Unbändiger Drang zum Leben

Seit einigen Wochen begegne ich morgens regelmäßig einem Obdachlosen, der sich im Warteraum am Bahnhof sein Quartier eingerichtet hat. Über die hölzerne Bank hat er eine gescheckte Decke geworfen, darauf liegt oder sitzt er, eingehüllt in einen gelben Anorak, aus dem ein mächtiger weißer Rauschebart heraussteht. 

Ich steche im Eilschritt vorüber und denke: Wie man so leben kann! Ohne Hoffnung und Perspektive, ein Tag wie der andere, unter diesen erbärmlichen Umständen! Was hält ihn eigentlich noch am Leben?

Er ist nicht der einzige, bei dem ich mich das frage. Berufsbedingt kam ich früher oft in Pflegeheime. Manche Bewohner waren noch aktiv, kurvten im Rollstuhl über den Flur oder saßen mit anderen beim Gehirnjogging im Speisesaal zusammen. Aber dann gab es die Zimmer, wo die Türen halb offenstanden – zu den lebendig Begrabenen. Aus einem Beutel tropfte Flüssigkeit über eine Sonde in ihren Magen und hielt sie am Leben. Aber was für eins! Vor sich hinsiechend starrten sie vor sich hin. Was für eine übermenschliche Kraft hielt sie am Leben? Wenn sie nicht mehr leben wollten, wären sie doch schon längst tot, oder nicht?

Ich habe noch keine Antwort auf die Frage als die, dass in uns offensichtlich ein unbändiger Drang zum Leben angelegt ist. Der selbst dann wirksam ist, wenn von dem, was uns vormals lebenswert erschien, nichts mehr vorhanden ist. Vielleicht auch mitten im Leben, wenn uns phasenweise die Hoffnung entschwunden ist und alles sinnlos scheint.

Heute Morgen klopft der Obdachlose behutsam eine Filterzigarette auf die Bank. Ist das seine Freude? Oder  denkt er, als er mich vorbeihuschen sieht: Wieder so einer, der vor sechs schon zur Arbeit hetzt. Wie kann man nur so leben?!