches Leben.

Vergänglichkeit im Sinne eines Nacheinanders der Generationen, die alle von dieser Erde leben müssen, ist heute weithin akzeptiert. Die Antwort darauf heißt Nachhaltigkeit. War diese im vorindustriellen Zeitalter beinahe noch automatisch gegeben, weil der vormoderne Mensch nicht in der Lage war, die Erde zu ruinieren (partielle Zerstörungen wie z.B. durch massive Rodungen oder Bergbau ausgenommen), musste sie unter dem Eindruck globaler Ausbeutung und Zerstörung erst wieder entdeckt werden.

Der Lernprozess hinsichtlich der Vergänglichkeit des individuellen Lebens steht in den westlichen Gesellschaften allerdings noch aus. Es ist eines, Nachhaltigkeit umweltpolitisch durchzubuchstabieren, ein anderes, zu akzeptieren, dass das eigene Leben begrenzt ist. Die an dieser Stelle übliche Verweigerungshaltung hat zur oft beschriebenen Verdrängung des Todes aus der Gesellschaft geführt, die durch die Corona-Pandemie freilich einen deutlichen Dämpfer erlitt: Medien veröffentlichen täglich Todeszahlen – deren Aussagefähigkeit gering ist, was jedoch ihre psychologische Wirkung nicht schmälert. Statt sich deshalb mit der eigenen Endlichkeit bewusst auseinanderzusetzen, wird im Fahrwasser der üblichen Verdrängungsstrategie versucht, um sich herum ein Maximum an Sicherheit herzustellen, das genau diesen Ausgang – das eigene Ende – unmöglich macht. Entsprechend wird von der Politik erwartet, diese müsse alles dafür tun, um das Individuum vor seinem Tod zu schützen. Auch wenn das Groteske und Naive dieser Haltung auf der Hand liegt – die politischen Implikationen sind nicht zu unterschätzen: Diejenigen, die von diesem Verdrängungsmechanismus getrieben sind, artikulieren sich lautstark und besetzen die Mainstreamposition derzeit erfolgreich mit ihren Ängsten. Dabei wird eine apokalyptisch aufgeladene Bedrohungskulisse aufgebaut, die in dieser Weise nicht existiert, um anschließend “unter Einhaltung der Hygieneregeln” eine Sicherheit zu suggerieren, die erst recht nicht existiert.
Unterstützt wird diese Haltung durch das noch weithin gültige Selbstverständnis einer Medizin, die den Tod als Versagen ärztlicher Kunst interpretiert und an der Lebensverlängerung als grundsätzlich unhinterfragbarem Therapieziel festhält.

Andererseits eignet dem Tod etwas Irritierendes und Verstörendes. Geht man davon aus, dass jeder Mensch durch sein Denken und seine Erfahrungen seine eigene Welt ‘erschafft’, dann endet mit jedem Tod eine ganze Welt, ja ein ganzes Universum. Es lohnt sich, aus dieser Perspektive des Reichtums einmal über die ‘Verschwendung’ des Lebens durch den Tod nachzudenken …
Ja, wir sind einzigartig. Doch eine Bestimmung unserer Einzigartigkeit ist unsere Endlichkeit, unsere Beschränkung auf eine bestimmte Phase in der Zeit und einen Ort im Raum.

Diese Endlichkeit zu verdrängen und zu bekämpfen heißt auf Kosten anderer zu leben, die dann den Preis für die vermeintliche Sicherheit zu zahlen haben. Es heißt aber vor allem, den Menschen zu vergötzen, so dass er am Ende sein menschliches Antlitz verliert. Wir sind Menschen – und dazu gehört, dass wir sterben müssen und sterben dürfen. Die Alternative ewig zu leben wäre das  größere Übel …