Meinem Vater,
der mich schon früh in die Berge mitgenommen hat,
zum 83. Geburtstag gewidmet
Heute
Es ist Frühsommer. Im Tal schwüle Witterung, die Gipfel noch weiß vom letzten Kälteeinbruch, von Schneefeldern die Wege über mir durchsetzt.
Ich weiß, für den Gipfel ist es noch zu früh im Jahr. Doch bis zum Grat möchte ich kommen, von dort einen Blick in die Täler und auf entfernte Höhenzüge werfen. Lange bin ich aufgestiegen, über einsame Almen und Sommerwiesen gewandert. Noch eine halbe Stunde, dann bin ich oben. Aber dann ziehen auf einmal Wolken auf, Gewitterstimmung liegt in der Luft. Es wird deutlich kühler, und während ich die letzten Meter aufsteige, sehe ich: Über den Grat kommt der Nebel. Mit der Aussicht oben wird es nichts. In diesem Moment macht es mir nicht einmal etwas aus. Ich bin schon froh, wenn es trocken bleibt und mich an ausgesetzter Stelle kein Gewitter überrascht.
Gehen im Gebirge macht flexibel. Wichtig ist nicht, was du dir vorgenommen hast. Wichtig ist, dass du dein Gehen anpasst an das, was heute möglich ist. Vielleicht war gestern mehr möglich, weil das Wetter stabil war. Vielleicht wird morgen mehr möglich sein, weil der Gipfel wieder frei ist. Aber du gehst heute. Nicht gestern. Nicht morgen. Gehen ist Leben im Heute. So, wie es heute ist. So und nicht anders.
Aufsteigen
Das mag ich am meisten: bergauf gehen in einer mittleren, gleichmäßigen Steigung. Ich beginne in verhaltenem Tempo, nehme mich auf den ersten Metern innerlich zurück, spüre den Puls, der schon in die Höhe geschnellt ist, die Anstrengung erwartend. Nicht zu schnell in die Steigung gehen – der Fehler der Jungen, die nach einem Drittel des Weges erschöpft sind -, aber auch nicht zu langsam – mein Kreislauf freut sich belebt zu werden.
Die Kunst beim Aufsteigen – auf dem ganzen Weg, aber hier besonders – liegt darin, sich die Kräfte einzuteilen, das Tempo passend zum Weg zu wählen. Es braucht dazu Erfahrung mit dem eigenen Körper und seinen Ressourcen.
Ich habe mit dem Aufstieg begonnen, und schon bald pocht das Blut in meinen Schläfen. An den Unterarmen, an der Stirn, im Rücken, wo der Rucksack aufliegt, wird meine Haut feucht. Der Puls pendelt sich auf höherem Niveau ein, die ersten Schweißtropfen treten auf meine Stirn.
Vielleicht tritt noch anderes als Wasser und Salz in dieser Anstrengung des Steigens hervor: Eine Sorge, ein Konflikt, eine Aggression. Und während mein Körper mit dem steilen Weg kämpft, bricht an anderer Stelle ein zweiter Kampf aus. Er findet in meiner Seele statt.
Ich lasse es zu. Manches klärt sich gerade unter körperlicher Anstrengung, beginnt sich in der physischen Spannung zu lösen. Während mein Leib Wasser und Salz ausschwitzt, schwitzt meine Seele aus, was sich auf sie gelegt hat. Ich schaue die Dinge noch einmal an und lasse sie sein. Ich habe sie hinter mir, so wie den Hang, der in der Tiefe unter mir liegt. Meine Lungen füllen sich mit Luft, die Seele atmet auf: Ich bin auf der Höhe angelangt. Es ist gut.
Absteigen
Nie ist es schwieriger, im Jetzt zu leben, als beim Abstieg. Entweder wandern die Gedanken zurück zum Weg, der hinter dir liegt. Oder sie wandern schon voraus: zu dem, was dich unten erwartet, dein Alltagsgeschäft, vielleicht auch die nächste Tour.
