Weihnachten in der Kleingartenkolonie

Mary Jane hat sich schon die letzten Tage nicht gut gefühlt. Ihre Mutter liegt ihr immer in den Ohren, dass sie sich ungesund ernährt. Vielleicht hat sie ja Recht. Keine Hose kriegt sie mehr zu. Im neuen Jahr wird sie endlich abnehmen. Nicht so viel Döner, Pommes und Cola, dann kommt alles wieder in Ordnung.

Unter normalen Umständen würde sie heute daheim bleiben. Aber die Vorstellung, Heiligabend mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder verbringen zu müssen, ist dann doch zu heftig. Zu einem gemeinsamen Abendessen lässt sie sich noch überreden. Aber als der Kleine alle Geschenke ausgepackt hat und Science-Fiction-Kampfmaschinen gegeneinander antreten lässt, während ihrer Mutter auf dem Sofa langsam die Augen zufallen, ist sie weg. „Macht‘s mal gut, bis morgen“, und schon hat sie die Tür hinter sich zugezogen.

Auf der Straße wartet Yussuf, ihr Freund. „Hi“, sagt er und versucht eine Umarmung, aber sie hält ihn auf Distanz. Wie schon die ganze letzte Zeit. Er merkt es, aber sagt nichts. Bei Frauen weiß man nie, was gerade mit ihnen los ist. Am besten Klappe halten, irgendwann sind sie wieder normal.

Vor ihrer Stammkneipe stehen Danny und Marc, eingehüllt von Zigarettenqualm. Sie gehen rein und bestellen was zu trinken. Immer wieder steht Mary Jane auf und verschwindet Richtung Toilette. Als sie wieder kommt, lässt sie sich stöhnend nieder. „Was ist denn mit dir?“, fragt Marc schließlich. „Hat’s dich irgendwie erwischt?“ „Weiß nicht“, sagt Mary Jane, „mir ist schon den ganzen Tag nicht gut.“ Sie schnauft tief. „Ich kann nicht mehr sitzen. Können wir ne Runde gehen?“

Draußen hat es angefangen zu nieseln. „Pisswetter“, brummt Yussuf, während er versucht, Mary Jane vor dem Regen zu schützen. „Ey, Alter, wo wollen wir eigentlich hin?“ Danny bleibt stehen. Marc zeigt über die Straße. „Wenn wir durch die Kleingartenkolonie gehen, sind wir am schnellsten an der Schule. Da können wir uns unterstellen.“

Mary Jane wimmert. „Nicht so schnell.“ „Mensch, Mary, wir werden total nass.“ Yussuf packt sie fester, zieht sie vorwärts. Auf dem Weg durch die Kleingartenanlage sind überall Pfützen. Als Yussuf seine Freundin daran vorbei bugsiert, entgleitet sie ihm und sinkt zu Boden. „Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr“, wimmert sie. Yussuf sieht sich hilfesuchend um. „Packt mit an“, bedeutet er seinen Kumpels, „wir bringen sie zu der Hütte da.“ Zu dritt schleppen sie Mary Jane auf das nächste Grundstück – das Tor ist zum Glück offen. Schwarz ragt das Dach vor, angebaut ein überdachter Sitzplatz mit einer Biertischgarnitur. Schwer atmend hieven sie Mary Jane auf den Tisch. Sie stöhnt immer heftiger. “Wartet“, sagt Yussuf und rüttelt am Türriegel. „Keine Chance. Wir müssen sie hier draußen lassen. Wenigstens wird sie nicht nass. Haben wir ein Teil zum Zudecken?“ Danny bringt von irgendwoher einen fleckigen Karton, den schieben sie Mary Jane unter den Rücken. Marc zieht eine Plastikfolie aus dem Eck, die legen sie ihr über die Jacke. „Wir müssen Hilfe holfen“, sagt Danny und zieht sein Smartphone heraus. „Hat jemand die Nummer ihrer Mutter?“ “Ey, Alter, was willst du mit ihrer Mutter? Die muss ins Krankenhaus!“, unterbricht ihn Marc. „Marc hat Recht“, sagt Yussuf. „Ruf den Krankenwagen. Das is was Ernstes.“

Der Notarzt musste für eine erkrankte Kollegin einspringen. Zuhause müssen seine Frau und zwei Kinder nun allein Weihnachten feiern. Wie gern hätte er die Augen seiner Tochter gesehen, wenn sie das große Puppenhaus auspackt. Und seinen Sohn, wenn er seinen ersten Laptop bekommt. Zum Glück ist so viel los, dass er nicht oft dazu kommt, an seine Familie zu denken.

Ein Notruf kommt herein: Eine junge Frau mit starken Bauchschmerzen, Ort: Kleingartenkolonie: Seltsam. An diesem Tag und um diese Uhrzeit.
Es dauert eine ganze Weile, bis sie die Hütte gefunden haben. Mehrmals sind sie auf und ab gefahren, aber das ganze Areal ist unbeleuchtet. Dann endlich hören sie jemand rufen und entdecken gleich danach einen Schatten, der in der Dunkelheit gestikuliert.

Der junge Mann trägt nur ein T-Shirt. „Da drin“, stottert er, und taumelt voraus. Der Notarzt hat schon einiges gesehen, aber das hier …
Im Kegel seiner Taschenlampe erkennt er einen Biertisch. Darauf liegt eine Gestalt, mit einer Folie abgedeckt, links und rechts neben ihrem Kopf kauernd zwei junge Männer. Getrocknetes Blut auf dem Tisch und auf dem Boden eine Lache. In einem Eimer am Boden eine gallertartige Substanz. Einer der Männer deutet zur Seite: Eine Schubkarre und darin zusammengeknüllt eine Jacke. Und in der Jacke …

Eine halbe Stunde später werden Mutter und Kind in den Sanka geschoben. Der Junge drückt dem Mädchen die Hand, er ist bleich und sieht erschöpft aus. Eine Sanitäterin schließt die Heckklappe, die drei jungen Männer ziehen ab. Als der Notarzt ins Auto steigt, spielen Bläser von einem Kirchturm „O du fröhliche“. Der Piepser geht an. Der nächste Notruf kommt herein.