Titananthropos

Fünfunddreißig Meter soll der bisherige Rekordhalter gemessen haben. In den bunt illustrierten Bildbänden meiner Jugend sucht man ihn vergebens: da schlummerten seine Fossilien noch unentdeckt im Boden Patagoniens. Diplodocus, Brontosaurus und Brachiosaurus hießen die Superschwergewichte, die meine kindliche Phantasie befeuerten und später in Steven Spielbergs Jurassic-Park-Filmen atemberaubend majestätisch über die Leinwand zogen. Doch der Wettstreit der prähistorischen Echsen ist noch nicht beendet: Seit 2012 wird ein noch größeres und schwereres Ungetüm ausgegraben, erneut auf dem südamerikanischen Kontinent. Um die 40 Meter soll seine Länge von der Schnauze bis zum Schwanz betragen haben, sein Gewicht wird auf 70 Tonnen oder mehr geschätzt. Einen Namen hat die neue Art auch schon: Titanosaurus.

Es ist schon seltsam, sich vorzustellen, dass diese Giganten über Millionen von Jahren die Erde bevölkerten, ohne dass sie jemals ein Mensch zu Gesicht bekommen hätte. Geschweige denn dass sie jemals ein Mensch gestört hätte – und umgekehrt: auch ohne die dramatischen Filmszenen mit Tyrannosaurus, Velociraptor und anderen Anti-Vegetariern leicht vorstellbar.

Vielleicht würden ihre Tritte noch heute die Erde erzittern lassen (ohne uns), wären sie nicht ausgestorben – der  jüngsten Theorie zufolge durch die Folgen eines Meteoriteneinschlags im Golf von Mexiko. Doch auch so war ihre Zeit unvorstellbar lang: Mehr als 150 Millionen Jahre (von den ersten Formen an) lebten sie auf dieser Erde. 150.000.000 Jahre!

Doch würde man die Erdenzeit von etwa 5 Milliarden Jahren in einem einzigen Jahr ablaufen lassen, erscheinen die Dinosaurier erst am 24. Dezember! Fünf Tage später sterben sie schon wieder aus. Als Homo Sapiens am Silvesterabend die Weltbühne betritt, ist es bereits fünf vor zwölf. Und um 23:59:55 sind wir im Jahr 0 angekommen.

Der Mensch erscheint fünf vor zwölf. Und ganze fünf Sekunden braucht es für die letzten zweitausend Jahre. Ein Atemzug im Vergleich zu einem Jahr von 365 Tagen. Aber dieser eine Atemzug reicht dem Menschen, um sich als der wahre Titan der Erdgeschichte zu  etablieren. Er richtet Verwüstungen an, für die es in grauer Vorzeit Meteoriteneinschläge oder Vulkanausbrüche apokalyptischen Ausmaßes brauchte – letztere sind trotz konkurrierender menschlicher Anstrengungen nicht auszuschließen, wie Forschungen an einem unterirdischen Supervulkan im Yellowstone seit Jahrzehnten zeigen.

Titanosaurus war ein Pflanzenfresser. Der menschliche Titan frisst alles: Pflanzen, Fleisch, Wasser, Wälder, Ländereien, Rohstoffe, Sauerstoff – sein Appetit ist grenzenlos. Titananthropos.

Die Titanen der griechischen Mythologie werden nach unzähligen blutigen Kämpfen schließlich in den Tartaros verbannt. Von dort können sie nie mehr entkommen. Ob der Titan von heute diesem Schicksal entgehen wird?