Abgehen ist schwierig, weil der Höhepunkt – im doppelten Sinn – schon hinter dir liegt. Vielleicht hast du deine Kraft schon beim Aufstieg verbraucht. Wenn es nun steil bergab geht, bekommst du ‚weiche Knie’. Am liebsten würdest du deinen Beinen freien Lauf lassen, aber das würde dir nicht gut bekommen.
Nicht nur für den Aufstieg, auch für den Abstieg brauchst du Disziplin. Sie ist der Disziplin vergleichbar, die braucht, wer längere Zeit gefastet hat und nun langsam wieder zu essen beginnt. Eingewöhnung in das Übliche, Normale, in den Alltag.
Stürze passieren beim Abgehen selten dort, wo es wirklich schwierig ist. Da bist du hochkonzentriert und passt auf. Eher in den Passsagen, die harmlos erscheinen und dich dazu verleiten, deine Augen vom Weg zu nehmen und wandern zu lassen. Eine winzige nasse Stelle, ein größerer Stein, an dem dein Fuß hängen bleibt, etwas Geröll … und du kommst zu Fall.
Bewusst gehen, das Tempo kontrollieren, mit dem Augenblick leben – das alles ist beim Abgehen schwieriger als beim Aufsteigen. Anders als beim Fußball gilt: Wer gut absteigt, wird Meister.
Längere und kürzere Wege
Der Wegweiser zeigt eindeutig nach links. Aber geradeaus geht auch ein Weg weiter – direkt auf mein Ziel zu. Ich lasse mich verleiten – die Karte ist ungenau – und wähle den Weg geradeaus. Ein Stück weiter oben endet er in einem Bachbett. Mag sein, dass der Weg früher hier entlangführte, bis ein Unwetter den Bach über die Ufer treten ließ und den Weg wegriss.
Ich ärgere mich über mich selbst. Es ist nicht das erste Mal, dass mir das passiert. Woran liegt es? Mangelndes Vertrauen in den, der den Weg ausgeschildert hat? Die Angst, auf einem Umweg Zeit zu verlieren? Einmal mehr erlebe ich: Die scheinbar kürzesten Wege sind manchmal die längsten. Sie nötigen mich zur Umkehr, ich muss zurück und doch den anderen Weg nehmen.
Vor Jahren waren wir als zwei junge Pärchen in den Schladminger Tauern unterwegs. Ein steiles Schneefeld, das unsichtbar in der Tiefe auslief, versperrte uns den Weg. Dabei war die Hütte schon zum Greifen nahe! Der Freund versuchte die Querung und gelangte mit weichen Knien glücklich hinüber. Die anderen wollten ihm folgen. Ich war hin- und hergerissen: Es war der kürzeste Weg. Doch ein einziger Fehltritt hätte eine Rutschpartie in den Tod bedeutet. Wären wir hingegen umgekehrt, hätten wir mehrere hundert Höhenmeter absteigen müssen und auf der anderen Talseite wieder hinauf. Ein halber Tag Zeitverlust!
Wir machten schließlich kehrt und nahmen den Umweg. Erst abends trafen wir auf der Hütte alle wieder zusammen.
Jedes Mal, wenn ich zurückdenke, bin ich froh, damals nicht den kürzeren Weg gewählt zu haben. Mitunter ist der kürzere Weg ein Weg ohne Wiederkehr.
Den Weg verlieren
Zugegeben: ich bin kein Pfadfinder-Typ. Wenn ich nicht aufmerksam bin und die Markierungen nicht üppig aufgebracht sind, habe ich den Weg schnell verloren. Eben ging ich noch in der Spur, da verliert sich der Weg auf einmal in einer üppigen Almwiese. Guten Mutes folge ich meinem Instinkt und dem, was er mir als Ideallinie vorgibt, und habe ein paar Schritte weiter den Weg doch glatt verloren.
Manchmal wüsste ich gern, wie es anderen an dieser Stelle ergeht. Wie viele von zehn Wanderern würden mit Pfadfinderauge die Spur erkennen? Derweil stapfe ich durch hohes Gras nach oben, teste, wie viel direttissima Kreislauf und Kondition verkraften, und kann es kaum fassen, dass ein ganzes Stück weiter oben ein deutlich erkennbarer Weg von der Seite herüberzieht. Es war nicht schlimm, den Weg für kurze Zeit zu verlieren, aber interessieren würde mich doch, warum ich vorhin unten …
Angst
Ab einer bestimmten Höhe gibt es nichts, was mich mehr Kraft kostet als meine Angst. Die Angst vor Gewitter, vor Nebel, vor Verletzung, die Angst vor der Einöde um mich und in mir.
Ich muss lernen, der Angst nicht zuviel Raum zu lassen. Angst, die grenzenlos wird, schlägt in Panik um.
Ich versuche, den Rhythmus meiner Schritte zu halten. Lausche auf die wenigen Geräusche: hie und da ein Vogel, von ferne ein Gebirgsbach, meine Schuhe, die das Grünzeug am Boden streifen, mein Atem. Sonst nichts.
Ich halte die Kargheit der Natur aus. Lasse ihre herbe Schönheit auf mich wirken. Rauer ist es hier oben und kälter. Wind kommt auf, ich ziehe eine Jacke über und steige weiter.
Und merke, wie ich allmählich wieder ruhiger werde. Die Angst ist nicht einfach weg, aber ich kann sie anschauen, statt ihr den schutzlosen Rücken zuzuwenden und davonzulaufen.
Mit der Angst leben – beim Gehen (und nicht nur dort!). Mit der Angst leben, aber eben – leben!
Begegnungen
Nicht die Begegnungen mit anderen Wanderern meine ich, die je nach Gebiet, Saison, Wetter und Tageszeit häufiger oder seltener sind. Eine Zeitlang war ich öfter auf Wegen unterwegs, wo mir nur Einheimische begegneten: Bergbauern, Almhirten, Kinder. Der alpine Menschenschlag ist eher wortkarg. Viele Worte werden bei solchen Begegnungen nicht gewechselt. Ein flüchtiger Gruß, eine kurze Frage meinerseits nach Wetter, Weg oder Arbeit – im Vorübergehen fast – das ist alles.
Ich frage mich oft, wie diese Menschen mich, den Wanderer, sehen. Während sie die Kühe zum Melken zusammentreiben oder ein Bündel Holzpfähle auf dem Rücken nach oben schleppen, um einen schadhaften Zaun auszubessern, bin ich ohne solch konkrete Absicht hier. Belächeln sie mich? Schütteln sie innerlich den Kopf darüber, dass sich einer hier freiwillig heraufquält?
Wie erleben sie die Berge, verstehen sie die Natur? Was würden sie sagen zu meinem Verdacht, alle Bergliebhaber seien im Grunde ihres Herzens Naturromantiker und auf der Suche nach einer Idylle, die es so nicht gibt? Jedenfalls nicht für die, die hier jahrein, jahraus, Sommer wie Winter leben und arbeiten. Leben sie in einem gewissen Einklang mit der Natur? Ich stelle mir vor, es muss spröder sein, rauer, härter als das, was ich als Freizeitmensch in den Bergen erlebe. Aber vielleicht gibt es auf dieser Ebene dann doch wieder Naturromantiker.
Vielleicht war der junge Senn mit dunklem Vollbart einer, der mich im Schweizer Diemtigtal ein Stück mit seinem klapprigen Auto ins Tal mitnahm. Wortkarg, schweigsam. Mit ein paar Fragen versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen, wohl wissend, dass es bei einem Frage-Antwort-Spiel bleiben würde. Hier oben lebte und arbeitete er den Sommer über ganz allein. Dazu brauchte es keine Worte.
Und doch hatte er einen Gesprächspartner dabei. Bevor ich einstieg, hatte dieser auf dem Beifahrersitz gesessen. Nun musste er auf der Rückbank Platz nehmen. Ein ruhiger Gesprächspartner, zugegeben. Ein Hund.
Morgen
Der Mond steht noch hell am Himmel und weist meinen ersten Schritten den Weg. Kaum merklich gewinnt das Tageslicht die Überhand, während die letzten Fledermäuse im Taumelflug ihrem Schlafplatz zustreben. Noch kaum ein Licht in den Hütten und Höfen, vereinzelt ist einer schon unterwegs zu seinen Kühen oder ein Pendler zur Arbeit im Tal.
Taunass sind bald die Schuhe, der Weg zieht sich still den Talkessel hinauf. Dann zweigt er ab in den Wald, steil nach oben. In den Kehren paaren sich sorglos schwarze Salamander, wie kleine Teufelchen sehen sie aus, hieven sich schwerfällig vorwärts.
Drüben die Felswand glüht schon im Morgenlicht. Ich freue mich, gerade im steilsten Stück, noch über den Schatten. Oben am Kamm ein Steinbockpärchen. Noch ein paar Schritte, und ich stehe im gleißend-grellen Sonnenlicht.
Essen und Trinken
Wer gewöhnlich ohne feste Essenszeiten lebt, wird sich beim Gehen umstellen müssen. Ich muss für meinen Körper sorgen, ihm regelmäßig Nahrung und Wasser zuführen. Esse ich erst dann, wenn ich den Leistungsabfall verspüre oder es mir gar schwindlig wird, ist es zu spät. Lange brauche ich dann, um mich zu regenerieren.
Beim Gehen lerne ich auch in dieser Hinsicht einen Rhythmus finden. Und gleichzeitig Maß halten. Denn drei belegte Brote und zwei Liter Flüssigkeit auf einmal sind des Guten zuviel.
In regelmäßigen Abständen kleine Mahlzeiten, dazwischen immer wieder trinken, damit sorge ich gut für meinen Körper.
Und wenn ich sonst ohne diese Struktur lebe? Wie soll erst meine Seele zu einem Rhythmus finden, wenn ich ihn meinem Körper schon nicht gönne?
Durchziehen
In bestimmten Situationen musst du deinen Rhythmus verlassen. Dann geht es nicht mehr darum, mit dem Weg und deinem Gehen zu einer Einheit zu verschmelzen. Es geht dann nur noch darum, den Weg möglichst schnell hinter dich zu bringen, ja zu verlassen.
Wer in den Bergen geht, erlebt nicht einfach Idylle. Er begegnet auch dem Fremden, Gefährlichen, Furchteinflößenden. Er begegnet den Mächten der Zerstörung und des Todes. Dann hilft nur noch ‚durchziehen’. All deine Kräfte zusammennehmen und so rasch wie möglich die schützende Hütte, einen natürlichen Unterstand oder das Tal aufsuchen. Egal wie. In den Bergen gibt es keine Haltungsnote.
Wir kamen von einem Vorgipfel im Wallis. Die Viertausender auf der anderen Talseite hatten das rasch heranziehende Gewitter verdeckt. Nun hieß es so schnell wie möglich hinunter, in eine schützende Senke unterhalb des Gipfelaufbaus. Im rasanten Abstieg riss sich eine Freundin an einer scharfen Kante – eine Narbe am Schienbein erinnert sie heute noch an die erzwungene Tempoverschärfung.
Gerade noch erreichten wir die Senke. Mit Blitz, Donner und Hagel brach das Sommergewitter über uns herein. Kälte und Nässe spürten wir kaum, wir hofften lediglich, am Leben zu bleiben.
Eine halbe Stunde später lachte die Sonne wieder vom blauen Himmel. In gemächlichem Tempo strebten wir der tieferliegenden Hütte zu, um unsere Kleider zu trocknen und uns in der Sonne zu wärmen.
Perspektiven
Von unten überragt eine eindrucksvolle Spitze das Tal. Doch bist du ein Stück aufgestiegen, erscheinen auf einmal weitere, höhere Spitzen, Grate, Gipfel. Auf der Höhe angekommen hast du Mühe, ‚deine’ Spitze wiederzufinden. Kaum hebt sie sich als unscheinbarer Vorbau von einem mächtigen Grat ab, untergegangen im Kreis mächtigerer Schwestern und Brüder.
Und wanderst du weiter, verändert sich das Bild von neuem: Der scharfe Gipfelgrat, der zuvor unbezwingbar erschien, bekommt einen sanft abfallenden Rücken und läuft unspektakulär aus. Die vormals flache Passage wird auf einmal zum Steilhang, das zum Greifen nahe Ziel entpuppt sich als vorgelagerter Bergrücken.
Die Berge wandeln sich im Gehen. Jeder Schritt bringt eine neue Perspektive, lehrt neu sehen und wahrnehmen. Was immer du gerade siehst, du siehst nur einen Teil vom Ganzen. Nie bekommst du alles in den Blick, immer nimmst du es aus einer bestimmten Perspektive wahr. Manchmal fragst du dich: Ist das wirklich noch derselbe Berg, den ich vor zwei Stunden gesehen habe? Fast kannst du es nicht glauben, dass ein- und dasselbe so unterschiedlich sein kann. Dabei ist deine momentane Wahrnehmung nicht einfach subjektiv. Jeder andere an deiner Stelle würde es genauso sehen – von dieserPerspektive aus. Es ist eben nur eine bestimmte Perspektive, eine von vielen, und jede von ihnen ist ebenso wahr wie falsch. Erst in der Gesamtschau ergibt sich das Bild, das du als Mensch nie haben wirst. Aber du kannst zumindest wissen: deine jetzige Perspektive ist nicht die einzige, andere werden aus ihrer Perspektive dasselbe ganz anders sehen.
Tempo
Meditativ gehen, so dass die Seele schwingen kann, hängt nicht vom Tempo ab. Auch bei flottem Tempo kann das Innen in mir Raum haben. Allerdings ist es einfacher, wenn ich in ruhigem Tempo beginne und sich meine Seele langsam, Schritt für Schritt ‚einschwingen’ kann.
Gerade wenn ich konditionell dazu in der Lage bin, liegt die Versuchung nahe, Tempo zu machen und mich an meiner Vitalität zu freuen. Doch ich habe ruhig begonnen, setze Schritt vor Schritt, nicht unnatürlich langsam, aber doch langsam genug, um im Gehen meiner Seele Raum zu lassen. Über den ruhigen Rhythmus meiner Schritte gelange ich zum Gespräch mit dem, was in mir ist. Ein Text, ein Lied, ein Bild, ein Eindruck vom Weg. Sie helfen mir, nehmen Raum in mir, senken sich mit jedem Schritt ein wenig tiefer in meine Seele ein.
Mit flinkem Schritt überholt mich ein Wanderer und stachelt für einen Augenblick meinen Ehrgeiz an, es ihm gleichzutun, ja mehr noch. Ich dränge die Versuchung zurück und bleibe meinem Rhythmus treu, lasse mich nicht aus dem Takt bringen. So gehe ich weiter bis zu einer Rast.
Ausgeruht und gestärkt schlage ich danach ein zügiges Tempo an. Siehe da, es schwingt und klingt noch immer in mir. Die Schritte sind schneller geworden, der Puls höher, doch die Melodie in mir ist dieselbe wie zuvor. So nehme ich mit, was ich zuvor im langsamen Gehen eingeübt habe. Es begleitet mich bis ans Ende meines Weges.
Leistung
Bin ich ein Mensch, der seine Lebensberechtigung von seiner Leistung abhängig macht, wird dies auch beim Gehen ein Thema sein. Am ehesten bleibt es außen vor, wenn ich mich im ruhigen, bewusst meditativen Gehen übe, wo äußere Leistung keine Rolle spielt.
Versuche ich beim normalen Gehen zu meinem Inneren zu finden, wird mich der Leistungsgedanke immer wieder einmal ablenken: Wie viele Höhenmeter habe ich in der letzten Stunde ‚gemacht’, um wie viel die angegebene Zeit unterboten? etc.
Aber es geht beim Gehen nicht um Leistung. Selbstrechtfertigung durch Gehen ‚geht’ nicht. Wenn es mir gelingt, den Leistungsgedanken beiseite zu schieben, lerne ich im Jetzt zu leben. Leistung ist immer rückwärts (das hast du geschafft!) oder vorwärts (was wirst du heute schaffen?) orientiert, aber nie am Augenblick. Sie lebt aus der Vergangenheit oder auf Zukunft hin, aber nicht in der Gegenwart. Gehen aber heißt im Augenblick zu leben, da zu sein und sonst nichts, absichtslos zu sein, noch nicht einmal mehr reflektierend über das, was ich gerade erlebe.
Im Gehen bin ich. Was ich war oder was ich sein werde, spielt keine Rolle. Ich bin – das genügt.
Wasser
Nie schmeckt Wasser besser als nach einem Tag, an dem die Trinkflasche nur für zwei Drittel des Weges reichte. Aber was heißt überhaupt „schmeckt“? Wasser ist das Leben selbst, das ist die Erfahrung in diesem Moment, wo es in dich einströmt und deine versiegenden Kräfte wiederbringt – egal, ob verzückt am Gebirgsbach oder hochdankbar am Wasserhahn.
Wie konnten Menschen, so frage ich mich dann immer, überhaupt darauf kommen, je etwas anderes zu trinken? Wasser ist Leben, alles andere Luxus. Das Elementare ist es, was ich beim Gehen brauche.
Franz von Assisi hat es so gesagt:
Gelobt seist du, mein Herr, für Schwester Wasser, gar nützlich ist sie und demütig und köstlich und keusch.
Abend
Am Abend habe ich mich noch einmal aufgemacht. Kehre um Kehre schraube ich mich in die Höhe. Unter mir liegt in der Abendstille das Tal. Vor mir breitet sich, den halben Gesichtskreis füllend, ein gigantisches Amphitheater aus: Felswände ringförmig steil aufgestellt, dazwischen Gipfel, Almen, die zu verborgenen Übergängen hinaufführen. Stille. Schweigen. Auch ich bin still. Schweige. In mir ist ein Staunen, das keine Worte macht und braucht. Ehrfurcht, Andacht, sagten die Alten, oder: loben, preisen, anbeten. Aber es geschieht in der Stille, im bloßen Dasein des Geschöpfs vor der schöpferischen Macht. Die Stille spricht mehr als alle Worte, sie drückt mehr aus, als Worte je sagen können.
Erst auf dem Heimweg, in der Reflexion, finde ich wieder zu Worten: Dass ich das erleben darf!
Aufhören
Wenn ich vom Berg komme, denke ich oft: Jetzt ist es für lange Zeit genug. Und manchmal: Jetzt könntest du eigentlich aufhören. Du bist einen Weg gegangen, das Gehen hat dich ausgefüllt, deine Kräfte gefordert, dich befriedigt. Du brauchst das Gehen nicht mehr, du bist innerlich zur Ruhe gekommen und im Frieden.
Dann komme ich heim, lade die Bilder auf meinen Computer und lebe mein Leben … es geht nicht lange, da meldet sich ein vertrautes Bedürfnis: ‚Es würde dir doch so gut tun, wieder einmal zu gehen.’ Und lange noch bevor meine Beine sich auf den Weg machen, fangen meine Gedanken schon wieder an zu wandern.
Ist Gehen eine Sucht? So viel und so wenig wie Essen eine Sucht ist oder Sex. Für eine gewisse Zeit ist unser Bedürfnis gestillt, dann meldet es sich erneut. Auch beim Gehen.
Atmen
Beim Gehen lasse ich meinen Atem kommen und gehen, wie er will, ich beeinflusse ihn nicht. Im Italienischen heißt ‚Atem’ ‚il fiato’: das, was geschieht. Nicht ich atme, es atmet in mir. Ich versuche auch nicht, zwischen meinen Schritten und meinem Atem Synchronizität herzustellen. Mag sein, dass es sich auf manchen Wegstrecken ergibt, dann ist es gut so. Aber ich erzwinge es nicht. Schrittrhythmus und Atemrhythmus sind zwei voneinander unabhängige Systeme. Bringe ich sie mit Gewalt zusammen, wird mein Gehen künstlich und verspannt.
Kommen Worte dazu, die ich innerlich bewege oder sogar halblaut spreche, ordnen sie sich, wie beim Singen, dem Atem unter. So gehen Worte und Atem synchron, während der Takt meiner Schritte davon unabhängig ist.
Es gibt jedoch Fälle, wo ich Einfluss nehme auf meinen Atem: in Stresssituationen, wo sich mein Atem in Panik zu überschlagen droht, versuche ich ihn wieder unter meine Kontrolle zu bringen. Entgleitet mir der Atem, reagiere ich unüberlegt und kopflos. Finde ich im Atem wieder zu einem Rhythmus, folgen die Schritte von allein.
Rasten
Wer rastet, der rostet, sagt der Volksmund. Aber rast-loses Gehen führt in die Erschöpfung, die Leib und Seele schädlich ist.
Wer in den Bergen geht, braucht Rast, immer wieder. Es ist wie mit dem Essen, das sich gewöhnlich mit dem Rasten verbindet. Wenn ich mit der Rast bis zur Erschöpfung warte, braucht mein Körper wesentlich länger zur Regeneration, als wenn ich rechtzeitig eine Pause einlege.
Rasten beginnt mit der Suche nach einem windgeschützten Platz. Ich stelle den Rucksack ab, wechsle verschwitzte Kleidung, setze mich, trinke, esse, entspanne mich, lasse meinen Blick gleiten und die Gedanken wandern: Woher bin ich gekommen, was liegt heute noch vor mir? Ein Blick auf die Karte, zum Himmel (Wetter), vielleicht kann ich mich ein paar Minuten legen. Dann geht es weiter.
Beim meditativen Gehen ist Rasten Unterbrechung und möglicherweise eigener Impuls: ich bin dankbar für das, was mir zum Leben zur Verfügung steht und mein Gehen möglich macht. Aber die Rast dehnt sich nicht zu lange aus, damit im Schwingen bleibt, was zuvor ins Schwingen kam. Das Rasten gehört zum Weg, aber das Entscheidende geschieht im Gehen.
Wetter
Wie viele andere Menschen liebe ich persönlich ‚schönes’ Wetter: Sonnenschein, blauen Himmel, Wärme. Beim Gehen erlebe ich unterschiedliches Wetter. Und muss mit dem Wetter leben, das ich gerade antreffe.
Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, mich von meinem Wetterideal zu entfernen. Natürlich studiere ich nach wie vor aufmerksam den Wetterbericht – schon der Sicherheit wegen -, aber ich bin nicht mehr enttäuscht, wenn mein Lieblingswetter gerade Pause macht. Jedes Wetter hält seine besonderen Eindrücke und Erfahrungen bereit, zeigt mir die Berge und mich selbst in einem – im doppelten Sinn – anderen Licht. So hat jede Witterung ihren je eigenen Reiz, den es zu entdecken gilt. Abschied nehmen von der Postkartenidylle heißt deshalb auch Abschied nehmen von einem Freizeit-Wochenend-Urlaubs-Trugbild, das mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hat. Wer im Regen, im Nebel, bei Kälte unterwegs war oder sogar ein Gewitter erlebt hat (das niemand von sich aus aufsuchen sollte!), für den sind die Berge nicht mehr einfach nur ‚schön’, er hat auch ihr respektheischendes und bedrohliches Gesicht gesehen. Die Schönwetteridylle suggeriert eine Nähe, die nicht da ist. Das sogenannte schlechte Wetter lässt viel deutlicher die Distanz erahnen, die der Natur in Bezug auf den Menschen eigen ist.
Innen und Außen
Die Weite der Landschaft findet eine Entsprechung in mir: auch meine Seele bekommt Raum, darf weit werden. Dass unsere Seele für die Weite geschaffen wurde, nicht für die Enge, erfahre ich ganz neu.
Meine Lungen entfalten sich mit jedem Atemzug, tief strömt die Luft der weiten Landschaft in mich ein, mein Atem gewinnt Raum hinzu und mit ihm meine Seele (in manchen Sprachen haben ‚Atem’ und ‚Seele’ dieselbe Wurzel). Als würde ich die Weite um mich herum einatmen, als würde sie ein Teil von mir.
Dabei ist die Weite der Landschaft in den Bergen durchaus konturiert, hat ein Profil, einen unverwechselbaren Charakter (der allerdings ständig changiert). Das Auge hat innerhalb des weiten Raums Anhaltspunkte, auf denen es ruhen und verweilen kann, und am Horizont sind die Schnee- und Eisberge versammelt oder verliert sich der Blick im Dunst der Voralpenlandschaft. Weit, ohne bodenlos zu sein, raumgebend, ohne sich in der Unendlichkeit zu verlieren.
Gleichförmigkeit
Beim Gehen wird über einen längeren Zeitraum die Gleichförmigkeit einer Bewegung erlebt. Im monotonen Ablauf über Stunden hinweg findet der Körper zu einem neuen Rhythmus. Das tut auch der Seele gut. Es ist, als würde sie sich in den Rhythmus des Gehens hineinziehen lassen und sich darüber beruhigen.
In einer Zeit, wo jede/r von uns hunderte Male am Tag ‚umschalten’ muss, ist diese Gleichförmigkeit, ja Monotonie heilsam. Die ständige Wiederholung des vertrauten Bewegungsmusters entlastet das Gehirn enorm. Es muss nicht ständig hin- und herschalten, flexibel auf immer neue Herausforderungen reagieren. Es kann – jedenfalls in bestimmten Regionen – abschalten, sich hineinziehen lassen in eine kreisförmige Bewegung.
Menschen früherer Epochen wurden von diesen wiederkehrenden, gleichförmigen Bewegungen viel stärker geprägt. In der Regel waren es die Arbeitsabläufe: säen, hacken, mähen, sägen, spinnen – um nur wenige zu nennen -, aber auch gehen. Kinder gingen eine Stunde oder länger zum Schulhaus, mein Großvater fuhr noch mit dem Fahrrad – ohne Gangschaltung und auf schlechten Straßen – von Frankfurt/Oder nach Frankfurt/Main, um eine Lehrstelle zu suchen.
Mechanisierung und Automatisierung haben diese gleichförmigen Bewegungsabläufe stark reduziert. Beim längeren Gehen kommen Leib und Seele durch diese Gleichförmigkeit in eine Ruhe, die nachwirkt und trägt.
Heimkommen
Ich war fort von zu Hause und habe im Gehen wieder heim zu mir gefunden. Jetzt komme ich heim und fühle mich zunächst fremd. Als ich wegging, war ich vielleicht schon eine ganze Weile nicht mehr bei mir selbst. Nun kehre ich zurück und bin wieder neu bei mir. Und mich befremdet das, was mich zuvor entfremdet hat. Ich sehe und höre anders.
Je länger ich gegangen bin, desto länger wird der wiedergewonnene Rhythmus mein Leben durchziehen, wird die Seele nachschwingen, vergleichbar einer Glocke, deren Ton nach dem Anschlagen noch eine Weile in der Luft schwebt. Irgendwann ist der Ton dann verebbt, ist die Schwingung meiner Seele zum Stillstand gekommen. Dann ist es wieder Zeit zum Gehen.
Gehen
Ich
gehe. / Ich
gehe. / Ich
bin, bin, bin, bin. / Ich
gehe. / Ich
gehe. / Ich
bin, bin, bin, bin. / Ich
gehe. / Ich
gehe. / Ich
bin, bin, bin, bin. / Ich
gehe. / Ich
gehe